Ständig »on« – wirklich so schlimm?
Wer behauptet eigentlich, dass wir unbedingt »abschalten« müssen? Dass wir Pausen brauchen? Dass wir nicht erreichbar sein sollten? Was ist, wenn Du Dich total wohlfühlst damit, ständig »on« zu sein? Was ist, wenn Du es liebst, Dich sofort um neue Probleme zu kümmern? Wenn es Dich glücklich macht, jederzeit ansprechbar zu sein, und Dein hoher Action- und Erreichbarkeits-Level Dein Jungbrunnen ist?
Nerven Dich die Diskussionen um eine »gesunde Work-Life-Balance«? Weil Du keinen Unterschied machst zwischen Job und Leben? Weil Deine Arbeit Leben pur ist? Und Du »Work« und „Life“ gar nicht so strikt trennen willst?
Warum drohen uns ständig alle mit dem Damoklesschwert »Burn-out«, nur weil wir unseren Job lieben und viele Stunden damit verbringen? Warum soll es schädlich sein, dass Du nachts am Rechner oder Telefon bist und auch in der Freizeit von einem Ehrenamt zum nächsten springst? »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin«, sagte einst der legendäre Filmemacher Rainer Werner Fassbinder, der in 13 Jahren 44 Filme machte und mit 37 Jahren starb. Ist das auch DEIN Motto?
Ja, es gibt Menschen, die brennen wie eine Kerze von zwei Seiten. Und denen zu sagen: »Schalt mal ab, schalt mal einen Gang runter!«, ist so sinnvoll wie zu einem Vogel zu sagen: »Hör auf zu zwitschern!« Manche Menschen haben es quasi in ihrer DNA, als Hochgeschwindigkeitszug ohne Zwischenhalt durchs Leben zu donnern und Tag und Nacht ansprechbar zu sein.
Per se gibt es nichts zu mäkeln an einem hohen Workload, vielen Verpflichtungen, einer Verschmelzung von Berufs- und Privatleben und einem emsigen Tun. Dann nämlich, wenn das hohe Tempo, das Jonglieren von zahlreichen Aufgaben gleichzeitig und der stolze Blick in den vollen Terminkalender unserem inneren Rhythmus entspricht. Solange es unsere innere natürliche Taktung ist, die uns antreibt, und nicht das Tempo in unserer Umgebung, dann ist alles wunderbar. Solange wir freiwillig zum »Work-Life-Blender« werden – nein, nicht der »Vortäuscher«, sondern der »Mixer« (aus dem englischen blend = mischen) –, der seinen beruflichen und privaten Alltag fließend handhabt, so lange ist alles im Lot. Solange wir auftanken können und uns erholen können, brauchen wir über »Lass Mal Alles Aus« nicht weiter nachzudenken.
Wenn wir allerdings verdichten, hetzen und jonglieren, wenn wir mixen und ständig erreichbar sind, weil die Menschen- und Aufgabenfülle in unserem Alltag da draußen oder kleine bohrende Antreiber in uns selbst uns immer wieder zu »ständig on« antreiben, dann wird es ungesund.
Schleichend infiziert
Dumm nur, dass wir oft gar nicht merken, warum wir so emsig sind, wie wir sind. Schleichend packen uns offene Aufgaben unauffällig bei der Ehre. Unbemerkt locken uns neue Projekte in ihren Bann. Still und leise machen sich Urlaubs- und Neujahrsvorsätze, endlich mal weniger zu tun, davon. Machen die Kollegen ja auch nicht! Viel zu schaffen wird in unserer Leistungsgesellschaft honoriert. Faultiere sind verpönt! Und solange es dumme Sprüche hagelt, wenn wir pünktlich Feierabend machen («Arbeitest du jetzt halbtags?«), ist es schwer, die innere Taktung zu spüren – und zu leben.
Immer »on« zu sein, hat Suchtcharakter. Wir fühlen uns toll und unschlagbar. Yeah, alle To-dos erledigt, und nebenbei noch zehn überraschende Aufgaben gewuppt – Chapeau! Wir wollen die Fülle des Lebens auskosten – also noch schnell ein paar Konzerttickets gebucht. Wir wollen mit unseren Freunden in Kontakt bleiben – also noch hurtig in 37 WhatsApp-Gruppen unseren Senf dazugegeben. Noch ein Herz auf dem Instagram-Post des Schwagers verteilen und neue Schuhe bei Zalando bestellen. Mal alles auslassen? Fehlanzeige. Tempo und »Sofortness« stecken an. Nicht nur beim Arbeiten, sondern sogar beim Gehen!
Kennst Du »die schnellste Stadt der Welt«? In Singapur brauchten die Fußgänger für eine rund 18 Meter lange Strecke im Schnitt elf Sekunden, stellten Wissenschaftler in einer heimlichen Beobachtung fest. 13 Jahre früher ließen sie sich dafür noch 15 Sekunden Zeit. Zum Vergleich: In Malawi bummeln die Einwohner von Blantyre die Strecke in rund 32 Sekunden.1 Forscher gehen davon aus, dass das Schritttempo eng mit dem Lebenstempo und dem Stressempfinden zusammenhängt: Je schneller wir gehen, desto schneller und stressiger empfinden wir unseren Alltag. Unsere innere Taktung passt mit der äußeren Taktung einfach nicht (mehr) zusammen.
»Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.«
George Orwell
Abschalten? Eine Sünde!
