49Kapitel 2
Philosophie und Malerei: Hegel und Manet
… vous n’êtes que le premier dans la décrepitude de votre art.[1]
Baudelaire, Brief an Manet vom 11. Mai 1865[2]
I
Im Jahr 1863 löste der französische Maler Édouard Manet einen öffentlichen Skandal aus, als er im Salon des Refusés sein großes Gemälde Frühstück im Grünen ausstellte. Noch gewaltiger war der Skandal, als er zwei Jahre später im Pariser Salon die aufsehenerregende Olympia präsentierte (Farbtafel 1 und 2). Art und Grund des dadurch ausgelösten Streits sind von renommierten Kunsthistorikern mehrfach und unter verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt worden. Im nachhinein herrschte bei vielen (wenn auch sicher nicht bei allen) Wissenschaftlern der Eindruck vor, daß in der Geschichte der Malerei mit Manet etwas vorher nicht Dagewesenes und Revolutionäres begonnen hatte, eine Entwicklung, in deren Verlauf schließlich alle Künste zu einer Bewegung oder einer Epoche verschmolzen, die man dann als »Moderne« bezeichnete. (Bei genauerer Untersuchung beginnt die Geschichte der 50modernen Malerei allerdings bereits mit der Reaktion auf das Rokoko um 1750 und wird unter der Wucht des Impressionismus in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts richtig explosiv. Doch das ist eine lange Geschichte, und kaum jemand wird bestreiten, daß es sich in jedem Fall bei Manet um eine zentrale Figur handelt.)[3] Ob man nun viel auf derartige Klassifizierungen gibt oder nicht, Inszenierung, Technik und etwas, was man als Stimmung oder Ton bezeichnen könnte, sind in jedem der beiden genannten Bilder so merkwürdig, daß etwas Unheimliches und noch nicht Dagewesenes vor sich zu gehen scheint, etwas, das das Malen selbst betrifft und eine Herausforderung an das Malen und konventionelle Bedeutungen in der Staffeleimalerei darzustellen scheint. Die normale sinnliche Wahrnehmung und das repräsentationale Verstehen werden nicht so intensiviert, wie wir das von einem großen Kunstwerk erwarten, vielmehr wird beides aus Gründen, die zur damaligen Zeit fast niemandem klar waren, gestört und auf die Probe gestellt.[4] Die Herausforderung wird in den erschreckten Blicken der beiden Frauen verblüffend deut51lich (Victorine Meurent, Manets Lieblingsmodell; Abb. 2.1 und 2.2). Blicke, die die Konvention des Illusionismus in der Malerei plötzlich zerstören (die Illusion, daß wir in einen dreidimensionalen Raum und nicht auf ein flaches, bemaltes Rechteck blicken), die sich in einer herausfordernden Konfrontation (als fragten sie: »Wonach schaust du bloß?«) an den Betrachter (des Bildes, nicht der Szene) zu wenden scheinen und damit auch das direkte Ansprechen des Betrachters durch das Bild zum Thema machen[5] sowie Fragen nach der Psychologie eines sinnvollen Betrachtens und nach dem Status gesellschaftlicher Konventionen aufwerfen, die für das Verständnis der Staffeleimalerei vorausgesetzt werden.[6] Es ist eine Art ursprünglicher Befragung, die Manet bereits in Der alte Musikant von 1862 (Abb. 2.3) sehr wirkungsvoll einsetzte und der auch andere Maler wie zum Beispiel Fantin-Latour in der Hommage an Delacroix nachgingen (wo fast jeder aus dem Bildrahmen heraus- und niemand zu Delacroix hinschaut; Abb. 2.4).
Abb. 2.1: Édouard Manet, Frühstück im Grünen, Detail (1863)
52Ich bin weder Kunsthistoriker noch Kunstkritiker und will auch nicht so tun, als wäre ich einer; meine Aufmerksamkeit richtet sich jedoch aus einem bestimmten philosophischen Interesse auf Kunstwerke, insbesondere auf Werke der bildenden Kunst und auf die Bedeutung normativer Veränderungen in der bildenden Kunst. Dieses Interesse ist sehr eng mit einem Ansatz verknüpft, den Hegel in einer Vorlesungsreihe zur Ästhetik verwendete, die er in Berlin in den 1820er Jahren bei vier verschiedenen Gelegenheiten hielt. Wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, war Hegel der Meinung, die Produktion oder »Entäußerung« unserer Ideen in Kunstwerken stelle eine bestimmte und bis vor gar nicht langer Zeit unverzichtbare Form der Selbsterkenntnis dar. Seine ungewöhnliche Formulierung lautet, daß der Mensch, verstanden als Geist, sich »verdoppeln« müsse, um sich in seinen Taten und Objekten selbst erfahren und verstehen zu können. (Und mit dieser Cha53rakterisierung befinden wir uns bereits in unbekannten Gewässern; die Kunst verdoppelt die Realität nicht und imitiert sie auch nicht, sondern vielmehr verdoppelt der Geist sich selbst in der Kunst.) Das geschieht im Verlauf der Geschichte in einem ständigen und kontinuierlichen kollektiven Bemühen um Selbsterkenntnis,[7] einem Projekt, das man im Licht von miteinander verknüpften Bemühungen um eine solche Erkenntnis in der Religion, der Philosophie und auch in den sozialen und politischen Praktiken einer Zeit zu verstehen hat.[8]
