3. Das Leben
Was ist das Leben1? Diese Frage stellen wir zuerst.
Das Leben ist eine Naturerscheinung, es gehört zur Natur, — darüber besteht zunächst nicht der geringste Zweifel. Wenn dies aber der Fall ist, dann befinden wir uns mit der Frage nach dem Leben auf dem Boden der Naturwissenschaft. Und sie muss uns bei Beantwortung der Frage helfen können.
Ein Blick in die Natur und auf die sie zusammensetzenden Körper und Gestalten zeigt uns sofort, dass wir von diesen zwei große Gruppen unterscheiden müssen: Unbelebte und lebende Naturkörper. Zu jenen gehören Steine, Gesteine, Erde, Wasser, Luft, — zu diesen Pflanzen, Tiere, Menschen. Dem unbefangenen Beobachter erscheint diese Zweiteilung jedenfalls selbstverständlich.
Aber ist sie auch berechtigt und was bedeutet sie?
Man hat vom sog. Monismus2 aus geleugnet, dass man einen solchen Unterschied zwischen Unbelebtem und Lebendem machen muss und behauptet, dass das Lebende nur eine besondere Form des Unbelebten sei. Man ist dabei von dem philosophischen Bestreben ausgegangen, alles Wirkliche auf ein einziges Prinzip zurückzuführen, ein Bestreben, das, so berechtigt es an sich auch sein mag, uns doch nicht so beeinflussen darf, dass wir von ihm aus die Natur mit Voreingenommenheit ansehen. — Wir wollen uns also auf unserem Weg zur Erkenntnis des Lebens und des zeitlichen Endes davon frei halten.
Versuchen wir zunächst das Unbelebte zu zergliedern.
Das Unbelebte besteht aus materiellen Stoffen von verschiedener Art und ist gekennzeichnet durch bestimmte Eigenschaften. Beobachten wir das Verhalten dieser Materie, so sehen wir, dass sie einem ständigen Wechsel unterworfen ist. Ja, wir finden bei genauerem Zusehen, dass alles Geschehen in der Natur im Grunde genommen nichts anderes ist als eine andauernde Veränderung der Materie, dass aber diese Veränderung letztlich auf Wechselwirkung der verschiedenen materiellen Stoffe der Welt beruht.
Das Wasser der Ströme und Meere wird durch Wechselwirkung mit den Temperaturverhältnissen der Luft dampfförmig und erhebt sich als Nebel in die Luft, ballt sich hier in Wolken zusammen und wird durch kalte Luftströmungen fest, fällt als Schnee herab, der auf dem warmen Erdboden schmilzt und wieder zu Wasser wird usw.
Der harte Fels wird bei der Wechselwirkung mit den Faktoren seiner Umgebung (Luft und Wasser) mürbe und chemisch verändert, schließlich zerfällt er zu Ackererde, deren materiellen Stoffe durch den Lebensprozess der Pflanze in diese übergehen, von dieser dann auch vielfach in Tier und Menschen. Wenn deren Körper später verwest, so werden seine Stoffe wiederum zersetzt und gehen wieder über in die Stoffe der Erde.
In derselben Weise könnten wir das Geschehen in der ganzen Welt des materiellen Stoffes zergliedern, überall würden wir Aufeinanderfolgen von solchen Veränderungen und Wechselwirkungen entdecken, Arbeitsleistungen oder Energien, wie wir es naturwissenschaftlich nennen. Ändert sich bei den betreffenden Vorgängen der Stoff selbst, wie z. B. beim Rosten das Eisen in den braunen Rost übergeht, so ist dies eine chemische Arbeitsleistung, ändert sich dagegen nur der Zustand, nicht aber der Stoff selbst, wie z. B. beim Magnetisieren des Eisens, beim Dampfförmigwerden des Wassers usw. so sprechen wir von physikalischen Energien.
Es ist ein sehr bedeutsames Ergebnis der modernen Naturwissenschaft, dass alle Naturerscheinungen an materiellen Stoffen erfolgen und dass alle Änderungen der Stoffe sich auf chemische und physikalische Energien zurückführen lassen.
Es ist für unseren gegenwärtigen Zweck belanglos, dies im einzelnen noch weiter zu verfolgen, äußerst wichtig aber ist noch Folgendes: Energien oder Arbeitsleistungen sind stets messbar.
Soweit es sich um Messbares handelt, sind wir restlos auf dem Gebiet der unbelebten Materie und ihrer Energien und damit im Gebiet der Chemie und Physik.
Und noch eins! Wenn wir die Umwandlungen der Energien und Materie genauer messend verfolgen, dann treffen wir auf ein hochbedeutsames Grundgesetz der unbelebten Natur in der klassischen Physik3, und das lautet:
Bei allen Umwandlungen der materiellen Stoffe in einem geschlossenen System bleibt die Masse der Materie konstant und bleibt die Summe der Energien unverändert.
Verfolgen wir also irgendwelche Änderungen an bestimmten Stoffen, so machen wir die überraschende Entdeckung, dass dabei weder Stoff noch Energie verloren geht, noch neu entsteht. Stoff und Energie sind wohl wandelbar, aber unzerstörbar.
