Kapitel 1
DER DUFT VON KALBSBRATEN
Wenn der Glaube enttäuscht
»Und schlachtet das Kalb, das wir im Stall gemästet haben …« Und ein Freudenfest begann … Da wurde der ältere Bruder zornig und wollte nicht ins Haus gehen.
Lukas 15,23-24.28
Die Reaktion ist nachvollziehbar. Seit seiner Kindheit ist dieser junge Mann der mustergültige Sohn, der sich den Erwartungen seines Vaters mühelos fügt. Als stellvertretender Geschäftsführer verwaltet er den familiären Landwirtschaftsbetrieb. Tagsüber weist er Hilfsarbeiter ein, prüft die Milchmenge pro Kuh, führt die Aufsicht über Wartungsarbeiten an Gebäuden und Fuhrwerken, rechnet den Erlös vom Markttag aus. Abends überprüft er den Kassenstand. Nachts träumt er von Wetterturbulenzen und Heuballen. Er ist mit Herzblut dabei, ein Schufter aus Leidenschaft, der seinem Vater jeden Wunsch von den Augen abliest. An dem Tag, an dem sein kleiner Bruder, von Geburt an der klassische Faulenzer, endgültig ausbüxt und seinen Kapriolen als Partylöwe in der Ferne weiterfrönt, hat der ältere Bruder für seine trauernden Eltern wenig Verständnis. Mit dem Auszug des jungen Tunichtguts ist für ihn Reizfaktor Nummer eins entsorgt. Die Bilderbuch-Karriere kann weiterblühen – bis zu jenem Tag, an dem alles anders wird. Töne, die in diesem von Tüchtigkeit geprägten Alltag selten zu hören sind, erklingen vom Familienhaus. Düfte von Gewürzen und gebratenem Fleisch, Klänge von Musik und Gelächter füllen die Luft. Das halbe Dorf ist mit Luftballons und Wunderkerzen eingetroffen. Der Vater, außer sich vor Freude, rennt aus dem Haus, um seinem älteren Sohn die gute Nachricht zu überbringen: Der abtrünnige Nichtsnutz ist zurück!
Ein Ereignis. Unterschiedliche Reaktionen. Der ältere Bruder ist sprachlos vor Empörung. Im Handumdrehen geraten seine geordneten Strukturen aus den Fugen. Er wird mit etwas konfrontiert, das in seiner zugeknöpften Welt keinen Platz hat: ausgelassene Freude. Jahrelang angestauter Frust, der unter der Oberfläche brodelt, platzt in dem einen Satz heraus: »All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet und dir nicht ein einziges Mal widersprochen, wenn du mir etwas aufgetragen hast. Und in dieser ganzen Zeit hast du mir nicht einmal eine junge Ziege gegeben, um mit meinen Freunden ein Fest zu feiern« (Lukas 15,29). Wer von uns fühlt nicht mit, widerspricht diese Geschichte doch jedem gesunden Menschenverstand. Sie macht eine Lachnummer aus dem primitivsten ABC einer vernünftigen Pädagogik. Immerhin hat der ältere Sohn das Getreide eingesammelt, aus dem das Mehl für die Festtorte entstanden ist. Das Kalb gezüchtet, das jetzt geschlachtet wird. Den Tisch gezimmert, auf dem die Leckereien ausgebreitet sind, mit denen die Rückkehr des Quertreibers gefeiert wird. Seit Menschengedenken erfüllt der ältere Bruder seine Pflicht bis aufs Letzte. Und jetzt wird der belohnt, der es am wenigsten verdient hat. Wie muss er sich an den Rand gedrängt, übersehen, betrogen fühlen!
… und ich?
Es ist eins der traurigsten Bilder in der Bibel. Ein Bild, das auch heute in christlichen Kreisen häufig vorkommt. Der Mitarbeiter Gottes, der mit verschränkten Armen an der Tür zum Saal steht und missmutig auf das Treiben der Partygäste blickt. »Und ich? Was hat mir meine Mühe für Gott gebracht?« Meist gibt es, wie beim älteren Bruder in der Geschichte, irgendeinen Auslöser, der das Fass zum Überlaufen bringt.
»Nur weil ich keine Szenen mache und kein Typ für große Emotionen bin, wird der andere bevorzugt.« – »Nur weil ich einmal ordentlich auf den Putz gehauen und meine Meinung gesagt habe, werde ich nicht mehr beachtet.« – »Nur weil ich keine aufreißende Show bieten kann, wollen die Jugendlichen einen anderen Leiter.« – »Nur weil ich an dem Tag keine Zeit hatte, werden die anderen jetzt gefragt.«
In diesem »nur weil« steckt eine Menge Herzblut und Frust, oft jahrelange Mühe und Arbeit. Es gibt kaum ein schmerzvolleres Gefühl als das, von Gott und Menschen zur Seite geschoben zu werden. Oder gar für die Mühe, die man sich gemacht hat, bestraft zu werden. Anklänge daran finden wir auch in der Klage des Psalmisten: War es denn völlig umsonst, dass ich mein Herz rein hielt und kein Unrecht beging? (Psalm 73,13). Es ist das nagende Gefühl: »Hab ich nur meine Zeit verschwendet? Bin ich doch auf der falschen Spur gelandet?«
Die verbalen Messerstiche, die mit dieser Geschichte direkt ins Herz der damaligen Gemeindekultur der Pharisäer gehen, sind für Jesu Publikum nicht zu überhören. Das Wertesystem, das Gott im Alten Testament für sein Volk verordnet hat, ist kalt und herzlos geworden. Dabei steht für Jesus nie zur Debatte, dieses System an sich infrage zu stellen. Er respektiert wie kein anderer die Ordnungen Gottes. Er ist nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, sondern um es zu erfüllen. Das Problem ist nicht das Gesetz selber. Das Problem ist das Gesetz in den falschen Händen. Das Gesetz als Machtkeule gegen Mitmenschen. Das Gesetz als Liste von Verhaltensnormen, die äußere Anpassung fordern und nicht innere Überzeugung. Das Gesetz als Mittel, Gott günstig zu stimmen.
