1. Außenseiter des Expressionismus
Studium und Mitgliedschaft
in der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung
Am 18. Dezember 1905 trafen sich die Studenten der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung (F.W.V.) zum letzten Mal vor der Weihnachtspause zu ihrem obligatorischen Kneipenabend. Kurt Hiller, Student der Rechtswissenschaften im fünften Semester, war zum ersten Mal zu einem geselligen Zusammensein in der Studentenvereinigung eingeladen worden.1 Die Erwartungen müssen groß gewesen sein. Er war extra in die Verbindung eingetreten, um sich seinen Traum von einer eigenen Zeitschrift zu erfüllen, deren Leitung ihm Curt Calmon, der Präsident der F.W.V., versprochen hatte.2 Und dann diese Enttäuschung: Als Hiller den Raum betrat, kam ihm Leo Herz freudig entgegen. Der Frauenarzt mit rötlichem Bart begrüßte ihn, wie ein altgedientes Verbindungsmitglied damals einen Neuling begrüßte: mit einem Humpen Bier.3 »[I]n die Kanne! rein! 1 ist 1, 2 ist 2. drei ist eine böse Zahl«, rief Herz und erwartet, dass Hiller mittrinken würde.4 Doch Hiller verweigerte das Begrüßungsritual und hatte seinen ersten »Bierverschiss«. Das Biertrinken war auch in der F.W.V. genau reglementiert. Ein Jüngerer musste den ihm hingehaltenen Krug leeren, und wer nicht trank, war ein »Bierschisser«, den seine Verbindungsbrüder beim dritten Verschiss aus der Kneipe warfen.5 Denn hier galt das geschriebene Gesetz: »Es wird fortgesoffen.«6 Das Trinken war in den Verbindungen ein Initiationsritual und Männlichkeitsbeweis. Ablehnen war nicht vorgesehen.7 Alkoholabstinenz in der Kneipe galt als »Bierimpotenz«.8 Aber das war dem jungen Kurt Hiller egal, er zog es vor, sich »für immer unbeliebt« zu machen.9 Das »Chaos von Alkohol, Gegröle, Idealismus, Tabakqualm, zotigen Geistesblitzen und sogenannten Bierskandalen« im Stammlokal der Verbindung erschien ihm »roh«. Am Kneipen-Abend teilnehmen zu müssen, hielt er für »barbarisch«.10 Ausweichen konnte Hiller den obligatorischen Bierrunden nicht.
Exzessiv getrunken wurde in allen Studentenverbindungen. Die meisten jungen Studenten unterwarfen sich den Ritualen des Betrinkens, obgleich sie sie verabscheuten.11 Kurt Hiller hingegen widersetzte sich und stellte damit nicht nur seine Männlichkeit, sondern auch die Rangordnung in der studentischen Vereinigung infrage. Leo Herz, der sein Studium abgeschlossen hatte und im Berufsleben stand, galt als »Alter Herr«. Kurt Hiller hingegen war wie jedes Neumitglied »Fuchs«. Die Selbstentwürdigungsriten der jungen Mitglieder durch übermäßigen Alkoholgenuss vor den Alten Herren zelebrierten und exerzierten die Hierarchien.12 Der junge Jurastudent muss gewusst haben, was ihm beim Besuch der Kneipe und mit dem Eintritt in die Studentenverbindung bevorstand. Doch Alternativen gab es unter den studentischen Vereinen nicht. Der Verein abstinenter Studierender an der Universität Berlin war ein Jahr vor Hillers Studienbeginn mangels Interesse eingegangen, ganze vier Mitglieder hatten ihm zum Schluss die Treue gehalten.13 Hiller suchte Anschluss unter den Studenten und fand in der F.W.V. ein reges Vereinsleben und intellektuelle Anregung. Auch war die Vereinigung eine liberale Ausnahme unter den studentischen Korporationen, denn anders als die Mehrzahl der Studentenverbindungen in dieser Zeit ließ sie auch Juden als Mitglieder zu.14 Ansonsten war die F.W.V. eine gewöhnliche, schlagende Verbindung: Jedes Mitglied hatte zwei Semester lang Fechtstunden zu absolvieren und war in Ehrensachen zur Satisfaktion verpflichtet.15 Die jungen Füchse wurden einem älteren Vereinsbruder, ihrem Leibburschen, zugeordnet. Curt Calmon bekam mit Hiller einen selbstbewussten, gestandenen Studenten zugewiesen, der seit Oktober 1903 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zunächst Medizin, dann Jura studiert und auch schon ein Semester in Freiburg verbracht hatte.16 Erst mit dem Angebot, eine Zeitschrift herausgeben zu können, war Hiller für die F.W.V. gewonnen worden.