Im Kern ist die Überforderung durch äußere Taktungen ein uraltes Thema, unter dem bereits unsere Vorfahren litten. Ab dem 14. Jahrhundert regeltenGlocken den Arbeitstag der Tuchmacher in den Webereien in Italien, Flandern oder Nordfrankreich; und die wachsende Zahl von Händlern, Handwerkern, kleinen Unternehmern und Beamten schürten den Wunsch, die Zeit genauer ermitteln zu können. Immer mehr verloren die Menschen den Bezug zum Rhythmus der Natur und arbeiteten unabhängig von den Jahreszeiten, unabhängig von Hell und Dunkel. Für sie wurde es zunehmend wichtig, sich zu fixen Terminen treffen zu können. Auch die Arbeit an sich wurde immer effizienter organisiert und schnell machten Moral-Theologen eine neue Sünde aus: die Zeitverschwendung. Der Dominikaner Domenico Cavalca, gestorben 1342 in Pisa, verkündete kategorisch: Der »Müßige, der seine Zeit verliert, der sie nicht bemisst, gleicht den Tieren und verdient es nicht, als Mensch angesehen zu werden«.2
Lewis Mumford, ein US-amerikanischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, nannte die Uhr die Schlüssel-Erfindung des Industriezeitalters – nicht die Dampfmaschine.3 Es setzte sich die Überzeugung fest, dass eine Gesellschaft nur überleben kann, wenn sie sich beschleunigt und permanent wächst. Stillstand bedeutete Rückschritt, bedeutete das Risiko, alles wieder zu verlieren. Und das setzte die Menschen unter Druck.
Als dann noch elektrisches Licht die Gasfunzeln und Kerzen ablöste, änderten sich der Tagesrhythmus und die Geschwindigkeit des Lebens radikal. 1919 lästerte Kurt Tucholsky: »Dieses Tempo, diese irrsinnige preußische Art, sich das Leben kaputtzumachen. Anderswo wird auch gearbeitet, und sicherlich so intensiv wie bei uns – aber man macht nicht solchen Salat daraus.«4
Volksleiden »Hetzkrankheit«
Schon damals begannen die Menschen zu leiden. Mit Anfällen von Herzklopfen, Zuckungen beim Einschlafen, Verdauungsstörungen, Depressionszuständen sowie hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdung kam der österreichische Schriftsteller Robert Musil im März 1913 zu einem Nervenarzt. Diagnose: Neuras- thenie. Auch Franz Kafka reiste im September 1913 an den Gardasee, »um seine Verzweiflung und Neurasthenie heilen zu lassen«.5
»Neurasthenie« überflutete Mitteleuropa wie eine Epidemie und war in den Jahren vor 1914 eine der häufigsten Diagnosen überhaupt. Die zunehmende Nervosität müsse irgendwie mit Industrialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung zu tun haben, sagten Mediziner. »Alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt; selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem«, schrieb der Nervenarzt Wilhelm Erb 1893.6
Heute nennen wir es »Hurry Sickness« oder Burn-out. Ausgelöst mit einer neuen Beschleunigungswelle in den 1990er Jahren, durch Internet, den Siegeszug der Personal Computer, Mobiltelefone und schließlich mobiles Internet.
Zeitmillionäre? Schön wär´s!
Fast immer verspricht uns eine neue Technik, dass wir Zeit »sparen«. Doch das Gegenteil ist der Fall. Statt nun Zeitmillionäre zu sein, darben wir an Zeitknappheit.
Kein Wunder. Zum einen passen wir unsere Aufgabenmenge und unseren Konsum an die neuen Möglichkeiten an. Im Sekundentakt schicken und beantworten wir E-Mails, lassen täglich die Waschmaschine laufen oder fahren mit dem Auto schnell noch 300 Kilometer auf ein cooles Konzert. Wir packen die Tage immer voller – einfach weil wir es können.
Oder weil wir es müssen: Viele Berufstätige erledigen heute ein Pensum, das früher von zwei oder drei Menschen gestemmt wurde. Ein gutes Zeitmanagement und Effizienz gelten als Schlüssel zum Erfolg. Ergebnis: Die Aktivitäten verdichten sich, aber mit Multitasking versuchen wir auch das zu bewältigen. Leider reißt die Arbeit nicht mehr ab – und solange der Akku Deines Laptops oder Smartphones geladen ist, hast Du heute etwas zu tun. Internet, Smartphone & Co. ist es zu verdanken, dass wir rund um die Uhr und rund um den Globus ständig arbeiten können. Besonders wenn wir selbstständig sind oder als Führungskraft oder Angestellter ein über Europa hinaus gehendes Zuständigkeitsgebiet haben, in verschiedenen Zeitzonen.
Je mehr wir dann noch unsere Arbeit lieben, desto mehr Zeit und Energie stecken wir rein und sind auch bereit, weit über die gesetzlichen Zeiten hinaus zu arbeiten.
Die Technik macht es heute möglich, dass wir 24/7 »on« sein können. Dummerweise zieht alleine die Möglichkeit der ständigen Erreichbarkeit bei vielen Menschen aber auch die gefühlte Pflicht mit sich, tatsächlich erreichbar sein zu müssen. Und irgendwann wollen wir es auch. Um ja nichts zu verpassen. Oder um ja nicht beruflich oder privat abgehängt zu werden. Und schon genießen wir es, in der U-Bahn indisches Currygewürz direkt in Delhi bestellen zu...