1 Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie
1.1 Klinischer Fall
Psychopathologischer Befund
Aufregung vor der ersten Aufnahme Marie Wieland ist aufgeregt. Heute ist der zweite Tag ihres PJ-Tertials in der Psychiatrie, und Oberarzt Dr. Bremer hat ihr versprochen, dass sie ihren ersten Patienten aufnehmen dürfe. Nach der täglichen Visite setzt sich Dr. Bremer mit seiner PJ-Studentin zusammen. „Also, Frau Wieland, in der Aufnahme sitzt Frau Sommer. Ich habe bereits kurz mit ihr gesprochen und einen ersten Eindruck gewonnen. Die Patientin ist damit einverstanden, dass Sie das Aufnahmegespräch führen. Sind Sie bereit?“ Marie nickt. „Können Sie mir noch einmal kurz sagen, worauf ich bei einer psychiatrischen Anamnese achten muss?“, möchte sie von Dr. Bremer wissen. „Zu Beginn lassen Sie die Patientin erst einmal frei berichten, was sie in die Psychiatrie führt und wo sie ihre Hauptprobleme sieht. Anschließend müssen Sie versuchen, durch gezielte Fragen die aktuelle Symptomatik herauszuarbeiten und den psychopathologischen Befund zu erheben.“ Marie nickt. „Dieser psychopathologische Befund bereitet mir ein bisschen Kopfzerbrechen“, gibt sie zu. „So etwas musste ich in den anderen Fachdisziplinen noch nie machen. Haben Sie dafür noch einige Tipps für mich?“ „Um den psychopathologischen Befund kommen Sie nicht herum, er ist schließlich das Kernstück in der psychiatrischen Befunderhebung“, antwortet Dr. Bremer. „Wichtig ist, dass Sie sich vor dem Gespräch mit der Patientin noch einmal vergegenwärtigen, welche psychischen Phänomene und Symptome Sie hierfür abfragen müssen und wie Sie an die gewünschten Informationen gelangen. Für viele der abzufragenden Bereiche existieren hilfreiche Einstiegsfragen und kleine Tests, mit denen Sie das Gespräch in die richtige Richtung lenken können. Außerdem ist es wichtig, dass Sie nicht nur auf die direkten Äußerungen der Patientin, sondern auch auf ihr äußeres Erscheinungsbild, ihr Verhalten während der Untersuchungssituation, ihre Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprache achten. Aus all diesen Beobachtungen können Sie wichtige Hinweise auf die zugrundeliegende Erkrankung ziehen.“ „Dann werde ich mich noch einmal kurz zurückziehen“, antwortet Marie und greift zu ihrem Psychiatrieskript. Eine halbe Stunde später macht sie sich auf den Weg zu ihrer ersten Patientin. „Guten Morgen, Frau Sommer. Mein Name ist Marie Wieland. Ich werde Sie jetzt aufnehmen. Vielleicht beginnen wir erst einmal damit, dass Sie mir berichten, warum Sie bei uns sind ...“
Der psychopathologische Befund Zwei Stunden später kehrt Marie zu ihrem Oberarzt zurück. „Hat alles geklappt?“, möchte Dr. Bremer wissen. Marie nickt zufrieden. „Dann stellen Sie mir Ihren ersten psychopathologischen Befund einmal vor.“ Marie schaut kurz auf ihre Mitschrift und fängt an zu berichten. „Frau Sommer ist eine 49-jährige, gepflegte Patientin in körperlich gutem Zustand. Sie ist wach, zu allen Qualitäten orientiert und zeigt sich im Gespräch und während der Untersuchung kooperativ. Die Patientin hat deutliche Schwierigkeiten, dem Gespräch mit gleichbleibender Aufmerksamkeit zu folgen und sich auf einzelne Fragen länger zu konzentrieren. Hinweise auf Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses ergeben sich in den angewandten Testaufgaben nicht. Insgesamt macht die Patientin einen apathischen Eindruck, ihre Sprache klingt monoton und leise, Bewegungen, Gestik und Mimik sind verlangsamt. Der Antrieb der Patientin wirkt erheblich vermindert. Subjektiv erlebt sie ihre Energie, Initiative und Aktivität als gehemmt, sie vermag ihren Antrieb auch durch Willensanstrengung nicht zu steigern. Innerlich fühlt sie sich unruhig und wie ¸getrieben‘. Die Grundstimmung der Patientin wirkt niedergeschlagen. Sie berichtet über Interessen- und Freudlosigkeit, sozialen Rückzug, ein Gefühl der Wertlosigkeit und ständige