2.1 eris: Wettstreit und Fortkommen
Auch wenn die Schwerpunkte dieser Untersuchungen im ethisch-politischen Bereich liegen, muss Erwähnung finden, dass der Mythos ein unermüdlicher und auch unverzichtbarer Bezugspunkt in Hesiods Denken ist. Das wird bereits in den ersten Zeilen der Werke und Tage deutlich und durchzieht den gesamten Text wie ein roter Faden. Deshalb sind gelegentliche Querweise zwischen der Theogonie und Werke und Tage in dieser Untersuchung durchaus angebracht, auch in Bezug auf die Grundlegung einer politischen Anthropologie.
Die erste politisch-anthropologische Dimension, die in Werke und Tage angeführt wird, ist der Bereich der eris. Eris steht in der griechischen Mythologie für die Göttin des Streits und ist der Theogonie Hesiods zufolge eine Tochter der finsteren Nacht, der Nyx (Theogonie: 211 – 216). Sie gilt als Verursacher einer Vielzahl (zwischen-)menschlicher Probleme und ist der Grund für eine Reihe von charakterlichen Defiziten des Menschen. Hesiod hält dazu bereits in der Theogonie fest:
»Die schreckliche Eris nun gebar die leidvolle Mühsal, das Vergessen, den Hunger, und tränenbringende Schmerzen, auch Schlachten, Kämpfe, Mord und Totschlag, Zwietracht, Betrug, Rede und Widerrede und, eng miteinander verbunden, Rechtsverletzung und Verderben und den Eid, der irdischen Menschen das größte Leid bringt, wenn einer willentlich falsch schwört« (Theogonie: 227 – 233).
Bemerkenswert ist allerdings, dass Hesiod in Werke und Tage zwei unterschiedliche Formen der eris kennt. Das ist eine andere, erweiterte Ansicht, als er sie noch in der Theogonie zum Ausdruck gebracht hat, wo nur die eine, schlechte Art der eris zum Thema gemacht wird. Hesiod geht auf diese Erweiterung gegenüber der in der Theogonie dargestellten eris selbst ein. Dadurch wird klar, dass die Theogonie vor Werke und Tage entstanden ist:
»Nicht also gab es nur eine Art von Eris, sondern zwei sind es auf Erden. Die eine nun wird loben, wer sie erkennt, die andere verdient Tadel. Sie haben nämlich ganz verschiedenen Sinn, mehrt doch die eine schlimmen Krieg (polemos) und Hader, die verderbliche. Kein Sterblicher liebt sie, sondern nur unter Zwang ehren sie nach dem Willen der Götter die lastende Eris. Die andere aber gebar die dunkle Nacht [Anm.: die Nyx] zuerst, und der hochthronende Kronide, der im Äther wohnt, barg sie in den Erdwurzeln und schuf sie den Menschen zum größerem Segen« (Erga: 12 – 19).
In Werke und Tage wird im Gegensatz zur Theogonie also zwischen einer schlechten und einer guten Form der eris unterschieden, wobei die gute eris zuerst, also vor der schlechten eris, geschaffen, allerdings von Zeus vor dem Menschen versteckt wurde (vgl. Erga: 17 – 19).1 Der Mensch muss sich die gute eris zu eigen machen, sie erarbeiten und sich selbst um sie bemühen. Hesiod spricht in dieser Differenzierung zum einen über Krieg, Konflikt und Rivalität (polemos) als Beispiele für die schlechte eris (vgl. Erga: 14), zum anderen aber auch über eine Form der Konkurrenz der Menschen untereinander von Natur aus, über wirtschaftlichen Wettbewerb im Alltag und über prinzipielle, innergesellschaftliche Konfrontation des Menschen mit seinesgleichen im besten Sinne, als Beispiele für die gute eris. Letztere, so Hesiod, leitet den Menschen zur Produktivität an, zumal niemand gegenüber seinem Mitmenschen ins Hintertreffen geraten will.
»Ist einer auch träg, treibt sie [Anm.: die gute eris] ihn doch ans Werk. Sieht nämlich der Nichtstuer, wie sein reicher Nachbar mit Eifer pflügt, sät und sein Haus wohl bestellt, dann eifert der Nachbar dem Nachbarn nach, der zum Wohlstand eilt. Fördernd ist solcher Wetteifer für die Menschen, und so grollt der Töpfer dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, der Bettler neidet dem Bettler, und der Sänger dem Sänger« (Erga: 20 – 27).2
Die Zweiteilung der eris, die sich als Unterscheidung zwischen Streit, gewalttätigem bzw. kriegerischem Konflikt auf der einen Seite und Konkurrenz bzw. wirtschaftlichem (wie kulturellem oder sportlichem) Wettstreit auf der anderen Seite auf den Punkt bringen lässt, ist Hesiod zufolge ein konstitutives Motiv der menschlichen Natur. Der Mensch kann zwischen diesen beiden Formen prinzipiell wählen, wobei die Werke und Tage deutlich erkennen lassen, dass die schlechte eris den Menschen ins Unglück führt (vgl. Erga: 13 – 15). Sie verursacht blinde Habgier und vermehrt die Streitsucht unter den Menschen, so auch innerhalb der (politischen) Gemeinschaft.
