Vorwort
ADHS – Auf der Suche nach Hilfe?
»Die Schule interessierte mich nicht wirklich, dafür hatte ich häufig einen munteren Spruch auf Lager, was nicht jeden Lehrer freute.
Meine Schrift war angeblich grauenhaft, Hausaufgaben machte ich eher selten. Ich hatte auch immer irgendetwas vergessen und musste viel nachsitzen – nun, wie mein Sohn eben. Dass aus mir doch noch etwas geworden ist, verdanke ich vermutlich meiner Mutter und zwei Lehrern, ein paar glücklichen Zufällen und der Tatsache, dass ich einen Beruf ausüben kann, der mir wirklich Spaß macht. Und ich bin froh, dass man meinem Sohn jetzt schon helfen kann.«
Ein Erwachsener mit ADHS
Trotz des an sich erfreulich großen Bekanntheitsgrades des Störungsbilds und seiner Behandlung wird die derzeitige Diskussion über ADHS in der Presseberichterstattung, leider aber zum Teil auch in der fachlichen Auseinandersetzung seitens einiger Experten der Medizin, Psychotherapie und Pädagogik in immer schärferem Ton geführt – verwirrend selbst für Fachleute, die sich neu in das Thema einarbeiten wollen, und natürlich erheblich irritierend und verunsichernd für Betroffene.
»Man kann doch jetzt nicht alles mit ADHS erklären wollen!«
So äußerte sich auf typische Weise der Vater eines aus seiner Sicht lediglich »faulen« Jugendlichen, der nichts für die Schule tun »will«, aber stundenlang auf hohem Niveau Homepages am PC »bastelt«. Ähnlich reagieren skeptische Lehrer, Psychologen oder Ärzte angesichts der komplexen und vielschichtigen Problematik bei ADHS (auf jeder Altersstufe ähnlich und doch auch wieder ganz anders), der Fähigkeit beispielsweise, in manchen Situationen durchaus sehr gut »funktionieren« zu können, in anderen Situationen aber offensichtlich regelrecht unfähig zu sein, den eigenen Erwartungen oder denen anderer zu entsprechen.
»Ich bin es leid, es immer wieder erklären zu müssen!«
Dies ist die ebenso typische Äußerung einer Mutter zur Notwendigkeit, in jedem Schuljahr aufs Neue den Lehrern die störungsbildspezifischen Handikaps ihrer beiden Söhne erklären zu müssen. Die gleiche Aussage macht sie aber auch über die Gespräche, die sie mit Psychotherapeuten und Ärzten auf der Suche nach zielführender Hilfestellung für sich selbst geführt hat und die sie als frustrierend erlebte. Sie kommt nicht mit dem Argument zurecht, dass ja »an sich jeder einmal nervös oder launisch« sei und Konzentrationsprobleme habe.
Hilfen zur Selbsthilfe im »Kampf mit dem Chaos« und »zur Verbesserung der Konzentration« fruchten genauso wenig: So empfindet sie auch die zwölf Prinzipien der »Anonymen Messies« als nicht hilfreich, wenn es da zum Beispiel heißt: »Ich schulde es mir selbst, ein geordnetes Leben zu leben, weil Ordnung meine Selbstachtung fördert und Unordnung sie zerstört.« Regelpläne für ihre Kinder hat sie schon ausprobiert, To-do-Listen für sich selbst, und sie weiß mittlerweile gut, was sie tun soll: Sie soll »ihr Tempo verlangsamen«, »ihrer Neigung entgegenwirken, sich ablenken zu lassen« und »sich nicht zu sehr in Ordnung oder Unordnung, Kontrolle oder mangelnde Kontrolle, Hoffnung oder Verzweiflung hineinsteigern«.
»Schon am frühen Morgen ist es mir einfach zu viel!«
Das heißt für sie, dass sie sich schlecht motivieren kann – auch nicht mit einem Satz wie dem folgenden aus dem Zwölf-Schritte-Programm der »Anonymen Messies«: »Ich werde jeden Funken Begeisterung am Leben erhalten, um mich nicht durch den Haushalt, andere Menschen oder mein eigenes Zaudern des Herzens entmutigen zu lassen« –, wenn sie selbst morgens noch nicht richtig »angelaufen« ist, die Kinder schon streiten, Hektik entsteht, lauter Fragen beantwortet werden sollen, gerechte und überlegte Entscheidungen getroffen werden müssen, weil der eine Sohn sich bereits zu dieser Uhrzeit persönlich zurückgesetzt fühlt und der Meinung ist, dass der Bruder erst gestern als Erster im Badezimmer war …
Bereits Ende der 80er Jahre fragten mich immer häufiger Eltern während oder nach intensiven Elterntrainings-Wochenenden (mit Schwerpunktlegung vor allen Dingen auf das funktionelle Verstehen der Symptomatik), ob es denn eigentlich auch Erwachsene gebe, die sich, genau wie die Kinder, blitzartig von einer unerwarteten Situation überwältigt fühlten und damit zu kämpfen hätten, dann nicht sofort gereizt zu reagieren. Wie ihr Kind ertappten sie sich manchmal auch selbst bei einer vorschnellen Äußerung und machten unüberlegt ein Zugeständnis – das vom Kind dann gleich als ein Versprechen oder eine bestehende Regel interpretiert wurde und damit schwer wieder zu relativieren war. Sie übernahmen privat oder im Beruf Aufgaben, bei denen sie sich über die Langzeitkonsequenzen im Moment der Zusage gar nicht konkret »im Klaren« waren und erst hinterher bemerkten, »was sie davon hatten«…
Es sei so schwer, einen konsequenten Erziehungsstil durchzuhalten, selbst wenn man es wirklich wolle, und dabei gelassen und ruhig zu bleiben. Natürlich war in der Elternberatung, die im Rahmen der Kindertherapie stattfand, auch schon früher aufgefallen, dass der eine oder andere Elternteil selbst immer wieder dazwischenplatzte, heftig emotional überreagierte, immer das letzte Wort haben »musste«, blitzschnell von einer Problematik, die man selbst noch nicht vollständig geklärt wähnte, auf ein anderes Problem zu sprechen kam – oder trotz aller Bemühung seitens des Beraters irgendwie »vergessen« hatte, was man in der letzten Sitzung zusammen erarbeitet hatte …
Damals war der Fokus meiner Aufmerksamkeit (und der vieler anderer erfahrener Behandler auch) jedoch darauf gerichtet, überhaupt erst einmal Verständnis bei den Eltern und Lehrern für das »andere« Funktionieren der Kinder und Jugendlichen zu erringen. Es ging darum, in einer Zeit, in der in deutschen Schulen immer früher selbstständiges, eigenmotiviertes Lernen im Team gefordert wurde, für Akzeptanz von ADHS zu werben.
