Tief verwurzelt: unser Sicherheitsgefühl
Immer wichtiger für das Sicherheitsgefühl wird, schon beim Baby und beim Kleinkind, auch die Strukturierung der Zeit: Die rhythmische Wiederkehr von Vertrautem gibt ein Gefühl von Überschaubarkeit. Wir können voraussehen, wann was kommen wird, wir kennen uns aus. Auch dies unterstützt unser Sicherheitsgefühl. Abläufe, die uns vertraut sind, die wir einschätzen können, denen wir immer wieder begegnen, und die wir wiedererkennen, schaffen Orientierung.
Rhythmus schafft Struktur
Die Regelmäßigkeit von Abläufen ist sozusagen eine Vorform späterer (Erziehungs-)Regeln, die Kinder leichter erlernen können, wenn sie von Geburt an solche Regelmäßigkeiten gewöhnt sind. Es gibt eine Zeit zum Essen, zur Körperpflege, zum Schlafen, zum Spielen … verschiedene Rhythmen und Rituale gliedern den Tag, die Woche und die Jahreszeiten. Gerade kleine Kinder lieben die Wiederholung.
Auch als Erwachsene möchten wir, dass unsere Tage, Monate, Jahre einer Struktur folgen, dass es Abschnitte in der Zeit gibt, die unsere verschiedenen Aktivitäten »ordnen« oder besondere Akzente setzen – Arbeitszeit, Feierabend, Wochenende, Weihnachten, Silvester, Familienfeste, der Jahresurlaub usw. Rhythmen geben Halt. So erleben manche Menschen den ersehnten Urlaub plötzlich als problematisch, weil keine Struktur vorgegeben ist und die Tage »einfach so« vor ihnen liegen. Sie versuchen dann dem aufkeimenden Unbehagen vorzubeugen, indem sie sich auch am Urlaubsort ein »volles Programm« schaffen – so kommt es, dass die freie Zeit bei so manchem ebenso straff organisiert und vollgepackt wird wie der Arbeitsalltag. Das ist zwar sehr anstrengend, schafft aber Übersicht und Sicherheit.
»Unsere Sehnsüchte sind unsere Möglichkeiten.«
Robert Browning
Wer sich sicher fühlt, kann Neugier zeigen
Das Baby entdeckt seine Welt und hat Spaß an all dem, was es zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken gibt. Es will alles anfassen und nach Möglichkeit auch gleich in den Mund nehmen. Schon früh erfährt es: Wenn man Vertrautes loslässt, kann man etwas Neues anpacken – eine Überraschung, ein Abenteuer, etwas ganz Erstaunliches. Da es aber noch wenig Erfahrung mitbringt, wie dieses Neue einzuschätzen ist, entstehen leicht auch Ängste und Unsicherheiten. Wenn dann die Lage allzu unübersichtlich wird, schiebt sich das Sicherheitsbedürfnis wieder massiv in den Vordergrund, und das Kind tritt den Rückzug an.
Auch als Erwachsene suchen wir Anregung, wollen Neues lernen, uns ausprobieren. Wir schätzen Unterhaltung, die Spannung erzeugt oder uns zum Lachen bringt. Neues und Unbekanntes fasziniert – doch nur solange es nicht wirklich bedrohlich für uns wird. Dabei hat jeder sein individuelles Level, bei dem sich automatisch das Sicherheitsprogramm einschaltet. Manche Menschen lieben etwa die extreme Spannung eines Horrorfilms, anderen müsste man ein Schmerzensgeld zahlen, damit sie überhaupt zuschauen – und dann würden sie mit Herzklopfen vor dem Bildschirm sitzen und bei den schauerlichsten Szenen die Augen schließen. Manche brauchen auch den realen Nervenkitzel, den sie sich durch Extremklettern oder Fallschirmspringen holen, während es anderen schon beim bloßen Gedanken an solche Herausforderungen schlecht wird.
Wann gibt es Entwarnung?
Nur wenn wir Neues einschätzen können und es für ungefährlich halten oder uns selbst der Herausforderung gewachsen fühlen, gibt unser Sicherheitsprogramm Entwarnung. Wenn wir nachts im Bett feststellen, dass der Lärm draußen nur vom Balzen eines Katers herrührt, wenn wir nach einer Präsentation beifälliges Gemurmel hören, dann entspannen wir uns und fühlen uns wieder sicher. Dieses unwillkürliche Abscannen der Umgebung nach möglichen Gefahren läuft im Hintergrund und ist als Frühwarnsystem eine wichtige Orientierungshilfe. Tut es aber zu viel des Guten, leben wir ständig in Alarmbereitschaft und sind auf Abwehr programmiert, auch wenn gar nichts Bedrohliches in Sicht ist.
Wie Muster wirken
Dieses Alarmprogramm ist eine der Grundlagen unserer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die uns ein Optimum an Sicherheit und Freiheit von Angst garantieren sollen. In den ersten fünf Lebensjahren bestehen besonders günstige neurobiologische Bedingungen dafür, diese Muster herauszubilden. Das Prinzip ist einfach: Jede Handlung ruft eine Reaktion hervor. Immer wenn unsere Bezugspersonen positiv auf unser Verhalten reagierten, wurde es wahrscheinlicher, dass wir es beim nächsten Mal genauso machten. Erhielten wir eine negative Resonanz – Schmerz, Spott, Ignoriertwerden, Ausgrenzung … – haben wir höchstwahrscheinlich versucht, das Verhalten künftig zu vermeiden.
