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KAPITEL 1
Spiritualität – was ist denn das?
Vom Gummibegriff zu einem hilfreichen farbigen Bild
»Spiritul… Spritua… Spirtu…« – der Mann mühte sich redlich und wer wollte es ihm verdenken? Wir saßen zusammen im Männerkreis (der bei uns in der Gemeinde scherzhaft »Die freien Radikale« heißt) und diskutierten über männliche Spiritualität.
Mir wurde bei diesen unfreiwilligen Sprechübungen deutlich: Kaum etwas macht geistlich offene und interessierte Menschen so neugierig wie das Wort Spiritualität. Auf eigenartig diffuse Weise verheißt es etwas Besonderes, vielleicht sogar Geheimnisvolles. Es scheint, ironisch zugespitzt, einen pawlowschen Reflex auszulösen: Unter dem Label Spiritualität lässt sich der größte Mist als Gold vermarkten und trotzdem sabbern die nach geistlicher Erfahrung Dürstenden. Mich macht das traurig und gleichzeitig hoffnungsvoll: Was für einen geistlichen Hunger erleben wir unter uns!
Gleichzeitig kommt das Wort Spiritualität schwer über die Zunge, es ist unnahbar und seltsam weich, wattig und formbar. Unwillkürlich stellt sich die Frage: Was hat denn das mit meinem Leben zu tun? Meinem Leben als Fabrikarbeiter, Hausfrau, Student oder Manager, der oder die sich eben nicht einfach so in ein Kloster abseilen kann. Dazu kommt: Das S-Wort wird in allen möglichen Kontexten, Religionen, Weltanschauungen und Denkwelten verwendet und vermittelt die Illusion (?) einer ganzheitlichen geistlichen Sichtweise des Lebens. Illusion mit Fragezeichen, denn ich glaube, dass gute Spiritualität das bieten kann. Dazu müsste man sie aber definieren und auf den Punkt bringen. Denn als frei schwebender flaumiger Wattebausch, als fromme Worthülse bringt sie uns nicht weiter.
Bevor wir uns nun an diese Aufgabe begeben, möchte ich eine Bemerkung vorwegschicken: Dieser erste Teil des Buches wirkt erst einmal vermeintlich theoretisch, ist aber letztlich hochgradig praktisch. Um es in ein Bild zu packen: Es hat keinen Sinn, einen stabilen Tisch zu bauen und ihn dann auf Sand zu stellen. Der Boden muss bereitet und fest sein. Wir müssen unseren Standort bestimmen, wenn wir wissen wollen, wohin wir aufbrechen können. Von welchen Seiten wir vom Pferd fallen können. Wo unsere Lieblingseinseitigkeiten lauern. So habe ich bereits diese vermeintlich theoretischen Einsichten in meiner Glaubensgeschichte als äußerst befreiend erlebt, auch wenn sie eher Rohkost und Braten als Softeis und Flüssignahrung waren. Gute Spiritualität ist Analyse und Weg gleichermaßen. Bei den kommenden Seiten habe ich einen Wunsch. Dass wir diese neuen Erkenntnisse auch als Einsichten (in unser Herz) und als Aufsichten (zu Gott) begreifen – und nicht nur als intellektuelle Bereicherung. Im Zentrum steht die Frage: Wo und wie stehe ich gerade da?
Spiritualität – der Versuch einer Definition
Genug der Vorrede, los geht’s. Erste Konturen werden sichtbar.
Das sind nicht meine Worte, sondern die Ausführungen der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Diese Definition drückt gleichzeitig die Hilflosigkeit aus, dieses Phänomen Spiritualität zu beschreiben, denn es wirkt irgendwie wie alles und nichts gleichzeitig, sehr weit und sehr diffus, aber doch verlockend – so wie Zuckerwatte. Von der kann man aber nicht leben!
Als ich auf meinem Blog einen Artikel zur Spiritualität geschrieben habe, kamen auch prompt die Reaktionen: Was für ein dummer Gummibegriff! Kann man da nicht einen anderen finden? Ich bemühte mich redlich. »Frömmigkeit« als Ersatzwort – das funktionierte nicht und war mir zu altbacken und auch zu sehr nach innen gewandt. »Glaubenspraxis«, also die gute alte praxis pietatis, war das etwas? Nein, auch das schien mir zu einseitig, denn wo kommt in diesem Begriff die innere Haltung vor?
Deswegen bin ich dafür, dass wir das Wort Spiritualität biblisch fundiert füllen und seine Verheißung ernst nehmen. Die Verheißung, etwas so Komplexes wie den Glauben in eine ganzheitliche Gesamtsicht zu gießen. Zusätzlich hätten wir den angenehmen Nebeneffekt, über Spiritualität fundierter und pointierter reden zu können und so vielleicht dem einen oder anderen Gesprächspartner aus der einlullenden Magie des nebulösen Sammelbegriffs Spiritualität herauszuhelfen.
So wage ich eine Definition:
Spiritualität ist der Prozess des Glaubenswachstums in den unterschiedlichen Spannungsfeldern des Lebens und Glaubens. Sie kennt drei Dimensionen: innere Haltung, ganzheitliche geistliche Übungen, alltägliche Umsetzung.
