3 Eintritt ins Jetzt
Zugleich mit der Dimension der Zeitlosigkeit stellt sich eine andere Art von Wissen ein, durch die der Geist, der jedes Geschöpf und jedes Ding beseelt, nicht getötet wird. Ein Wissen, das die Heiligkeit und das Mysterium des Lebens nicht zerstört, sondern eine tiefe Liebe und Ehrfurcht für alles Seiende in sich birgt. Ein Wissen, von dem der Verstand nichts weiß.
Durchbrich die alte Angewohnheit, den gegenwärtigen Augenblick zu verleugnen und ihm Widerstand zu leisten. Übe dich darin, deine Aufmerksamkeit von Vergangenheit und Zukunft abzuziehen, wenn sie unerheblich sind. Trete so oft wie möglich im Lebensalltag aus der Dimension der Zeit heraus.
Wenn es dir schwer fällt, direkt in das Jetzt einzutreten, beginne damit, dass du die Neigung deines Denkens beobachtest, gewohnheitsmäßig vor dem Jetzt zu fliehen. Du wirst sehen, dass es dir die Zukunft entweder besser als die Gegenwart oder schlechter als sie ausmalt. Wenn die Zukunftsvision besser ist, bist du hoffnungsvoll und hegst angenehme Erwartungen. Ist sie schlechter, macht sie dir Angst. Beides ist eine Illusion.
Durch Selbstbeobachtung kommt automatisch mehr Gegenwärtigkeit in dein Leben. In dem Augenblick, in dem dir bewusst wird, dass du abwesend bist, bist du wieder anwesend. Wann immer du in der Lage bist, deinen Geist zu beobachten, bist du ihm nicht länger verhaftet. Ein anderer Faktor ist ins Spiel gekommen, etwas, das nicht vom Denken herrührt: die beobachtende Präsenz.
Sei präsent als Beobachter deines Geistes – sowohl deiner Gedanken und Emotionen als auch deiner Reaktionen in verschiedenen Situationen. Sei mindestens ebenso interessiert an deinen eigenen Reaktionen wie an der Situation oder Person, die diese Reaktionen auslöst.
Achte auch darauf, wie oft deine Aufmerksamkeit in die Vergangenheit oder Zukunft abschweift. Werte und analysiere nicht, was du beobachtest. Betrachte die Gedanken, fühle die Emotionen, beobachte die Reaktionen. Mach kein persönliches Problem daraus. Du wirst schließlich etwas spüren, das viel stärker ist als alles, was du beobachtest: die stille, betrachtende Präsenz jenseits aller geistigen Inhalte, den stillen Beobachter.
Gesteigerte Präsenz ist erforderlich, wenn bestimmte Umstände stark emotional aufgeladene Reaktionen bei dir auslösen, wenn zum Beispiel dein Selbstbild bedroht ist, wenn dir eine Herausforderung in deinem Leben Angst einflößt, wenn alles »schief geht« oder wenn ein emotionales Problem aus der Vergangenheit hochkommt. In solchen Situationen handelst du oft nur noch »unbewusst«. Du wirst so von deiner Reaktion und deinen Emotionen vereinnahmt, dass du mit ihnen eins wirst. Du agierst sie aus. Du rechtfertigst dich, setzt den anderen ins Unrecht, greifst an, verteidigst dich … nur dass gar nicht du aktiv wirst, sondern dein Reaktionsmuster, dein Denken in seinem gewohnten Überlebensmodus.
Die Identifikation mit dem Verstand bestärkt ihn; die Beobachtung des Verstandes schwächt ihn. Identifikation mit dem Verstand macht mehr aus der Zeit; Beobachtung des Verstandes eröffnet die Dimension der Zeitlosigkeit. Die Energie, die dem Verstand entzogen wird, verwandelt sich in Präsenz. Sobald du fühlen kannst, was es heißt, präsent zu sein, fällt es dir viel leichter, einfach aus der Zeitdimension auszusteigen, wenn du nicht gerade Zeit für praktische Aufgaben brauchst, und tiefer in das Jetzt einzutauchen.
Deine Fähigkeit, Zeit – Vergangenheit und Zukunft – bei Bedarf für praktische Zwecke zu nutzen, leidet nicht darunter. Auch deine Fähigkeit, vom Verstand Gebrauch zu machen, wird nicht dadurch beeinträchtigt. Im Gegenteil, sie verbessert sich dabei noch. Wenn du dann deinen Verstand gebrauchst, ist er geschärft und fokussiert.
Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit eines erleuchteten Menschen steht immer das Jetzt, aber dabei ist er sich am Rande auch noch der Zeit bewusst. Mit anderen Worten: Er hält sich weiterhin an die Uhrzeit, ist jedoch frei von psychischer Zeit.
Von der psychischen Zeit loskommen
Lerne Zeit für die praktischen Aufgaben im Leben zu gebrauchen – wir wollen sie »Uhrzeit« nennen –, aber kehre immer sofort zur Präsenz im gegenwärtigen Augenblick zurück, wenn du deine Aufgaben erfüllt hast. Dann kann sich keine »psychische Zeit« ansammeln, also keine Identifikation mit der Vergangenheit mehr stattfinden, ebenso wie du aufhörst, ständig zwanghaft in die Zukunft zu projizieren.
Wenn du dir ein Ziel setzt und darauf hinarbeitest, benutzt du die Uhrzeit. Du bist dir bewusst, wohin du willst, weißt zugleich den Schritt, den du in diesem Augenblick unternimmst, zu würdigen und widmest ihm die vollste Aufmerksamkeit. Anders ist es bei einer exzessiven Beschäftigung mit dem Ziel, die wahrscheinlich dadurch begründet ist, dass du dort nach Glück, Erfüllung oder Mehrung deines Selbstgefühls suchst. Sie führt zur Geringschätzung des Jetzt, das dabei nur noch als Trittstein in die Zukunft dient und seinen eigenen Wert verliert.