Der Natur des Menschen entspreche – nach Hesiod – jedoch die gute viel mehr als die schlechte eris. Otto Schönberger hat die gute eris Hesiods als eine Art „wirtschaftlichen Konkurrenzkampf“ interpretiert, der seiner Meinung nach als „Grundprinzip menschlichen Lebens“ verstanden werden könne (Schönberger: 2007, 66). Die gute eris schürt und fördert den persönlichen Ehrgeiz des Menschen und verursacht auf diese Weise eine zwischenmenschliche Wettbewerbssituation, die Entwicklung, Fortschritt und Wohlstand innerhalb der Gemeinschaft des Dorfes oder der Gemeinschaft der Polis möglich macht.
Hesiod richtet in diesem Zusammenhang einen Appell an seinen Bruder Perses, mit dem er, dem Text zufolge, einen Streit über das väterliche Erbe führt. An diesen Bruder sind viele Zeilen des Gedichts gerichtet (vgl. z. B. Erga: 35 – 42; vgl. Schönberger: 2007, 102 – 103; Ercolani/Rossi: 2011, 92 – 93). Hesiod ermahnt seinen Bruder, sich nicht der schlechten eris zuzuwenden und sich nicht mehr von dem gemeinsamen väterlichen Erbe zu nehmen bzw. davon zu beanspruchen, als ihm zustehe. Weiters will er ihn dazu auffordern, sich aktiv um die eigene Lebensgestaltung zu bemühen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich dabei nicht von anderen Dingen im Handeln ablenken zu lassen (vgl. Erga: 27 – 30).
Werke und Tage zufolge ist die zwischenmenschliche Konkurrenz, die gute eris, in der Übersetzung Schönbergers der Neid, bei Schirding als Eifern übertragen, offensichtlich ein nicht unwesentliches Charakteristikum des Menschen, das über kurz oder lang freilich auch Auswirkungen auf das Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft hat, wie es u. a. Robert Lamberton festhält: „We see what our neighbor has, and we want to have it, too, with the result that we work hard to compete and in the process ape the lifestyles of those more sucessful than ourselves. This is the thrust of Hesiodic sociology. [...]. The first Strife, competition, glues society together and improves everyone's lot. The other Strife is destructive contentiousness, which has the other opposite effect. At one extreme she is war, at the other, the squabbles of the law court“ (Lamberton: 1988, 112). Auch Lamberton hebt die konträren Ausrichtungen der beiden Formen der eris in Werke und Tage hervor und definiert dabei die unterschiedlichen Spannweiten. Die gute hält die Gemeinschaft zusammen und verbessert das Zusammenleben des Menschen und dadurch auch das Leben jedes Einzelnen. Die schlechte hingegen hat genau das Gegenteil zur Folge, nämlich den Zerfall der Gemeinschaft, wobei die unterschiedlichen Intensitäten dieser Form der eris vom unmittelbaren Krieg über zwischenmenschliche gewalttätige und boshafte Konflikte bis hin zu gerichtlichen Streitigkeiten reichen.
Otfried Höffe übernimmt in seinen Überlegungen über den ‚Wirtschaftsbürger‘ – als Kontrast zu den anderen beiden Seiten des Menschen als ‚Staats-‘ und ‚Weltbürger‘ – unter Berufung auf He-
siods Ausdifferenzierung der eris in Werke und Tage die Unterscheidung zwischen den zwei Formen menschlichen Neides. Neid liege grundsätzlich in der „Sozialnatur des Menschen“, zumal dieser nach Anerkennung strebe und sich aufgrund dessen mit anderen Menschen vergleiche: günstige oder ungünstige Verhältnisse, Erfolge oder Misserfolge, im Besitz oder in Bezug auf unterschiedliche Glücksgüter (vgl. Höffe: 2004, 72). Dieser auch als Schmerz wahrnehmbare (Anfangs-)Neid könne zweifach Fortsetzung finden:
Erstens in der Form eines kreativen bzw. produktiven Neids, der „Anreiz- bzw. Motivationsneid“, der den Menschen dazu ansporne, Unterschiede gegenüber anderen verringern zu wollen, und auf diese Art und Weise zu größeren Leistungen motiviere: „Er hat Züge eines Wettkampfs, kann deshalb auch agonaler oder kompetitiver Wettbewerb heißen. Der kreative Neid gönnt durchaus dem anderen, was er hat, bemüht sich aber, ihm gleichzuziehen,...