KAPITEL 1
Laufen im Flow erleben
Am wichtigsten Tag ihres Lebens wachte Shelby Hyatt auf und konnte nicht mehr atmen. Die 16-jährige Studentin der Swain Highschool in Bryson City, North Carolina, tastete fieberhaft ihr Nachtkästchen nach ihrem Notfallinhalator ab – vergeblich, in der pechschwarzen Finsternis des Motelzimmers. Sie setzte sich im Bett auf und versuchte, Ruhe zu bewahren, doch setzte ihr die stickige Heizungsluft zu. Sie musste nach draußen, bevor es schlimmer wurde.
»Mein Brustkorb war so angespannt«, sagt sie. »Ich konnte einatmen, aber nicht tief. Ich hatte aber weniger Panik, als man denken würde, weil ich meine Teamkolleginnen nicht aufwecken wollte. Also versuchte ich, ruhig und gefasst zu bleiben.«
Draußen herrschte eine andere Welt. Starker Regen prasselte auf das Dach des Motels und setzte den Parkplatz unter Wasser. In Shelbys Heimatregion schneite es bereits, doch hier, in den Hügeln des amerikanischen Piedmonts, war es nur stürmisch und ungemütlich. Shelby drückte sich gegen die Hotelmauern und inhalierte die kalte, frische Luft. Langsam stabilisierte sich ihre Atmung. Es war 5:30 Uhr morgens.
Seit mehr als einem Jahr träumte Shelby von der landesweiten Crosslaufmeisterschaft dieses Tages und hatte darauf hintrainiert. Im Vorjahr, im ersten Semester, war sie als Elfte ins Ziel gekommen – und verpasste damit die Landesplatzierung um einen Platz. Im folgenden Jahr wurde Laufen ihre Leidenschaft; es definierte sie als Person. Diese Zuversicht übertrug sich auch auf andere Bereiche. Sie erhielt einen Ehrenplatz bei den Homecoming-Feierlichkeiten ihrer Highschool und begann mit einem beliebten Klassenkameraden auszugehen. Beflügelt durch diese positiven Ereignisse, schien sie genau auf der Spur zu sein, um ihren Traum vom Sieg im landesweiten Crosslauf zu verwirklichen.
Eine Lungenentzündung veränderte alles. Über sechs Wochen lang, mitten in der entscheidenden Trainingssaison, keuchte sich Shelby durch anstrengende und weniger anstrengende Läufe. Manche Tage waren okay, an anderen hielt sie nur mit Mühe die Tränen zurück. Als von Natur aus stille Person äußerte Shelby sich nur selten dazu, wie die körperlichen Symptome sie geistig belasteten. Als die harten Tage zusehends überhandnahmen, waren sie jedoch kaum noch zu übersehen. Ihre Teamkolleginnen und Trainer versuchten sie aufzumuntern, angesichts ihrer übergroßen Anstrengungen mit meist dürftigem Ergebnis. Ärzte verschrieben Antibiotika, Inhalatoren und Kortikosteroide, doch mit minimalem Erfolg. Als sie in jedem größeren Wettlauf schlechter abschnitt, wurde das ganze Training immer mehr zur Glaubensübung.
Während ihre drei Teamkolleginnen schliefen, saß Shelby vor der Zimmertür auf dem Boden und versuchte, sich nicht selbst zu bemitleiden. Obwohl sie nicht 100 Prozent fit war, hatte sie doch große Ziele für den Tag. Was, wenn es heute beim Laufen wieder passiert, dachte sie. Was, wenn ich nicht mein Bestes geben oder meinem Team nicht helfen kann?
Endlich beruhigte sich ihre Atmung, sie kehrte ins Zimmer zurück. Draußen regnete es weiter.
Beim Frühstück erzählte sie ihren Trainern von ihrer Atemnot, spielte sie dabei aber schon wieder herunter. Der Rest des Morgens verging wie im Flug, mit Teamcoaching und Wettkampfvorbereitungen. Als Shelby und ihr Team sich am Start einfanden, war sie ruhig und gefasst. Ihr Gesicht zeigte weder Angst noch Besorgnis. Das Warm-up war gut verlaufen, ihre Beine waren frisch. Am wichtigsten: Ihre Lunge konnte Luft aufnehmen. Ob die Panikatmungsepisode sie entspannt hatte oder nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen war, konnte niemand wissen. Also hörte sie auf, darüber nachzudenken.
»Ich war wirklich zuversichtlich, so, als ob ich wüsste, dass es für mich nicht gut aussah, nach allem, was vorgefallen war. Doch es ging mir gut«, sagt sie. »Das half gegen den Druck. Ich wusste, dass von mir heute keine besonders gute Leistung erwartet wurde.«
Der Starter gab den einminütigen Countdown durch. Shelby stand neben ihren Kolleginnen an der aufgeweichten Startlinie und inspizierte die Pfützen und matschigen Grasinseln, die vor ihr lagen. Tief einatmen; tief ausatmen. Es hatte, unbemerkt von ihr, zu regnen aufgehört. Ihr Blick zeigte stählerne Entschlossenheit, sie war hoch konzentriert. Nichts sonst zählte.
Peng!
Im Chaos des Schlammstarts blieb Shelby gelassen. Die Anführer schoben sich durch den Matsch und kämpften gegen den Track und gegeneinander. Der Nordwind pfiff ihnen konstant mit 32 km/h entgegen. Shelby ging bei einigen ihrer Teamkolleginnen in Deckung, zuversichtlich, dass dies die beste Strategie war. Die ersten sieben Minuten vergingen in einer Schlammwolke, in der die Läufer um ihre Positionen rangelten. An der 1-Meilen-Marke (1,6 Kilometer) lag sie auf Platz 40. Sie wollte wegen ihrer Probleme mit mittlerem Einsatz starten und das Tempo dann, wenn möglich, kontinuierlich steigern. Ihre Atmung blieb gleichmäßig und störungsfrei.