Abb. 2.2: Édouard Manet, Olympia, Detail (1863)
Abb. 2.3: Édouard Manet, Der alte Musikant (1862)
54Obwohl Hegel sehr klar zwischen der begrifflichen Artikulierung dieser Selbsterkenntnis auf einem bestimmten philosophischen Niveau und der anschaulichen Repräsentation einer solchen Selbsterkenntnis in der Kunst unterschied, hatte seine Position auch Konsequenzen für die Betrachtung von Kunstwerken, und zwar nicht nur von Epen und großen Tragödien, sondern auch von Malerei, Plastik und musikalischen Werken, indem sie diese als begrenzte Formen von Philosophie und eng mit ihr verbunden, als eine historisch flektierte »Philosophie mit anderen Mitteln«, wie man sagen könnte, betrachtete. Oder anders formuliert: Die Kunst hatte für Hegel eine Art 55philosophischer Tätigkeit zu erfüllen. Diese Tätigkeit war eine besondere Form des, wie er es nannte, »Herausarbeitens« von verschiedenen Formen des Selbstverständnisses mit Rücksicht auf ein grundlegendes Problem, das man damals als Frage des »Absoluten« zu bezeichnen begann, das »Subjekt-Objekt«-Problem. Die Anerkennung dieser großen Differenz bei gleichzeitiger Leugnung jedes metaphysischen Dualismus war der Heilige Gral der damaligen Zeit, und das Problem umfaßte alles, angefangen bei der Frage, wie Subjekte Objekte erkennen können, inwiefern man von materiellen Zuständen und Ereignissen, insbesondere von Kunstgegenständen und Körperbewegungen, sagen kann, sie besäßen Bedeutung (eine bereits durch die direkten Blicke Manets implizit gestellte Frage), bis hin zur Frage, wie vernunftbegabte Subjekte in Raum und Zeit auch materielle Objekte sein können.
Abb. 2.4: Henri Fantin-Latour, Hommage á Delacroix (1864), Paris, Musée d’Orsay, Foto: bpk/RMN/Gérard Le Gall
Mithin scheint er schon früh daran beteiligt gewesen zu 56sein, die Frage zu stellen, die im Hinblick auf Manet und die ganze Epoche offenkundig eine Hegelsche Frage ist: Kann man im Sinne Hegels etwas über die Art der Selbsterkenntnis sagen, die von der modernen, etwa eine Generation nach Hegels Tod 1831 verwirklichten Kunst hervorgebracht worden ist, etwas, das, wenn schon nicht dem Buchstaben nach, zumindest in einem weiteren Sinn mit dem Geist von Hegels Theorie des »Absoluten« übereinstimmt? Könnte die sehr abstrakte Problematik, ein Erbe von Kants dritter Antinomie, Schillers Briefen, Schellings System von 1800 und Schlegels Reflexionen über die Ironie und das »Unendliche«, von Nutzen sein, um die Werke der urbanen französischen Kultur im Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu verstehen? Zweifellos zeigte Hegel, daß er seinen theoretischen Rahmen in ungewöhnlichen ästhetischen Kontexten auf brillante Weise nutzen konnte. Wenn zum Beispiel die klassischen attischen Tragödien wirklich das bedeuteten, was Hegel von ihnen behauptete, daß nämlich in den wichtigsten Institutionen der damaligen Gesellschaft eine große Krise aufgetreten war, die nicht gelöst werden konnte, daß einander widersprechende Rechtfertigungen des Handelns irgendwie alle richtig geworden waren, was sagt das entsprechend über jene Gesellschaften aus, in denen Maler beginnen, Bilder zu malen, deren Objekte sich im Lauf der Zeit, über Generationen hinweg, zu entmaterialisieren scheinen?[9] Zuerst sind sie bloße Sinneseindrücke, dann Gelegenheit zur 57artistischen und häufig elaborierten geometrischen Rekonstruktion, und schließlich fehlen sie in völlig gegenstandslosen Experimenten ganz. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, die selbstbezügliche und ironische literarische Werke hervorbringt, eine Kunstmusik ohne traditionelle Harmonie und schließlich eine Architektur, in der die Architektur einfach nur »Struktur« ist?[10] Ist es plausibel, den normativen Wandel in der Kunstpraxis zu verstehen zu suchen, indem man die Veränderungen im Rahmen eines umfassenden gesellschaftlichen, religiösen und philosophischen Wandels versteht? Könnte ein solcher Ansatz der entschieden ästhetischen Bedeutung dieser Innovationen gerecht werden oder grenzt das bereits an eine Art thematischen Reduktionismus?
II
Es gibt viel Anlaß zu Skepsis hinsichtlich der Frage, ob sich aus diesem Versuch, Hegel in die Zukunft zu projizieren, etwas von Wert ergeben könnte.[11] Schließlich hat 58jeder, der überhaupt etwas von Hegel weiß, wahrscheinlich zweierlei über ihn gehört: zum einen, daß Philosophie...