Ich schweife aber von meinem Vorsatz ab, einige besondere Erfordernisse der Lotsenwissenschaft klarer zu machen, als vielleicht aus den vorhergehenden Artikeln ersichtlich ist. Da ist vor allem eine Fähigkeit, die ein Lotse unaufhörlich pflegen muß, bis er es darin zu absoluter Vollkommenheit gebracht hat: nur die Vollkommenheit genügt. Diese Fähigkeit ist das Gedächtnis. Er darf sich nicht damit begnügen, daß er bloß denkt, ein Ding ist so und so; er muß es wissen, denn das Lotsen ist in hohem Grade eine ›exakte‹ Wissenschaft. Mit welcher Verachtung wurde doch in den alten Zeiten ein Lotse angeschaut, wenn er es je wagte, sich der schwachen Redensart ›Ich denke‹ zu bedienen, statt der kräftigen ›Ich weiß!‹ Man kann sich nicht leicht einen Begriff davon machen, wie schwer es ist, jede geringfügige Einzelheit an einem zwölfhundert Meilen langen Strom und zwar mit unbedingter Genauigkeit zu kennen. Man nehme die längste Straße in New-York z. B., gehe darin auf und ab und studiere geduldig alle ihre Merkmale, bis man jedes Haus, jedes Fenster, jede Thür, jeden Laternenpfahl und jedes große und kleine Zeichen auswendig und so genau kennt, daß man augenblicklich weiß, wo man sich befindet, wenn man mitten in einer tintenschwarzen Nacht in jener Straße niedergesetzt wird: dann wird man einen ungefähren Begriff von dem Umfang und der Genauigkeit der Kenntnis eines Lotsen haben, der den ganzen Mississippistrom in seinem Kopf herumträgt. Und wenn man dann fortfährt, bis man jede Straßenkreuzung, das Aussehen, die Größe und Lage der Trottoirsteine und die wechselnde Tiefe des Kotes an jeder dieser zahllosen Stellen kennt, dann hat man eine Idee von dem, was der Lotse wissen muß, um einen Mississippidampfer vor Unheil zu bewahren. Wenn man dann die Hälfte jener Merkzeichen nimmt, ihre Plätze monatlich ändert und es trotzdem fertig bringt, ihre neue Lage bei dunkler Nacht genau zu wissen und sich auf dem Laufenden zu erhalten bezüglich dieser Änderungen, ohne Irrtümer zu begehen, so wird man verstehen, was der unbeständige Mississippi von dem unvergleichlichen Gedächtnis eines Lotsen fordert.
Ich glaube, das Gedächtnis eines Lotsen ist so ziemlich das Wunderbarste in der Welt. Das alte und neue Testament auswendig wissen und vorwärts und rückwärts fließend hersagen oder irgendwo in der Bibel aufs Geratewohl anfangen und sie nach beiden Richtungen hersagen zu können, ohne je zu stocken oder einen Irrtum zu begehen, ist kein übertrieben großes Maß von Wissen und nichts Wunderbares, verglichen mit dem aufgespeicherten Wissen eines Lotsen vom Mississippi und seiner merkwürdigen Leichtigkeit in der Handhabung desselben. Ich stellte diesen Vergleich nach reiflicher Überlegung an und glaube, damit der Wahrheit keinen Zwang anzuthun. Viele werden das Gleichnis für übertrieben halten, Lotsen aber nicht.
Und wie leicht und gemächlich thut das Gedächtnis des Lotsen seine Arbeit, wie still und mühelos ist seine Methode, wie unbewußt häuft es seine ungeheuren Schätze auf, Stunde für Stunde, Tag für Tag, ohne je ein einziges wertvolles Päckchen davon zu verlieren oder zu verlegen! Nehmen wir ein Beispiel. Der Mann am Lot ruft ›Zweieinhalb Faden! zweieinhalb Faden! zweieinhalb Faden!‹ bis der Ruf so eintönig wird, wie das Ticken einer Uhr; die Unterhaltung geht unterdessen weiter, der Lotse nimmt ebenfalls daran teil und lauscht dem Rufen nur noch unbewußt; nun werde inmitten dieser endlosen Reihe von ›Zweieinhalb Faden‹ ein einziges ›Zweieinviertel Faden!‹ geworfen und dann möge es wieder weitergehen wie zuvor; zwei oder drei Wochen später kann der Lotse ganz genau die Lage des Bootes im Strome in dem Augenblicke, als jener Ruf ›Zweieinviertel Faden!‹ ertönte, beschreiben und einem so viele Marken nach vorn, nach hinten und nach den Seiten angeben, daß man selbst imstande sein würde, das Boot dorthin und in die nämliche Lage zu bringen! Der Ruf ›Zweieinviertel Faden‹ zog seine Gedanken in Wirklichkeit nicht von dem Gespräche ab, aber sein trefflich geschulter Geist vergegenwärtigte sich sogar die Peilungen bildlich, bemerkte die Veränderung in der Tiefe und bewahrte die wichtigen Einzelheiten für künftige Fälle auf, alles wie von selbst und ohne sein Wissen und Wollen. Wenn du, lieber Leser, mit einem Freund spazieren gingest und plaudertest, und ein zweiter Freund an deiner Seite wiederholte fortwährend, ein paar hundertmal den Buchstaben A und würfe einmal – ganz unauffällig – ein R dazwischen, so würdest du nach zwei oder drei Wochen weder sagen, ob überhaupt ein R eingeworfen wurde, noch die Gegenstände beschreiben können, an denen du vorübergingst, als das R geäußert wurde; du würdest aber dazu imstande sein, wenn du dein Gedächtnis durch beharrliche und mühsame Schulung dahin gebracht hättest, diese Art Arbeit mechanisch zu verrichten.
