1. Kapitel
Von der Christlichen Lebenskunst in codierten Zeiten. Oder: Die Religion der Nummern
Die Namen könnt ihr vergessen. Das ist nur Ballast. Was bedeutet schon ein Name, aber eine Nummer ist immer ernst – und genau. Ihr seid Nummern geworden. Verstanden?
Josef Lánik[1]
Es geht um unsere Seele in diesem Buch. Es geht um unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Orientierung darin, um Wahrheit und Lüge, um Liebe und Hass, um Aufmerksamkeit und Anerkennung, um Mitleid und Empathie, um Macht und Widerstand. Es geht um unsere Spiritualität und um Religion. Es geht um unser Menschsein, wie wir es kannten.
Es ist merkwürdig, dass von den Religionsvertretern Deutschlands, Europas und Amerikas, also der jüdisch-christlichen Kultur westlicher Prägung, noch kein Aufschrei kam. Oder wenigstens eine intellektuelle Kraftanstrengung unternommen wurde, um zu beschreiben und zu begreifen, was die Digitalisierung unserer Welt, ihre totale Durchdringung durch Algorithmen, ihre vermessene Vermessung aller Lebensbereiche, ihre Umwandlung in ein ewiges Vergleichen für unser Zusammenleben bedeutet – für unsere Kommunikation, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, ja das Gelingen unseres Lebens.
Wir Menschen und Christen müssen zeitnah Anstrengungen unternehmen, um zu begreifen, warum unsere Gesellschaften erodieren, woher der Hass kommt und die Wut und die Lust, den Mitmenschen übel nachzureden, sie zu beobachten, zu kommentieren oder sie gar mit „Scheiße-Stürmen“ zu überziehen.
Die sogenannte „Digitalisierung“ und in deren Gefolge die „Mediatisierung“[2] unserer Welt hat so viele Gesichter, wie es Lebensbereiche gibt. Sie ist zu einer Art Skelett unserer Gesellschaft geworden. Es ist kein Zahlungsverkehr mehr denkbar, kein Behördengang, kein Autokauf, keine Finanzverwaltung oder Versicherung und keine Bibliothek, auch keine Kirche – ohne die verarbeiteten persönlichen und unpersönlichen Daten.
Und auch unsere Kommunikation, ob dienstlich oder privat, läuft über digitale Netze. Wir, die wir mit Handy und Laptop unterwegs sind, hinterlassen den ganzen Tag über Spuren, auf denen wir von programmierten Spähern – beauftragt von Geheimdiensten oder digitalen Datenstaubsaugern – verfolgt und vermessen werden können. Denn die codierte Welt will um der Sicherheit willen mein Verhalten analysieren, will wissen, was ich denke und tue und denken und tun werde und wenn möglich vorausplanen, wie ich handeln werde. Die Regierungsorganisationen entschuldigen ihre schier unstillbare Neugierde mit dem Argument der Sicherheit, die Datenverkäufer tun dasselbe um der Rendite willen. Sie scannen und ranken uns, damit wir zielgerichtet und fokussiert Adressaten ihrer Werbung werden.
Denn hinter den Kulissen auf irgendwelchen Datenbanken sorgen Algorithmen dafür, dass wir einen Kredit bekommen oder nicht, eine Wohnung mieten können oder eben nicht, ob wir gesellschaftlich angepasst sind oder eben nicht.
In China hat man in Sachen Digitalisierung die Maske der totalen Überwachung mit dem Ziel der totalen Vereinnahmung fallen lassen. Hier formt sich das Netz zu einem totalitären staatlichen Normierungs- und Anpassungssystem.
Die Bürgerinnen und Bürger sammeln über digitale Verrechnung sogenannte „Sozial-Kredite“ für staatlich angepasstes Wohlverhalten an. Von der Menge der Pluspunkte hängt es ab, ob eine Bürgerin einen bestimmten Job bekommt oder ein Auto, ob er oder sie heiraten oder einen Mietvertrag unterschreiben kann. Die digital benoteten Bürger müssen in ihrem Wohlverhalten gegenüber einem totalitären System mit den anderen wetteifern, um der herrschenden Klasse zu gefallen.
Und es könnte sein, dass dieses chinesische Modell sich am Ende des Kampfs der Bürger und Bürgerinnen um die Transparenz der Datenverwendung durchsetzt. Es verdichten sich die Indizien – jetzt Anfang 2019 –, dass Google, um in China – ein Land, das Google wegen der Zensur vor Jahren verlassen hat – wieder seine Dienste anbieten zu können, nun eine beschränkte Version auf den Markt bringt. Die Sonderausgabe von Google wird, so heißt es, in der Volksrepublik bestimmte Internetseiten und Suchbegriffe sperren, in denen es unter anderem um Menschenrechte, Demokratie, Religion und friedliche Proteste geht.[3]
Dort kann man sehen, was man hier in Europa verhindern muss: die Normierung des Menschen durch den lebenslangen Zwang, in einem Wettbewerb zu stehen, dessen Regeln die Machthaber gemacht haben und nicht das Individuum oder die Gesellschaft.