»Angesichts dessen, wie gut ich mich nach der ersten Meile fühlte, dachte ich, okay, ich muss mich jetzt steigern«, sagt sie, »obwohl ich nicht sicher war, ob das gut oder schlecht ausgehen würde. Ich entschied nur, dass ich versuchen würde, mich so weit wie möglich zu steigern, und dann sehen würde, was passiert.«
Die nächste Meile bestätigte ihre Vermutung. Sie fühlte sich mit jedem Schritt besser. Ihre Zweifel bezüglich ihrer Atmung verschwanden immer mehr, und sie arbeitete sich im Feld weiter vor, erst auf Platz 20, dann auf Platz 15. Die 2-Meilen-Marke (3,2 Kilometer) passierte sie knapp hinter den ersten zehn. Als ihr klar wurde, dass ihr einjähriger Traum Erfolg haben würde, verdoppelte sie ihre Anstrengungen. Vor ihr lief ihre talentierte Teamkollegin Emma. Als Shelbys Lunge gegen die Entzündung kämpfte, hatte Emma die Führung im Team übernommen. Mit einem klaren Ziel vor Augen und ohne körperliche Hindernisse machte Shelby sich daran, ihre junge Teamkollegin einzuholen.
Die letzte Meile des Rennens spielte sich wie in einem Hollywoodfilm ab. Shelby arbeitete sich unter die ersten zehn vor, dann unter die Top acht. 800 Meter vor der Ziellinie holte sie Emma ein. Ihr Schwung katapultierte sie an ihrer Teamkollegin vorbei, während Trainer und Zuschauer sie anfeuerten. Sie lag auf dem sechsten Platz und arbeitete sich auf den fünften vor.
Das Mädchen mit Lungenentzündung – das so hart gearbeitet hatte – lief jetzt schneller als je zuvor in seinem Leben. Im Sprint und vor dem Hintergrund der Abendsonne erklomm Shelby einen kleinen Hügel. In immer noch höherem Tempo überholte sie eine letzte Gegnerin und setzte sich nur 200 Meter vor dem Finish auf Platz 4. Auf der letzten Geraden entglitt ihr ein kleines Lächeln, als ihr Fokus wieder weiter wurde und das Ausmaß des Geschehenen zu ihr durchdrang. Sie, die sich am gleichen Morgen noch ins Aus gezählt hatte, rannte den Lauf ihres Lebens und ging bei der Landesmeisterschaft als Vierte durchs Ziel. Damit hatte sie nicht nur ihr gestecktes Ziel erreicht, sondern trug auch ihr Team auf Platz 3, das beste je gelaufene Schulergebnis. Das Sahnehäubchen war dabei ein PR für sie, eine persönliche Bestleistung, bei Starkwind und durch Schlammpfützen.
»Das ergibt für mich zwar keinen Sinn, doch fühlte es sich leichter an [als alle anderen Rennen]«, erzählt Shelby. »Atmung, Körper, Beine – alles fühlte sich an, als ob ich ewig weitermachen könnte.« Nach dem Rennen, als die erschöpften Athleten und Athletinnen ihre Eltern und Trainer aufsuchten, wurde Shelby von ihrem Team getrennt. Als sie ihren Trainer schlussendlich fand, umarmten die beiden sich fest und lange, geschockt und überrascht gleichermaßen. Danach trat Shelby zurück und lächelte: »Ich glaube, heute war ich im Flow«, sagte sie.
Das Phänomen Flow
Shelby hatte recht. Sie hatte ein Flow-Erlebnis, ein Phänomen, das dafür bekannt ist, dass nur wenige Erfahrungen im Leben denkwürdiger sind. Ein großer Vorteil von Flow ist, dass dieser Bewusstseinszustand jedem Menschen zugänglich ist, der seinen Leidenschaften und Vorlieben nachgeht und entschlossen ist, seine Ziele zu erreichen.
Laufen ist einzigartig: Es bietet Gelegenheiten, Flow in verschiedensten Situationen relativ häufig zu erleben. Rennen geben Wettkampfathleten eine strukturierte, herausfordernde Umgebung, in der sie ihre Fertigkeiten testen können. Crossläufe bieten technische Herausforderungen und beschauliche, entspannende Szenerien. Laufen am Strand kann den Sporttreibenden in meditative Trance hüllen, wenn die Wellen leise auf das Ufer auslaufen. Selbst Straßenläufe können genussvoll sein und glücklich machen, wenn man sich ganz auf den Schrittrhythmus eingestellt hat und auf das herrliche Gefühl der Leichtigkeit, das der Lauf mit sich bringt.
Dieses Buch legt den Schwerpunkt zwar auf Läufer und deren Flow-Erleben, doch es kann sich immer einstellen, wenn Sie einer herausfordernden Aufgabe Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Forscher haben Flow-Erleben auch bei Schachspielern, Tänzern, Radfahrern, Gärtnern, Schwimmern, Basketballspielern, Autoren und Schauspielern festgestellt. Die Details variieren zwar je nach gelebter Leidenschaft, doch sind die Ursachen und die dabei erlebten Gefühle allgemeingültig.
Allgemein erleben Sie Flow, wenn Sie...