Der Sinn von Mustern
Muster sind nichts prinzipiell Schlechtes. Einigen davon verdanken Sie vermutlich viele Ihrer sozialen und beruflichen Erfolge. Beispielsweise konnten Sie eine wichtige Prüfung nur bestehen, weil Sie im Vorfeld diszipliniert und konzentriert gelernt haben.
Vielleicht haben Sie als Kind erlebt, wie ärgerlich Ihre Mutter werden konnte, wenn Sie mit einem Loch in der Hose und von oben bis unten verschmutzt vom Spielplatz kamen. Dann haben Sie Ihre Abenteuerlust gebremst und künftig auf Ihre Kleidung geachtet.
Die Anpassungshaltung
Sobald Sie als Kind den Zusammenhang zwischen »Bravsein«, Lob und Süßigkeiten erkannt hatten, haben Sie sicher öfter versucht, brav zu sein. Die Botschaft hinter solchen Verhaltenssteuerungen ist ebenso simpel wie nachhaltig: »Sei so, wie ich mir vorstelle, dass du sein sollst, dann wird es dir gut gehen.«
Viele verharren noch als Erwachsene allzu oft in einer Anpassungshaltung: bedroht von der Angst, etwas falsch zu machen oder zu versagen, und darauf ausgerichtet, sich das Wohlwollen wichtiger Mitmenschen zu erhalten.
Wenn wir als Kinder gelernt haben, dass braves Sich-Anpassen Lob und Zuwendung bringt – und damit gute Gefühle – werden wir dieses Verhalten wahrscheinlich immer wieder zeigen. Je nachdem wie stark die Zuwendung für die Anpassung, vor allem aber die Ablehnung als Reaktion auf unangepasstes Verhalten ausfiel, ist der Drang, es anderen auf Kosten eigener Bedürfnisse recht zu machen, schwächer oder stärker.
Bei starker Ausprägung werden wir uns auch selbst als brav und gefügig erleben. Schließlich glauben wir, wir »seien einfach so« und denken über uns selbst: »Für mich ist es am besten, wenn ich mich unterordne.« Das Verhalten erfolgt irgendwann ganz unwillkürlich, ohne dass wir weiteres Nachdenken oder alternative Verhaltensweisen erwägen. Mit solchen Mechanismen treiben wir uns selbst zu einem bestimmten Verhalten an – eben so, wie wir es vor langer Zeit erlernt haben.
Die inneren Antreiber
Es ärgert uns heute natürlich, dass wir an solchen Mustern festhalten – umso mehr, wenn wir spüren, dass wir uns damit eher schaden. Diese »inneren Antreiber« erzeugen viel Druck. Beispiele hierfür sind: »Alle sollen mich mögen«, »Ich muss Zeit sparen« oder »Schwächen darf man nicht zeigen«. Natürlich haben solche Maximen auch positive Aspekte und helfen dabei, den Alltag zu bewältigen, Aufgaben zu erfüllen und ein sozial verträglicher Mensch zu sein. Doch ist es ungut, wenn sie über die persönliche Entscheidungsfreiheit dominieren. Ein Zuviel davon führt dazu, unflexibel zu werden, sich den Weg zu neuen, kreativen und guten Entscheidungen zu verbauen und stattdessen aus inneren Zwängen heraus zu handeln. Wer als Kind stark gemaßregelt wurde, verinnerlicht oft einen ganzen Wald von Regeln, anstatt ein solides Selbstvertrauen zu entwickeln.
Neurologen stellten fest, dass häufig auftretendes gleichartiges Verhalten im Gehirn für immer stabilere Verschaltungen zwischen den beteiligten Nervenzellen sorgt.
Reaktionen, die aus der Kindheit stammen, graben sich so als Muster ein. Je öfter wir einen Gedanken oder eine Tat ausführen, desto fester wird es. Im Extremfall ist es im Erwachsenenalter so automatisiert, dass wir auch daran festhalten, wenn es zu unserem Nachteil ist. Statt danach zu suchen, was uns selbst begeistert und entspricht, fühlen wir uns anerzogenen Normen und einem Ideal verpflichtet.
Hitliste der inneren Antreiber
- »Sei perfekt«
- »Streng dich an«
- »Sei stark«
- »Mach schneller«
- »Mach es allen recht«
- »Reiß dich zusammen«
Vor- und Nachteile
Wer sich anpasst, vermeidet Angst, Verunsicherung, Konflikte und Zuwendungsverlust. Die Nachteile, die einem erst mit der Zeit bewusst werden, sind Unselbstständigkeit, Unsicherheit und eine dumpfe Unzufriedenheit, die sich scheinbar nicht richtig fassen lässt.
So halten wir, je nach Prägung, an verschiedenen haltgebenden Dingen, Umständen und Riten fest und entwickeln feste Handlungsmuster. Diese bestimmen dann, was wir denken, welchen Idealen und Leitbildern wir gehorchen, worüber wir sprechen und worüber nicht, wo es uns hinzieht, was wir ablehnen, wie wir Gefühle ausdrücken usw.
So kann es sein, dass »Miss Perfect« keine Probleme hat, sich von jemandem zu trennen, sich aber außerstande sieht, mit dem Putzen im Bad aufzuhören, ehe das letzte Schmutzpartikelchen entfernt ist.
Miss Perfect will eine »perfekt geordnete« Welt und hat alles in ihrer Umgebung gern voll im Griff. Erst dann...