Die Entscheidung vor dem Schulabschluss
Die Pubertät und der Fokus auf die Form
Die ersten konkreten Gedanken über das baldige Berufsleben machen sich viele Menschen in einer Zeit größter Umwälzung, der Pubertät. Der Körper, die äußerliche Form des Jugendlichen, verändert sich so rasant wie zuletzt im Babyalter, und die Eltern erleiden eine zweite Trotzphase ihrer Kinder, die wahrscheinlich zum Großteil auf hormonell bedingte Stimmungsschwankungen zurückzuführen ist. Durch diese Veränderungen wird das Greifbare, Sichtbare, der eigene Körper in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt. Die bis dato uneingeschränkt und kritiklos hingenommene Orientierung an den eigenen Eltern verblasst. – Ich erinnere mich noch an meine eigene, aufwühlende Teenagerzeit, in der meinem rebellisch vorgetragenen Wunsch nach mehr Freiheit und Eigenverantwortung vom Elternhaus und der Schule enge Grenzen gesetzt wurden. Diesen Abnabelungsprozess durfte ich später als Vater wieder bei meiner Tochter erleben.
Und in diese aufregende Umbruchszeit fällt meistens die Frage nach dem späteren Berufswunsch. Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie das erste Mal gefragt wurden, was Sie denn einmal werden wollen? Eine Idee vom späteren Berufsleben gewinnt ein Schüler meistens im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren durch das Betriebspraktikum. Viele meiner Kunden berichten jedoch, dass sie in der schwierigen Phase der Pubertät Praktika, Besuche beim Arbeitsamt und Vorträge von Lehrern nur ungern über sich ergehen ließen und von Beginn an keinen wirklichen Herzensbezug zum späteren Beruf aufbauen konnten. Es geschieht zudem oft, dass Jugendliche die Frage nach der Berufswahl verdrängen, bis sie kurz vor dem Schulabschluss stehen. Wenn es dann soweit ist, dass sie sich entscheiden müssen, treffen sie übereilte Entschlüsse oder müssen Wartezeiten in Kauf nehmen, bis sie einen Ausbildungsplatz finden, weil sie sich zu spät darum gekümmert haben. Manchmal nehmen sie dann das, was ihnen angeboten wird, damit sie überhaupt etwas haben.
Es gibt jedoch noch ganz andere Beweggründe, möglichst schnell berufstätig zu werden, ohne sich dabei Gedanken um die Herzensberufung zu machen, wie z. B. bei Kerstin, die Folgendes über ihre Berufswahl als Jugendliche erzählt: “Meine Eltern waren mir damals zu spießig, und schon deshalb wollte ich mich mit ihnen möglichst wenig über die Berufswahl unterhalten. Häufig sprach gerade mein Vater von Werten, und seine sentimentale, religiöse Art war mir eher peinlich. Die Interessen meiner Kindheit hatten kaum noch eine Bedeutung, und die Freizeit verbrachte ich mit meiner Clique. Es war eine wunderbare Zeit der Gemeinschaft, aber ein gewisser Anpassungsdruck verstärkte meinen Wunsch, Geld zu verdienen. Das Shoppen mit meinen Freundinnen wurde zur Leidenschaft, und der Wunsch, zusätzliches, eigenes Geld zu verdienen, wurde übermächtig. Spätestens nach meinem Praktikum war mir klar: Ich möchte die Schule so schnell wie möglich beenden. Mich interessierten Berufe, in denen ich schon in der Ausbildung eine ordentliche Vergütung erhalten konnte. Als meine Freundin von solchen Möglichkeiten als Versicherungskauffrau erzählte, hatte ich zunächst das Ziel, mich nach der mittleren Reife um einen Ausbildungsplatz zu bewerben.”
Viele Aspekte spielen bei der ersten Berufswahl eine Rolle. Durch den Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen, mit denen man sich wohlfühlt, passt man sich oft an und lebt weniger die eigene Identität. So war es bei Kerstin, deren Clique das Shoppen so wichtig war, dass sie den Beruf zunächst nur als Möglichkeit sah, schnell viel Geld zu verdienen.
Jugendliche, deren Eltern sich ihren Ideen und Gedanken verständnisvoll annähern, so dass sie sich ernst genommen fühlen, haben den Vorteil, dass sie vielleicht schon früher eine Berufswahl treffen, bei der sie auch ihre Identität und ihre Talente berücksichtigen.
Der Weg von der Schule in den ersten Beruf
Über den Einfluss von Schule und Lehrern auf die erste Berufswahl gibt es ganz unterschiedliche Standpunkte. Immer häufiger berichten mir Lehrer, dass ihr sozialpädagogischer Anteil gewachsen sei, weil Eltern ihre Erziehungsaufgaben an die Schule delegieren. Doch ist die Frage der ersten Berufswahl bei einem Lehrer oder in den Arbeitsagenturen besser aufgehoben als in den Familien? Die Antwort ist einfach, denn ganz gewiss ist die Schule überfordert damit, eine anspruchsvolle, individuelle Begleitung für jeden einzelnen Schüler anzubieten. Es wird zudem viel Kritisches über das Schulsystem berichtet. Deutsche Bildungsabschlüsse sollen dem internationalen Vergleich nicht standhalten. Doch für die Sicherheit der Arbeitsplätze kann die Bildung nicht wichtig genug sein, so die Meinung wirtschaftsnaher Politiker.