Als Therapeut beziehungsweise Therapeutin war man damit beschäftigt, den Eltern im Umgang mit den Kindern aufzuzeigen, dass durch Schimpfen, Kritisieren und Strafandrohungen nicht nur Abwehr ausgelöst wird, sondern die Kinder regelrecht »blockiert« werden: Ihre Stimmung fällt sofort ab, und zeitgleich die Fähigkeit, sich zu aktivieren, was leider »bockig« wirkt. Des Weiteren musste man erläutern, dass auch Ignorieren oder Nachgiebigkeit kontraproduktiv wirken, mit der unmittelbaren Folge vermehrten Forderns und gesteigerter Aggressivität. Wir hatten die Hoffnung – und waren dabei wohl selbst ein bisschen »blind und taub« –, dass durch Erklärungen und Hilfestellungen zur Einstellungsänderung (wie mit dem Vorstellungsbild des Bären Balou für Ruhe und Gelassenheit, vgl. Neuhaus 1996) Eltern dazu bewegt werden könnten, für die Kinder einschätzbarer zu werden und einen liebevoll-stur-konsequent-gleichmäßigen Umgang mit ihnen zu entwickeln.
Zur Erleichterung boten wir Regelpläne an, mit deren Hilfe die Routinen mit den Kindern gut eingeübt werden konnten – prinzipiell. Verstärkt wurden sie durch Belohnungspunkte, die regelmäßig direkt nach Erfüllung der Aufgabe und über einige Monate hinweg gegeben werden sollten, bis sich die Abläufe »verautomatisiert« hatten. In vielen Fällen klappte das ganz gut, bisweilen nicht – aber nicht nur, weil die Kinder »den Aufstand« probten, sondern weil die Erwachsenen einfach vergaßen, die Regeln wirklich täglich im freundlichen Ton gleichmäßig einzufordern sowie zeitnah unaufgeregt die Bilanz über Erfüllung und Nichterfüllung zu ziehen. Oft wurde es für einen Elternteil »auf Dauer« sichtlich »zu anstrengend«, dies durchzuführen. Manchmal wurde es auch nicht durchgehalten, weil andere gewichtige Fachleute meinten, man dürfe Kinder doch nicht so »gängeln«.
Bei der rasanten Zunahme von Daten, die jedes Individuum im Rahmen der Hochtechnologieentwicklung der beginnenden 90er Jahre zu verarbeiten hatte, ergänzt durch vielfältige Umstrukturierungen der Arbeitsplätze, Leanmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung etc., schilderten Eltern zunehmend spontan auch bei sich selbst Vergesslichkeit und Überforderung sowie deren zum Teil gravierende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Effektivität im Beruf und leider auch auf die Partnerschaft – von anderen oft sehr deutlich registriert und benannt! Die Entwicklungsgeschichten und oft sogar die Verhaltensbeobachtungen in der nun immer häufiger eingeforderten Erwachsenendiagnostik ähnelten sehr denen der Kinder: Erwachsene werteten sich beispielsweise im Intelligenztest genauso spontan ab wie sie: »Oje, in Mathe war ich immer eine Niete, das kann ich ganz sicher nicht!« etc.
1988 baten mich erstmals einige sehr engagierte, deutlich selbst betroffene Elternteile um die Gründung einer Erwachsenengruppe: Sie wollten sich selber besser verstehen lernen und abgleichen können, wie es anderen Betroffenen geht. Sie äußerten die Hoffnung auf ganz gezielte Hilfestellung – vor allen Dingen für das Zusammenleben mit denen, die sie liebten, mit denen sie aber immer wieder nicht klarkamen: Partner und Kinder. Sie verstanden sie oft nicht und fühlten sich umgekehrt von ihnen nicht richtig verstanden.
Je größer die Erfahrung mit Betroffenen wurde, desto mehr zeigte sich, dass sich nicht nur Kinder und Jugendliche mit ADHS regelrecht gegenseitig anzuziehen schienen – mit Ausleben bisweilen regelrechter »Hass-Lieben«. Bei genauerer Betrachtung in den letzten Jahren erwies sich außerdem, dass offensichtlich Menschen mit ADHS auch bei...