Mit seiner provokativen Erzählung über die zwei Brüder legt Jesus seinen Finger auf eins der Kernprobleme des gefallenen Menschen, vor allem des religiösen gefallenen Menschen. Der Fehler des älteren Bruders ist nicht der Fleiß, mit dem er bis tief in die Nacht seine Einnahmen und Ausgaben überprüft und sich bemüht, recht zu leben. Die Bibel ist voll von Dingen, die wir richtig machen sollen, um unseretwillen und um unserer Mitmenschen willen. Das Problem ist seine Haltung. Sein zwanghaftes Bemühen, durch seinen Dienst Punkte zu erlangen. Seine Arbeit für den Vater als einen Mechanismus zu verwenden, den er selber bedienen kann, um Gegenleistungen zu bekommen. Kein Wunder, dass seine Welt plötzlich kopfsteht. Er hat die Arbeit geleistet, der Schwänzer wird belohnt.
So wird er zum Getriebenen, der zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeit hin- und herpendelt, zwischen Verachtung für den Unterlegenen und Argwohn dem gegenüber, der scheinbar das bessere Los gezogen hat. Der schnell auf den Gedanken kommt, dass sein Vater ihn auf dem Kieker hat. Der Angst hat, zu kurz zu kommen. Die Rückkehr seines Bruders reicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.
Nichts dämpft die Stimmung in einem Festsaal mehr als eine grimmige Miene an der Tür. Der, der in der Zwangsjacke einer Leistungsfrömmigkeit lebt, will auch andere einengen. So werden Festgesellschaften zu Stressgehegen, in die sich unterschwellige Punktesysteme so lautlos hineinschleichen, dass wir sie manchmal gar nicht bemerken. Gerne bezeichnen wir diejenigen als geistlich, die unsere Vorlieben und Abneigungen teilen, die gleichen Lieder und Prediger mögen, die gleichen Kongresse besuchen, den gleichen geistlichen Trends nachlaufen, sich über die gleichen Dinge aufregen wie wir. Solche belohnen wir mit unserer Freundschaft, auf die anderen blicken wir herab.
»Komm zu Jesus, und es geht dir gut!«
Der ältere Bruder ist ein Erfolgschrist. Er würde bei einer Predigt zustimmend nicken, in der vermittelt wird – wenn auch in verschlüsselten Botschaften –, dass der erfolgreiche Christ der ist, der für seinen guten Lebensentwurf belohnt wird und dies freudig bezeugen kann. Der den Stein der Weisen, den Schlüssel zum geistlichen Sieg, gefunden hat. Aber was, wenn der Lohn plötzlich ausbleibt? Wenn er nichts vorzuzeigen hat, was öffentlichkeitswirksam ist? Wenn er trotz aller Arbeit nicht bekommt, was nach seinen Vorstellungen sein vermeintlich gutes Recht wäre?
Demut und Ehrfurcht vor dem Herrn führen zu Reichtum, Ehre und Leben (Sprüche 22,4), verspricht der Schreiber der Weisheitsbücher. Das Verlangen, Menschen Gutes zu tun, ist ein wesentlicher Charakterzug Gottes. Auf ein üppiges Entgelt für ein Leben als Christ darf der Diener Gottes mit Recht hoffen. Überall in der Bibel werden die Segnungen und die »Wohltaten des Herrn« lautstark verkündigt (Psalm 118 und 138; 2. Mose 15,1). Alltagsfreuden wie der Tau auf dem Gras, ein schöner Sonnenuntergang, das Brot auf dem Tisch, Geld, um die Rechnung für die Heizung zu bezahlen. Oder besondere Segnungen wie eine Gehaltserhöhung, eine Hochzeit, ein Baby, eine neue Wohnung. Keine Freude, auch in unserem Leben, ist zu unbedeutend, um überschwänglich gefeiert zu werden. Allerdings nicht eins zu eins als Vergütung für erbrachte Leistungen.
Auch von Tagen, an denen Gottes Güte weder spürbar noch sichtbar ist, berichten unzählige Passagen in der Bibel. Sie sind dem Gebrüll der Verzweifelten, dem Stöhnen der Verzagten, dem Wehklagen der Trauernden gewidmet. Einen ergebnisorientierten Glauben, der lückenlos funktioniert, bietet die Bibel nicht. Corrie ten Boom schrieb einmal:
Oft habe ich Leute sagen hören: »Schaut doch, wie gut Gott ist: Wir haben um schönes Wetter für unseren Gemeindeausflug gebetet, und nun seht, welch wundervollen Sonnenschein er uns geschenkt hat!« Ja, Gott ist gut, wenn er uns schönes Wetter schickt. Aber Gott war auch gut, als er zuließ, dass meine Schwester Betsie vor meinen Augen in einem deutschen Konzentrationslager verhungerte. Ich erinnere mich an eine Situation dort, in der ich sehr entmutigt war. Alles um uns herum schien in Finsternis getaucht zu sein. Und dunkel war es auch in meinem Herzen. Ich erwähnte Betsie gegenüber, es schiene mir, als ob Gott uns vergessen hätte. »Nein, Corrie«, sagte Betsie, »das hat er ganz bestimmt nicht! Denk an sein Wort: ›Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist seine Huld über denen, die ihn fürchten‹.«
Psalm...