Hat ein Mann von Anfang an ein ziemlich gutes Gedächtnis, so wird dieses durch das Lotsen zu einem wahren Koloß an Leistungsfähigkeit entwickelt werden – aber nur in den Dingen, in welchen es täglich geübt wird. Mit der Zeit muß es soweit kommen, daß der Geist eines solchen Mannes nicht umhin kann, sich die Landmarken und Wassertiefen zu merken, und daß sein Gedächtnis daran festhält mit der Zähigkeit eines Lasters; aber wenn man denselben Mann um Mittag fragen würde, wo er gefrühstückt habe, so wäre zehn gegen eins zu wetten, daß er es nicht mehr weiß. Mit dem menschlichen Gedächtnis kann Erstaunliches vollbracht werden, wenn man es treulich einem besonderen Berufszweig widmet.
Zu der Zeit, als die Löhne auf dem Missouri sehr hoch hinaufgingen, begab sich mein Lehrmeister, Herr Bixby, dorthin und ›lernte‹ mit erstaunlicher Leichtigkeit und Raschheit mehr als tausend Meilen von jenem Strom. Als er jeden Teil des Flusses einmal bei Tag und einmal bei Nacht gesehen hatte, war seine Ausbildung so nahezu vollendet, daß er sich eine ›Tageslicenz‹ löste; nach ein paar weiteren Fahrten löste er sich eine volle Licenz und begann Tag und Nacht zu lotsen – und zwar als Lotse ersten Ranges.
Herr Bixby gab mich für einige Zeit als Steurer einem Lotsen mit, dessen Gedächtnisleistungen mir fortwährend ein Wunder waren. Ich glaube jedoch, das Gedächtnis war ihm angeboren, nicht anerzogen. Erwähnte z. B. jemand einen Namen, so fiel Herr Brown – so hieß er – augenblicklich ein:
"O, ich kannte ihn. Blasser, rotköpfiger Bursche mit einer kleinen Narbe auf der rechten Seite des Halses, wie ein Splitter unterm Fleisch. Er trieb erst seit sechs Monaten Handel im Süden; das war vor dreizehn Jahren. Machte eine Reise mit ihm. Der obere Lauf des Flusses war damals fünf Fuß tief; der ›Henry Blake‹ geriet am unteren Ende der Turminsel mit viereinhalb Fuß Tiefgang fest; der ›George Elliot‹ verlor sein Ruder am Wrack der ›Sonnenblume‹ –"
"Ei, die ›Sonnenblume‹ sank ja erst – –"
"Ich weiß, wann sie sank; es war drei Jahre vorher, am 2. Dezember; Asa Hardy war Kapitän und sein Bruder erster Buchhalter auf ihr; es war auch seine erste Fahrt auf ihr; Tom Jones erzählte mir alles dieses acht Tage später in New-Orleans; er war erster Steuermann auf der ›Sonnenblume‹. Kapitän Hardy trat sich am 6. Juli nächsten Jahres einen Nagel in den Fuß und starb am 15. an der Mundklemme. Sein Bruder John starb zwei Jahre später – 3. März – Rotlauf. Sah nie einen von den Hardys, – fuhren auf dem Alleghany, – aber Leute, die sie gekannt haben, erzählten mir alles. Und sie sagten auch, Kapitän Hardy habe Sommer wie Winter gestrickte Socken getragen; seine erste Frau hieß Johanna Schook, – sie war aus Neu-England, – und seine zweite starb im Irrenhause. Es lag im Blut. Sie stammte aus Lexington in Kentucky und hieß Norton vor ihrer Verheiratung."
Und so arbeitete seine Zunge stundenlang fort. Er konnte absolut nichts vergessen; das war ihm rein unmöglich. Die geringfügigsten Einzelheiten waren noch ebenso deutlich und klar in seinem Gedächtnis, nachdem sie jahrelang darin bewahrt waren, wie die denkwürdigsten Ereignisse. Er hatte nicht bloß ein Lotsengedächtnis; der Umfang desselben war universal. Wenn er von einem unwichtigen Brief sprach, den er vor sieben Jahren empfangen, durfte man sicher sein, daß er den ganzen Inhalt wortgetreu aus dem Gedächtnis hersagen konnte. Und dann war es mehr als wahrscheinlich, daß er – ohne selbst zu bemerken, daß er vom rechten Ziele seines Gesprächs abwich – eine weitschweifige Lebensbeschreibung des Schreibers jenes Briefes einfügte; und man konnte wirklich von Glück sagen, wenn er nicht des Schreibers Verwandte, einen nach dem andern, vornahm und auch ihre Lebensläufe schilderte.
Ein derartiges Gedächtnis ist ein großes Unglück; für ein solches sind alle Vorfälle von derselben Wichtigkeit: sein Besitzer kann einen interessanten Umstand von einem uninteressanten nicht unterscheiden. Im Gespräch kann er nicht umhin, seine Geschichte mit ermüdenden Einzelheiten zu überlasten und sich zu einem unausstehlichen Plagegeist zu machen. Und dann vermag er sich nicht an seinen Gegenstand zu halten: er liest jedes Körnchen der Erinnerung, das er auf seinem Weg sieht, auf und wird so abseits...