Wenn also z. B. irgendein Stoff verbrennt, so vereinigt er sich infolge chemischer Energie mit dem Sauerstoff der Luft. Genaue Gewichtsmessungen haben ergeben, dass die Gesamtmasse aller bei dem Vorgang beteiligten
Stoffe vorher und nachher dieselbe ist, mögen auch noch so tief gehende Änderungen an ihnen geschehen sein.
Wenn man also den zu verbrennenden Stoff mitsamt dem ihm zur Verfügung stehenden Sauerstoff wägt und dann nach der Verbrennung wieder alle Verbrennungsprodukte wägt, so erhalten wir dieselbe Zahl. Es ist also bei der Verbrennung nichts an Stoff (an Masse verloren) gegangen.
Und so ist es auch in allen anderen Fällen, auch bei physikalischen Vorgängen, z. B. bei der Umsetzung von Bewegung in elektrische Energie und dieser in Licht usw.
Stets also lassen sich diese Energien messen, und daher kann man z. B. auch den elektrischen Strom und das elektrische Licht wie eine Ware verkaufen, was völlig unmöglich wäre, wenn keine Messbarkeit vorläge.
Mit der Messbarkeit der Energien also befinden wir uns wie gesagt im Gebiet der unbelebten Materie.
Gibt es nun noch ein weiteres Kennzeichen dieser Erscheinungen des Stoffes? Die fortgesetzte Beobachtung des Weltgeschehens ergibt allerdings noch ein sehr wichtiges. Es zeigt sich dabei nämlich, dass gleiche Ursachen auch gleiche Wirkungen haben. Wo dieselben Bedingungen zusammentreffen, da ist auch der Erfolg stets derselbe.
Zum Beispiel: Wo auch immer in der Welt der Wasserstoff verbrennt, da entsteht Wasser, wo auch immer eine entsprechende Temperatur auf Wasser einwirkt, wird es fest, bzw. dampfförmig usw. Und es erfolgen auch diese Vorgänge stets nach ganz bestimmten messbaren Verhältnissen. Weil dieselben Erscheinungen auch immer dieselben Wirkungen haben, deshalb macht das Weltgeschehen auf uns den Eindruck der Notwendigkeit, der Gesetzmäßigkeit, und diese Gesetzmäßigkeit ist das weitere unverkennbare Kennzeichen der Erscheinungen auf dem Gebiet der unbelebten Materie.
Wie steht es nun mit dem Lebenden?
Zunächst ist zu sagen, dass auch das Leben stets an Materie gebunden ist. Anders kennen wir es nicht. Und diese Materie hat dieselben chemischen und physikalischen Eigenschaften wie auch in der unbelebten Natur. Freilich ist es doch immerhin ein besonderer materieller Stoff.
Alle Lebewesen setzen sich aus Zellen zusammen, Zellen aber sind Klümpchen von sogenanntem Protoplasma mit einem Zellkern. Chemisch besteht das Protoplasma überwiegend aus Eiweißstoffen. Diese gibt es nun außerhalb der Lebewesen nicht in der Natur. Wo immer wir sie finden, da können wir mit Sicherheit schließen, dass sie von Lebewesen herstammen. Aber diese Eiweißstoffe bestehen doch aus denselben Grundstoffen, welche die Stoffe der unbelebten Welt bilden.
Nun ist aber Protoplasma nicht völlig gleichbedeutend mit Eiweißstoff. Seine Besonderheit ist, dass es organisiert ist, d. h., es hat einen besonderen eigenartigen Bau. Um dies zu verstehen, müssen wir vorher noch auf etwas anderes eingehen.
Ein Wassertropfen kann die verschiedenartigsten Änderungen erfahren, dampfförmig werden, fest werden, ja durch den elektrischen Strom in seine Grundstoffe, Wasserstoff und Sauerstoff, zerlegt werden. Es ist dann doch immer möglich, ihn wieder zurückzubilden, sogar aus den Grundstoffen. Er ist also in gewisser Hinsicht unzerstörbar. Und so ist es auch mit allen anderen unbelebten Naturkörpern.
Demgegenüber ist das Leben eine vorübergehende Erscheinung, und jedes Lebewesen geht ausnahmslos seinem zeitlichen Ende entgegen, und wenn es tot ist, dann ist es nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft unmöglich, es wieder in den lebenden Zustand zurückzurufen. Ein Grenzfall dieser Regel sind die Experimente des amerikanischen Biochemikers Craig Venter, dem es als Erstem gelungen ist, ein Erbgut selbst herzustellen und in eine Zelle einzupflanzen, sodass ein lebensfähiges Bakterium entstanden ist.4
Fig. 3.1: Merkmale eines lebenden Systems. Grafik: Sedlacek
Dennoch ergibt sich die Gewissheit, dass das Leben etwas anderes ist als der tote Zustand. Jeder Todesfall beweist es mit zwingender Sicherheit.
Es ist nun auch so, dass jedes Lebewesen dauernd der Lebensgefahr ausgesetzt ist. Um dem Ende seines zeitlichen...