In diesem Fall verwandelt sich Uhrzeit in psychische Zeit. Deine Lebensreise ist kein Abenteuer mehr, sondern nur von dem zwanghaften Bedürfnis geprägt, anzukommen, etwas zu erreichen, es zu schaffen. Dann nimmst du weder die Blumen am Wegesrand mehr wahr noch ihren Duft, weder die Schönheit noch das Wunder des Lebens, das sich ringsum entfaltet, wenn du ganz im Jetzt bist.
Versuchst du ständig, von da, wo du bist, irgendwohin zu kommen? Ist das meiste von dem, was du tust, nur ein Mittel zum Zweck? Ist Erfüllung immer irgendwie unerreichbar oder auf so flüchtige Genüsse wie Sex, Essen, Trinken, Drogen, Spannung und Nervenkitzel beschränkt? Konzentrierst du dich immer darauf, etwas zu werden, zu leisten und zu erreichen, bist du stets auf einen neuen Reiz, ein neues Vergnügen aus? Glaubst du, mehr Erfüllung zu finden, dein Selbstwertgefühl zu heben und deine Psyche zu stärken, je mehr du leistest oder anhäufst? Wartest du auf einen Mann oder eine Frau, die deinem Leben einen Sinn geben könnten?
Im normalen, unerleuchteten Bewusstseinszustand der Identifikation mit den mentalen Funktionen sind die Kraft und die unerschöpflichen kreativen Möglichkeiten, die im Jetzt verborgen liegen, völlig verdeckt durch die psychische Zeit. In diesem Fall fehlt deinem Leben das Pulsierende, die Frische, das Staunenkönnen. Nach einem Drehbuch in deinem Kopf, das dir eine gewisse Identität gibt, zugleich jedoch die Wirklichkeit des Jetzt verdeckt oder verschleiert, werden deine alten Denk-, Emotions-, Verhaltens-, Reaktions- und Wunschmuster in endlosen Wiederholungen ausagiert. Dann kreist dein Denken auf der Flucht vor der unbefriedigenden Gegenwart zwangsläufig um die Zukunft.
Was du als Zukunft ansiehst, ist ein wesentlicher Teil deines jetzigen Bewusstseinszustands. Wenn du im Geiste eine schwere Last aus der Vergangenheit mit dir herumschleppst, wirst du auch weiterhin schwer daran tragen. Durch den Mangel an Gegenwärtigkeit setzt sich die Vergangenheit unaufhörlich fort. Die Zukunft wird durch die Qualität deines Bewusstseins in diesem Augenblick geprägt – und kann natürlich nur als Jetzt erfahren werden.
Wenn aber die Zukunft durch die Qualität deines Bewusstseins in diesem Augenblick bestimmt wird, wodurch wird dann seinerseits die Qualität deines Bewusstseins bestimmt? Durch das Maß deiner Gegenwärtigkeit. Der einzige Ort, an dem eine echte Veränderung stattfinden und sich die Vergangenheit auflösen kann, ist also das Jetzt.
Unter Umständen fällt es dir schwer zu erkennen, dass die Zeit die Ursache deiner Probleme und deines Leidens ist. Du glaubst, sie seien durch bestimmte Lebenssituationen bedingt, und aus konventioneller Sicht stimmt das auch. Aber solange du dich nicht mit der tiefer liegenden geistigen Störung auseinander setzt, die deine Probleme verursacht – dem Anhaften an Vergangenheit und Zukunft und der Verleugnung des Jetzt –, sind die Probleme im Grunde austauschbar.
Wenn alle Probleme oder alle eingebildeten Ursachen deines Unglücks und deiner Leiden heute auf wunderbare Weise von dir genommen würden, du jedoch noch nicht bewusster und gegenwärtiger geworden wärst, würdest du bald wieder von ähnlichen Problemen und Leidensursachen heimgesucht werden, als wäre dir ein Schatten auf die Fersen geheftet. Letzten Endes gibt es nur ein einziges Problem: den an der Zeit hängenden Verstand.
Es gibt keine Erlösung in der Zeit. Die Zukunft macht dich nicht frei.
Gegenwärtigkeit ist der Schlüssel zur Freiheit, du kannst also nur jetzt frei sein.
Das Leben unter der Oberfläche
der Lebensumstände finden
Was du dein »Leben« nennst, müsstest du eigentlich als deine »Lebensumstände« bezeichnen. Es ist die psychologische Zeit: Vergangenheit und Zukunft. Gewisse Dinge sind in der Vergangenheit nicht so gelaufen, wie du es dir gewünscht hättest. Du sträubst dich noch immer gegen das, was in der Vergangenheit geschehen ist, und jetzt widersetzt du dich dem, was ist. Hoffnung hält dich in Gang, aber die Hoffnung lenkt dein Augenmerk auf die Zukunft, und diese fortgesetzte Ausrichtung verstärkt unablässig deine Abwehrhaltung gegen das Jetzt und damit zugleich dein Leid.
Vergiss deine Lebensumstände für ein Weilchen und schenke deinem Leben Aufmerksamkeit.
Deine Lebensumstände sind nur in der Zeit existent. Dein Leben spielt sich jetzt ab.
Deine Lebensumstände sind an dein Denken gebunden. Dein Leben ist die Wirklichkeit.
Suche nach der »engen Pforte, die zum Leben führt«. Sie heißt »Jetzt«. Konzentriere dein Leben auf diesen Augenblick. Auch wenn deine Lebensumstände sehr problematisch...