Das klingt komplex und ist es zuerst auch. Deswegen steigen wir in die Definition ein und bringen Fleisch an die Worte. Schnell wird deutlich werden: Das ist so praktisch, praktischer geht es nicht …
Die Spannungsfelder des Lebens und Glaubens
Wir hatten im Studium der Theologie in unserer Klasse einen Running Gag. (Wie findet man dafür einen guten deutschen Ausdruck – fortlaufender Witz? Wohl kaum, aber ich schweife ab.) Immer wenn wir in einer Situation oder in einer Diskussion nicht weiterkamen, sondern zwischen zwei Polen festhingen, kam der unvermeidliche Spruch: »Die Spannung muss man wohl aushalten.« Irgendwann nervte es – aber es war die Wahrheit. Immer wieder prallten wir mit unvermittelter Wucht gegen eine Wand der Unauflösbarkeit einer Spannung. Konnte ein System dahinterstecken?
Zugegeben: Das mögen gerade Deutsche, oder genauer: Menschen mit typisch deutscher Denkweise, gar nicht gern. Da muss alles schön geklärt sein, und wenn es geht, schwarz-weiß. Doch kommt man damit weiter? Oder liegt hier schon eine erste, ernst zu nehmende Ursache für die eigene unbefriedigende Spiritualität?
Und wozu Spannungsfelder? Was sollen sie, wozu dienen sie? Eigentlich ist das die falsche Frage: Sie sind einfach da. Verneinen wir sie, werden wir an dieser Stelle immer wieder gegen eine Wand laufen und nicht wachsen, sondern verbittern und hart werden. Nehmen wir sie an, wachsen wir an ihnen und lernen, mit einem Sowohl-als-auch zu leben und nicht nur in einem Entweder-oder zu verharren.
Zur Verdeutlichung ein paar Beispiele. Beginnen wir mit einem Klassiker der Theologie:
Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil! Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus (Philipper 2,12b-13; EÜ).
Dieser Vers wird gerne auseinandergerupft und für zwei verschiedene Zwecke eingespannt: Vers 12b alleine, um kräftig Druck zu erzeugen und der störrischen Gemeinde oder sich selbst deutlich zu machen: So ganz nur mit Gnade geht es nun auch nicht. Denn wie oft liest man solche Verse wie das nervige Kleingedruckte zum Evangelium, zur Frohen Botschaft …
Alternativ nimmt man Vers 13 für sich alleine, um zu betonen, dass alles von Gott kommt und wir überhaupt nichts machen können. Also entspannen und alles nicht so ernst nehmen.
Das ist Entweder-oder-Denkweise. Wie fatal, wenn die Bibel selbst uns vorexerziert, was viel typischer für das jüdische Denken ist: das Sowohl-als-auch. »Streng dich an, jawohl, kein passives Opfergetue! Aber letztlich ist es doch Gott, der alles in dir vollbringt.« Beides gilt, auch wenn wir es schön dualistisch nicht zusammenbekommen werden und wollen. Unweigerlich baut sich eine Spannung auf und das ist gut so.
Immer wieder treffen wir in der Bibel auf diese vermeintlichen Widersprüche, die eigentlich nur verqueres und methodisch eingeschränktes Denken auf unserer Seite widerspiegeln. So wollte Luther den eher Aktion und Werke betonenden Jakobusbrief am liebsten aus dem biblischen Kanon werfen. »Eine stroherne Epistel« – so nannte er die Schrift des guten Jakobus, und der konnte sich nicht mehr wehren. Luther sah an dieser Stelle die Gnade gefährdet. Verständlich im historischen Kontext und bei seinem theologischen Schwerpunkt, aber bereits ein Vorläufer des typischen Entweder-oder-Denkens der Moderne, die ja in der Aufklärung des 17. Jahrhunderts ihre Wurzeln hat. Denn klar ist: Paulus und Jakobus widersprechen sich nicht – sie ergänzen sich und werden so zu einem heilsamen Spannungsfeld.
Dieses Denken in Spannungsfeldern verlangt von uns nicht weniger als einen inneren Paradigmenwechsel, der nicht leicht zu vollziehen ist. Wir sind Kinder der Moderne und sind es gewohnt, exklusiv und ausschließend zu denken. Doch sind wir gleichzeitig mitten in der sogenannten Postmoderne, die uns zunehmend prägt. In dieser Epoche ahnen immer mehr Menschen, dass ein neues Denken inklusive sein muss, Spannungen aushaltend, Gegensätze verbindend. Einfache Lösungen haben nicht getragen, haben ihren Dienst versagt. Nun muss eine Ebene höher gedacht werden. Das Leben gleicht mehr einem Tanz auf einer Fontäne verschiedener Strömungen als einem festgelegten und genau definierten Weg.
Das muss nicht jedem gefallen. Gerade sicherheitsbetonte Menschen sehen hier eher die Bedrohung als die Chance. Meiner Meinung nach kommen wir damit aber dem biblischen Denken näher.
Die Moderne hat uns in geradezu teuflische Sackgassen getrieben. Machbarkeitswahn regiert auch in Gemeinden und schließlich im geistlichen Leben, »Glaube dieses und du bekommst von Gott jenes«, »Entscheide dich für Jesus und du kommst in den Himmel«, »Wende diese Methode an und du erneuerst dein Glaubensleben in sieben einfachen Schritten«. Immer wieder die Frage: Was funktioniert? Was muss ich machen?
Widersprüche als Bedrohung für das eigene Glaubensgebäude wahrzunehmen – all das sind Haltungen und Konzepte der Moderne. Sie werden hier und da krampfhaft festgehalten, aber sie tragen definitiv nicht...