Ich denke jedoch, dass das deutsche Schulsystem im Bildungssowie im Persönlichkeitssektor größere Chancen für die Entwicklung von Jugendlichen geschaffen hat. So gibt es z. B. die Möglichkeit des Schüleraustauschs mit Partnerschulen im Ausland und die Projektwochen. Jugendlichen wird es in Schulen ermöglicht, sich körperlich und persönlich zu erfahren und Selbstvertrauen aufzubauen. Der Unterricht fördert kommunikative Fähigkeiten stärker als noch vor einigen Jahrzehnten, und auch die Angebote zur Berufswahl mit Hilfe der neuen Medien sind lobenswert und bieten den Schülern einen guten Überblick über die beruflichen Möglichkeiten.
Allerdings ist das Schulsystem auch Teil einer Gesellschaft, die nach wie vor vom Leistungsprinzip beeinflusst ist. Gerade gegen Ende der Schulzeit haben Jugendliche einen immensen Leistungsdruck. Hinzu kommt, dass ihnen bewusst wird, dass sie nur überleben und sich ihre Konsumwünsche erfüllen können, wenn sie bereit sind, etwas zu leisten. Das Notensystem, das ein Konkurrenzsystem ist, bereitet die Jugendlichen schon früh auf eine Welt vor, die vom Glaubenssatz geprägt ist, dass es nicht genug für alle gibt. Mit dieser Botschaft entfernt sich das Schulsystem als Teil der Wettbewerbsgesellschaft von der Natürlichkeit und der Fülle des Lebens.
Auch für Kerstin begann der Kampf um die guten Noten, als sie erlebte, wie knapp gute Ausbildungsplätze sind. “Ich dachte damals, dass ich meine Wünsche nur durch gute Noten erfüllen könnte. Dadurch entstand ein großer Stress, denn ich hatte das Gefühl, dass es nur für wenige von uns gute Noten geben konnte, und so machte ich vor keinem Trick Halt. Meinen Mathelehrer versuchte ich zu beeindrucken, indem ich ihn anhimmelte, und mit meiner Englischlehrerin kämpfte ich um jeden Punkt. Auch meine Mitschüler verhielten sich ähnlich. Ein Mobbing im Kampf um die ersten Plätze in der Klasse und um die guten Noten begann. Am Ende war das Klima vergiftet. Jeder wurde zu einem Einzelkämpfer, man konnte keinem der Mitschüler mehr trauen. Ich spürte, dass die Schule für meine beruflichen Ziele nötig war, aber die Freude, die ich in meiner Kindheit so oft erlebt hatte, war weg. Immer häufiger wurde ich krank, und ein Spießrutenlauf mit meinen Eltern begann, denn sie glaubten, ich würde bloß simulieren. Erst als ich kurz vor der mittleren Reife richtig krank wurde, ging meinen Eltern ein Licht auf, und sie merkten, wie es wirklich um mich stand. Ich zog die Bewerbungen bei den Versicherungen zurück und meldete mich bei einer weiterführenden Schule an.”
Ein weiterer Aspekt, der Jugendliche bei ihrer Berufswahl beeinflusst, ist der erste Beruf, den sie hautnah beobachten können. Dies ist meistens der Beruf des Lehrers und nicht der Beruf der Eltern. Doch wie sieht es aus mit dem “Arbeitsplatz Schule”? Wie viele Lehrer gibt es, die heute noch wirklich begeistert sind von ihrem Beruf und diesen als Berufung ansehen? Ich denke, die Krankenstände und Frühverrentungen bei Lehrern sprechen eine deutliche Sprache. Woran mag das liegen? An staatlichen Sparmaßnahmen, an negativem Denken und an den ständigen Bewertungen und Beurteilungen? Führen diese vielleicht häufig zu Stresserkrankungen? Oder ist es die öffentliche Kritik aufgrund der PISA-Studien?
Wenn die Lehrer aber nicht in der Lage sind, den Schülern die Begeisterung für ihren Beruf vorzuleben, ihnen zu zeigen, dass Arbeit auch Spaß machen kann, wie sollen sie dann lernen, dass es so sein kann? Die meisten Jugendlichen verlassen die Schule nach dem Abschluss, geprägt von dem Gedanken, dass ausschließlich Leistung und Ehrgeiz sie beruflich weiterbringen. Und so treten sie in eine neue Welt ein, in der diese Dinge tatsächlich eine große Rolle spielen: die Welt der Wirtschaft.
Die ersten Begegnungen mit der Wirtschaft
Für die Wirtschaft ist der angepasste und leistungsbereite junge Berufstätige ein ganz besonders interessanter Fall. Er hat ein offenes Ohr für die Botschaften der Massenmedien, für Werbeikonen und für die moderne Überflussgesellschaft. Dies soll keine pauschale Kritik an der...