Der französische Philosoph der Macht, Michel Foucault, hat in diesem Zusammenhang von der „disziplinierenden Macht“ und der „Kontrollmacht“ gesprochen; ein ganzes Volk wird als eine Art Klassenzimmer behandelt einschließlich Benotung und Versetzung. Auch die anderen Dimensionen von Macht, die Foucault nennt, werden in der digitalen Registrierung verwirklicht: Die „Bio-macht“, die Macht über Sexualität, Bewegungsfreiheit und Wohnort, realisiert sich in der digitalen Überwachung des Bewegungsprofils, in den Partnerschaftsbörsen und der automatischen Einordnung der Bürger und ihrer finanziellen Möglichkeiten, bis hin zu den Gesundheitsdaten, die von den Versicherern sehr wahrscheinlich eines Tages regelhaft eingefordert werden.
Die sogenannte „Pastoralmacht“ ergänzt die netzwerkartige Kontrolle über Menschen und Bürgerinnen dadurch, dass die Bürger (siehe auch China) zu der Überzeugung gebracht werden, all diese digitale Kontrolle sei nur zu deren eigenen Sicherheit und grundsätzlich zu seinem und ihrem Besten und zum Besten des Kollektivs.
Foucault hat dieses Phänomen schon vor über 40 Jahren in einer Vorlesung mit dem Titel „Die Verteidigung der Gesellschaft“[4] in Worte gefasst. Er schreibt dort: „Die Macht wird ausgeübt, zirkuliert, bildet Netze.“ (S. 45) Und an anderer Stelle schreibt er: Die Macht entfaltet sich im Medium von „Wissen, Beobachtungsmethoden, Aufzeichnungstechniken, Untersuchungen und Forschungsverfahren und Verifikationsapparaten“ (S. 49). Foucault, dieser französische Philosoph und Soziologe, der lebenslang über die Frage nachdachte, wie in Gesellschaften Macht ausgeübt wird und wann man von der totalen und totalitären Macht sprechen könne, formulierte die Sätze über die Netzwerke der Macht 30 Jahre vor den Gründungen von Facebook und Google. Er verbreitete eine Ahnung von der Macht, in deren Hände sich Menschen gern und freiwillig begeben und die dann ihre unsichtbare und (un)heimliche Arbeit der Anpassung und Normierung beginnt, die auch immer Sanktionen impliziert.[5]
Wer gehört dazu, wer hat die meisten Follower, wer die meisten Freunde und Likes, oder wer ist ausgeschlossen, wenn er oder sie sich nicht in den Netzwerken bewegen? Jaron Lanier, ein Informatiker und Musiker, einer der Vordenker des Internets und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat seine Meinung über die Macht der Netzwerke total geändert. Er, der in den Feuilletons gerne „Tech-Guru“ und Vordenker des Internets genannt wird, beendet heute seine Streitschrift gegen die sozialen Netzwerke, indem er den (pseudo-)religiösen Charakter dieser Technologie entfaltet und von der dieser Technik innewohnenden „Spiritualität“, dem „Glauben“, dem „Himmel“ und der Macht über das menschliche Leben spricht (Kap. S. 177–196). Er zeigt auf, welche ungeheure Deutungshoheit, welch machtvolle Logiken die Wahrnehmungsanordnungen der großen Netzwerke auf unsere Weltanschauung, unser Fühlen und Denken und Erfahren ausüben. Er fordert – immer in der strengen Unterscheidung der Potentiale der neuen Technologie und ihrer derzeitigen politischen Organisation und ökonomischen Weltmachtstellung – eine Reformation dieser Technologie, die er ungeniert mit Luthers Reformation vergleicht.[6]
Und das alles hat natürlich mit Religion zu tun, mit der gewachsenen, der erzählten, gepredigten und erlittenen Religion und ihrem Menschenbild. Denn es geht um meine Originalität und meine Kraft, um meine Liebe und meinen Geist. Es geht um die Würde meiner persönlichen Erfahrungen. Es geht um den Gott, der mich sieht gegen den Algorithmus, der mich durchschaut. Es geht darum, wie ich angesehen werde und wie ich mich in der Folge selbst verstehe.
Es geht um die Wahrnehmung – wie ich wahrnehme und wie ich wahrgenommen werde – und die Deutung meines Lebens. Es geht um die Einordnung meiner Biografie, die wir Christinnen und Christen letztlich bei Gott geborgen wissen.
Nein, liebe Leserin, lieber Leser, es geht in diesem Buch nicht um Technik-Bashing. Es geht auch nicht darum, mit dem erhobenen Zeigefinger kirchlicher Würdenträger den altbekannten Gestus des Mahnens und Warnens einzunehmen. Ich würde diese Zeilen nicht schreiben, wenn ich nicht eine leidenschaftliche Bewunderin dieser federleichten Technologie wäre, die das Potential besitzt, ganze Länder aus dem Elend zu holen und Menschen aller Länder, Geschlechter und Hautfarben miteinander zu verbinden.
Alle Bürger, die Politik und die gesellschaftlichen Institutionen – auch die Kirchen und Gewerkschaften – haben das Internet Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei seinem ersten Siegeszug durch die Büros und Haushalte gefeiert. Es erleichtert und beschleunigt die Kommunikation und weckte damals unter den Christen die Hoffnung auf eine „Protestantisierung“ der christlichen Religion durch eine neue Beteiligungs- und Debattenkultur.
Heute ist unser ganzes Leben – individuell und gesellschaftlich – beinahe völlig abhängig von dieser Technik geworden, die in in den Händen einiger weniger globaler Unternehmen liegt, die ihre Marktmacht...