Ängste und Befürchtungen, die ihre Zukunft betreffen. Am Morgen empfindet sie ihren Zustand im Vergleich zu anderen Tageszeiten regelmäßig als deutlich schlechter. Das während der Anamnese gezeigte Gefühlsspektrum der Patientin und ihre affektive Schwingungsfähigkeit sind eingeschränkt. Durch das deutlich verlangsamte Denken und die schleppenden Gedankenabläufe ist der Gesprächsverlauf zähflüssig. Subjektiv erlebt die Patientin ihr Denken als gehemmt, ¸wie gegen einen inneren Widerstand‘. Ihre Gedankenwelt ist auf wenige Denkinhalte wie ihre Zukunftsangst und den Verlust ihrer Tochter vor 3 Jahren eingeschränkt. Hiermit einhergehend beschreibt sie eine ausgeprägte Grübelneigung, die sich als monotones, unablässiges und nicht lösungsorientiertes Kreisen um immer dieselben Denkinhalte äußert. Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen wie Wahn, Zwang oder Phobien, Wahrnehmungsstörungen und Ich-Störungen ergeben sich nicht. Auf somatischer Ebene berichtet die Patientin über Ein- und Durchschlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetit- und Gewichtsverlust. Suizidgedanken, -pläne oder -handlungen werden verneint.“
Feuerprobe bestanden „Sehr gut!“, lobt Dr. Bremer. „Haben Sie auch eine erste Vermutung, welche Erkrankung bei Frau Sommer vorliegt?“ Marie nickt. „Der psychopathologische Befund spricht dafür, dass Frau Sommer an einer Depression leidet“, antwortet sie. „Das denke ich auch“, pflichtet Dr. Bremer ihr bei. „Sie haben wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Nach der Mittagspause gehen wir gemeinsam zu der Patientin und besprechen mit ihr das weitere Vorgehen, einverstanden?“ „Einverstanden“, antwortet Marie und folgt ihrem Oberarzt erleichtert in die Pause.
1.2 Einführung
Psychische Erkrankungen zählen in Europa zu den häufigsten Ursachen für Krankschreibungen oder das Ausscheiden in den vorzeitigen Ruhestand. Etwa 40% der Bevölkerung sind während ihres Lebens zumindest einmalig von einer seelischen Störung betroffen. Es ist deshalb von hoher Relevanz, dass neben den entsprechenden Fachärzten auch nichtpsychiatrisch tätige Ärzte ein solides Grundlagenwissen über die Diagnostik und die Behandlung psychischer Erkrankungen besitzen, um beispielsweise bereits in der allgemeinmedizinischen Primärversorgung wichtige Weichen richtig stellen zu können.
1.2.1 Das Fachgebiet „Psychiatrie“
Die Psychiatrie bezeichnet das ärztliche Fach, das sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen sowie deren Erforschung und Lehre beschäftigt.
Innerhalb der Psychiatrie haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Spezialgebiete entwickelt, ▶ Tab. 1.1 zeigt hierzu eine Übersicht.
Tab. 1.1 Übersicht über die wichtigsten psychiatrischen (Spezial-)Gebiete.
Gebiet | Beschreibung/Inhalte |
Allgemeinpsychiatrie | psychische Erkrankungen im Erwachsenalter |
Notfallpsychiatrie | psychiatrische Notfälle (ggf. vitale Bedrohung, z.B. durch Suizidalität, Delir oder Entzugssyndrome, S. ▶ Link) oder Krisen (Zusammenbruch der individuellen Bewältigungsstrategien → Krisenintervention) |
Kinder- und Jugendpsychiatrie | psychische Erkrankungen bis zum 18. Lj. (S. ▶ Link) |
Gerontopsychiatrie | psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter (Richtmarke ca. 60 Jahre) unter Berücksichtigung altersbedingter Besonderheiten bereits vorbestehender psychischer Erkrankungen oder solcher, die aus dem Alterungsprozess resultieren (z.B. Alzheimer-Demenz) |
Suchtmedizin | psychische Erkrankungen mit stoffgebundenem (z.B. Drogen, Medikamente) oder stoffungebundenem (z.B. Spielsucht) Missbrauchs- oder Abhängigkeitsverhalten (S. ▶ Link) |
Forensische Psychiatrie | Behandlung und Begutachtung psychisch kranker und suchtkranker Patienten in Rechtsfragen (u.a. Einschätzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Maßregelvollzug, S. ▶ Link) |
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