Die Enterokokkenlücke
Abb. 1.1 Sonografie bei akuter Appendizitis: Erweiterung des Lumens und Wandödem.
(aus Henne-Bruns, D. et al., Duale Reihe Chirurgie, Thieme, 2007)
Bauchschmerzen und Erbrechen
„Endlich Ferien!“, tönt in Volkers Ohr die Stimme seiner kleinen Schwester, als der vollbeladene Familienvan an Besançon vorbei in Richtung Atlantik eilt. „Mir ist überhaupt nicht nach Ferien zumute", antwortet der 16-Jährige abweisend. Die Familie wundert sich: Eigentlich hatte sich Volker auf die Atlantikreise sehr gefreut. Er wollte dort seine Freundin treffen und gemeinsam mit ihr surfen gehen. „Hast du etwa Liebeskummer?“, fragt Volkers Mutter und dreht sich vom Vordersitz zur Rückbank des Wagens hinüber, wo Volker und seine Schwester sitzen. „Nein, nur Bauchschmerzen“, antwortet Volker mit leidender Miene.
Was wie harmloser Ferienverdruss aussieht, wird bald ernst. In den nächsten drei Stunden muss Volker mehrmals erbrechen. Seine Bauchschmerzen nehmen rasant zu. Als der Junge immer bleicher wird und sich inzwischen vor Schmerzen krümmt, beschließt die Familie, ins nächstgelegene Krankenhaus zu fahren. Obwohl niemand von ihnen französisch spricht, verläuft die Aufnahme im Krankenhaus reibungslos. Volker wird sofort vom diensthabenden Chirurgen untersucht. Dieser findet bei dem Schüler einen heftigen Druckschmerz im rechten Unterbauch und dort auch eine Abwehrspannung. Außerdem misst die Schwester eine erhöhte Körpertemperatur. Bald liegen auch die Blutparameter vor: Die Leukozyten sind deutlich erhöht. Als der aufnehmende Chirurg mit dem Oberarzt telefoniert, hört ihn Volker mehrmals „appendicite“ sagen. Da ein Freund von ihm kürzlich an einer Blinddarmentzündung operiert wurde, ahnt der Schüler, dass auch ihm ein Eingriff bevorsteht.
Brettharter Bauch
Die Chirurgen entschließen sich in der Tat für eine minimal-invasive Appendektomie. Als perioperative Antibiose erhält der Junge ein Cephalosporin. Wider Erwarten geht es Volker aber nach dem Eingriff nicht besser. Am zweiten postoperativen Tag steigt sein Fieber auf 39,2 °C. Seine Bauchdecke wird bretthart. Die Bauchschmerzen, die ihn jetzt plagen, kann er kaum ertragen. Der Chirurg, der ihn untersucht, ist sehr beunruhigt. „Ich höre bei dem Jungen keine Darmgeräusche“, berichtet er seinem Oberarzt bei der Visite. Die Mediziner stellen die Diagnose „paralytischer Ileus bei Peritonitis mit Verdacht auf Darmperforation" und entscheiden sich für eine sofortige Lavage der operierten Region. Während des Eingriffs entnehmen sie Abstriche aus dem entzündeten Gebiet. Außerdem ändern sie die antibiotische Behandlung des Patienten in ein Cephalosporin der dritten Generation und Metronidazol um. Auf diese Weise wollen sie Volker im Sinne einer Breitbandantibiose gegen die meisten Peritonitiskeime abdecken.
Die Lücke in der Behandlung
Zwölf Stunden nach dem Antibiosewechsel steigt das Fieber weiterhin. Auch die Entzündungswerte im Blut gehen nicht zurück. Inzwischen werden Volkers Vitalparameter stündlich kontrolliert. In den Abstrichen aus der Lavage findet man im Labor vor allem grampositive Kettenkokken. Da sich der Zustand des Jungen kontinuierlich verschlechtert, bitten die Chirurgen den Mikrobiologen der Klinik um ein Konsil. Dieser stellt nach genauem Studium der Akten fest, dass die verordnete Antibiose eine Lücke aufweist: Die grampositiven Enterokokken sind sowohl gegen Cephalosporine der dritten Generation als auch gegen Metronidazol resistent. Daraufhin erhält der Patient ein Acylaminopenicillin und einen ?-Laktamase-Inhibitor i.v. Die Kombination der beiden Substanzen schließt die Enterokokkenlücke. Nach einer Woche geht es Volker deutlich besser. Doch entlassen wird er erst nach zwei Wochen, als sein Zustand stabil ist. Den Surfurlaub mit seiner Freundin muss er leider auf nächstes Jahr verschieben.
Infektionskrankheiten sind so alt wie die Entwicklungsgeschichte von Pflanze, Mensch und Tier. Was die Infektionen des Menschen betrifft, so wurde bereits zu Zeiten Galens (129–199) die Lehre der Miasmen verkündet. Sie ging davon aus, dass Ausdünstungen von Sümpfen oder Kadavern für viele Erkrankungen verantwortlich sind. In der Tat waren Menschen, die in der Nähe von Sümpfen lebten, vermehrt von hohem Fieber betroffen, an dem sie oft auch starben. Die entsprechende Erkrankung wurde deshalb als „mala aria“ (ital., schlechte Luft) bezeichnet. Als Alternative zu den Miasmen entwickelte sich die Lehre der Kontagien, die die Berührung von Kranken oder deren Atemluft als Ursache von Erkrankungen verantwortlich machte. Es war ein langer Weg, bis Letztere auf allgemeine Akzeptanz stieß. Heute wissen wir, dass die Malaria durch den Stich der in den Feuchtgebieten brütenden und mit Plasmodien infizierten Anophelesmücken übertragen wird, Infektionskrankheiten also von kontagiösen Erregern verursacht werden.
Meilensteine der Mikrobiologie.