Calmon hielt sein Versprechen, aber nur leidlich. Statt eine Zeitschrift zu gründen, wurden lediglich die Monatsberichte der F.W.V. um eine wissenschaftliche Beigabe ergänzt, was dem Neuling zunächst genügte, darin ein »Symptom für den Sieg des Intellektualismus über die traditionelle Sauf- und Raufseligkeit« zu sehen.17 Hiller betonte immer wieder, dass er nichts gegen gesellige Kneipen-Abende einzuwenden habe, solange sich das Verbindungsleben nicht allein darauf beschränkte. Er brachte mehrfach ein Reformprogramm ein, was im Kern darauf abzielte, die Teilnahme an der Kneipe als freiwillige Unternehmung vorzusehen und zugleich kleine künstlerische, philosophische Zirkel einzurichten.18 Hiller war nicht der Erste, der die F.W.V. in dieser Hinsicht reformieren wollte. Der Philosoph Max Steiner hatte bereits »zur Bekämpfung von Phraseologie und fader Feuchtfröhlichkeit, eine intellektuelle Partei« gegründet, erinnerte sich Hiller um 1912 und bilanzierte, als spräche er auch über seine eigenen Erlebnisse: »Die intellektuelle Partei wurde nicht Siegerin; sie blieb, was sie bei ihrem Beginn war: der Gegenstand unbändigen Hasses und Hohnes.«19 Max Steiner beging 1910 Selbstmord, und Hiller sah eine Ursache dafür in den seelischen Verletzungen, die der Misanthrop Steiner in der F.W.V. erlitten hatte.20
Das Scheitern seiner Reformbemühungen hatte Hiller sich auch selbst zuzuschreiben. Er verstand es ausgezeichnet, seine Gegner zu beleidigen, indem er eine präzise Analyse der Lage lieferte. Gleich in der ersten Ausgabe der Wissenschaftlichen Beigabe klagte er, die Universität sei eine »nicht organische Verquickung von Wissenschaften und geistigen Handwerken«.21 In der Tat gab es in der Universität schon immer Studenten, die allein aus wissenschaftlichem Interesse studierten, während andere hingegen auf einen Berufsabschluss hinarbeiteten. Letztere waren für Hiller nur Handwerker, die an einer Universität nichts zu suchen hatten. Ganze Fächer wollte er ausgliedern, sofern sie nicht dem Geist einer Universität entsprachen. »Für Hiller und Genossen gibt es ja nur ein interessantes Geistesgebiet, […] die Philosophie. Alles andere – die Medizin, die Jurisprudenz, Technik – das ist nicht Wissenschaft, sondern Handwerk«, hielt ihm sein Verbindungsbruder Erich Simon entgegen.22 Zudem warf Simon Hiller vor, dieser könne es sich leisten, Philosophie zu studieren und auf »niedere Arbeit« zu verzichten.23 Das Motiv eines Kurt Hiller, der von allen finanziellen Sorgen enthoben philosophieren und räsonieren konnte, taucht hier zum ersten Mal auf. Hiller bestritt diesen Vorwurf vehement und zu Recht, denn fast alle Studenten wurden zu der Zeit von ihren Elternhäusern finanziert. Aber Hiller sparte im Vergleich zu anderen viel Geld, weil er auf die kostspieligen Trinkgelage verzichtete.24 Den »Dandy-Vorwurf« verdankte er seinem alternativen und weltoffenen Lebensstil. Er nahm sich die Zeit, eine Zeitschrift herauszugeben und fuhr zum Vergnügen nach Ende seiner Dissertation für anderthalb Monate nach Italien.25 Für Studenten als Kinder des wohlhabenden Bürgertums waren Reisen nicht ungewöhnlich, längere Auslandsaufenthalte hingegen eher die Ausnahme.26 Vielleicht macht der frühe Tod seines Vaters einen Unterschied. Ein strenges väterliches Regiment hätte auch in der Zeit nach dem Studium Pflichtbewusstsein und Arbeitsdisziplin verlangt und ihn gezwungen, gleich nach der Promotion einen Beruf zu ergreifen. So aber fürchteten seine Gegner, er wolle aus der F.W.V. »einen Verein von dekadenten Literaturjünglingen« machen.27 In den härter werdenden Auseinandersetzungen wurde auch Hiller immer deutlicher. Er gab sich zwar weiterhin offen gegenüber den Kneipenbesuchen, doch in seiner Ausdrucksweise verriet er, dass er eigentlich das Gegenteil meinte. Auch der intellektuelle Student »hat das gute Recht, hin und wieder Klamauke, Blöderei und Stumpfsinn zu machen. […] Das eben nenne ich Luxus-Idiotismus«.28 Ein Idiot war Hiller zufolge also, wer gern die Kneipe besuchte. Diejenigen, die auf die intellektuellen Vorträge keinen Wert legten und der Kneipe und der Geselligkeit wegen in der Vereinigung waren, wollte Hiller nun loswerden, und das formulierte er explizit: »Es kommt uns nicht auf die Zahl, sondern auf die Art an. Uns liegt nichts an Zweibeinern, sondern an Persönlichkeiten.«29 Bei solchen Äußerungen war es kein Wunder, dass Hiller als »›intellektuell bis auf die Knochen‹ angesehen« wurde.30 Auf diesen Ruf war Hiller nicht stolz, er widersprach diesen Vorwürfen und hob im selben Brief zugleich seine kompromisslose, provokative Haltung gegenüber den Trinkern hervor: »Intellektuell bin ich nur dann, wenn es gilt, den geschmacklosen Stumpfsinn und das Phrasentum ungebildeter und anmaßender Bierstudenten zu bekämpfen.«31
Mit seiner rebellischen und furchtlosen Art hatte Hiller die Vereinigung gespalten. Hinter ihm versammelten sich jene Studenten, welche die Trinkgelage schon immer verabscheuten, aber es nie gewagt hatten, aufzubegehren. Der »majoritären Fraktion der feuchtfröhlichen« stand jetzt die »kleine Minderheit der Intellektuellen« gegenüber.32 Die Intellektuellen opponierten gegen die Traditionen und versuchten die aus ihrer Sicht durchschnittlichen Studenten durch ihr Gebaren hinauszudrängen. Als dies nicht gelang und Hiller in den Augen der »majoritären Fraktion« noch weiter seine Männlichkeit aufgegeben hatte, blieb ihm und seinen Freunden nur der Austritt.33...