Faszinierende Ferne
Lange galt das Mittelalter als dunkle Durststrecke der Geschichte – heute ist es eine Projektionsfläche abenteuerlicher Phantasien. Wie sah die Alltagswelt zwischen 500 und 1500 wirklich aus?
Von Johannes Saltzwedel
Kühn ragt sie auf über dem Tal, die Burg hoch oben an der Felswand. Seit Jahrhunderten wohnen hier, in den Südalpen zwischen Brixen und Trient, die Herren von Ketten.
In der Gipfelregion »mit dem Sturm und den Wolken«, bei Steinbock und Adler, beginnt das »Reich der Geister«, wo kein Christ sich hintraut. In den riesigen, oft undurchdringlichen Wäldern trifft man auf den »Hirsch, Bären, das Wildschwein«, Wölfe »und vielleicht das Einhorn«; unten am Fluss ringen Burgherren und Bischöfe seit Generationen blutig um den Grundbesitz, den die Bauern mühevoll bewirtschaften.
Steht man im Burghof, wirkt das Gemäuer am Steilhang dann allerdings eher »wie aus Hühnerställen zusammengefügt«. Da liegen »Bauern- und Kriegsgerät, Stallketten und Wagenbäume« durcheinander; die aus dem fernen Portugal ankommende junge Ehefrau findet ihr neues Domizil »über alles Erwarten hässlich«. »Knechtlärm, Pferdegewieher und Balkentragen« dringen durch, weil kaum ein Fenster verglast ist. Klamm und zugig haust man hier; gegen Krankheiten wissen Bader oder Arzt nur wenig Rat. Und Sommer für Sommer zieht der Herr ins Gefecht, nach dem immer gleichen Rhythmus von Gier und Vergeltung: »Tat geschieht, weil andre Tat geschehn ist.« Zwar verschaffen ein Kaplan, ein Schreiber »zum Vorlesen« und eine »lustige Zofe« etwas Unterhaltung; manchmal kommen sogar »reisende Doktoren und Schüler« vorbei. Aber das sind in den Augen des harten Herrn von Ketten »mit scholastischer Tünche überzogene Lümmel«, die es hauptsächlich auf seine Vorräte an Wein und Speisen abgesehen haben.
Ist dieses Bild des späteren Mittelalters, das der Schriftsteller Robert Musil 1923 in seiner Erzählung »Die Portugiesin« gezeichnet hat, realistisch? War das damalige Leben wirklich für die allermeisten Menschen kurz, beschränkt und eintönig, dreckig und brutal, mysteriös und voll ererbter Sorgen? Bot es dennoch zugleich, mit den Worten des großen niederländischen Geschichtserzählers Johan Huizinga, »immer und überall unbegrenzten Raum für glühende Leidenschaftlichkeit und kindliche Phantasie«?
Eine kurze Antwort darauf würde heute kaum ein Historiker wagen. Zu unterschiedlich sind Jahrhunderte und Regionen, Standes-, Familien- und Einzelschicksale, zu viele vage Stimmungswerte müsste man berechnen – ganz abgesehen von dem Problem, nach welchem Maßstab dann das Urteil ergehen könnte. Und was heißt überhaupt »Mittelalter«? Wann fing es an, wie weit soll es reichen?
Benutzt wurde der Begriff schon um das Jahr 1200: Der christliche Endzeitdenker Joachim von Fiore verkündete, die göttliche Heilsgeschichte laufe in drei großen Stadien ab, die er nach Vater, Sohn und Heiligem Geist benannte. Noch befinde sich die Welt in der »media aetas«, der mittleren Periode des Gottessohnes. Dann aber werde – nach Überwindung einer ersten Antichrist-Gestalt – die erleuchtete Harmonie des dritten Zeitalters folgen. Erst hinterher dräue Christi Wiederkunft mit dem finalen Weltgericht.
Spätere Chronisten blieben von derlei Spekulationen unbeeindruckt. Die Idee vom Mittelalter kam erst wieder auf, als Humanisten des 15. Jahrhunderts ziemlich verächtlich »mittlere Zeit« nannten, was die nun verehrte, vorbildhafte Antike von der Neuzeit trennte. Seit der hallische Geschichtsprofessor Christoph Cellarius 1688 in einem Handbuch die Jahrhunderte zwischen Kaiser Konstantin dem Großen (gestorben 337) und der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 als »Mittelalter« bezeichnete, wurde das Wort geläufig. Heute ist damit in der Regel die Zeit zwischen 500 und 1500 gemeint.
Wer sich vom Alltag innerhalb dieses Jahrtausends auch nur annähernd eine Vorstellung machen will, kann mit der Überlegung anfangen, auf welche Errungenschaften und Selbstverständlichkeiten jemand zu verzichten hätte, der als Zeitreisender ins Mittelalter aufbräche. Rasch wird dann klar, wie enorm sich die damalige Lebensweise vom heutigen hochtechnisierten, informationsgesteuerten und medial wie maschinell bis an die Grenzen des Machbaren beschleunigten Dasein unterscheidet.
Da weder Elektrizität noch Verbrennungsmotoren existierten, waren die wenigen technischen Geräte, die es gab – Mühlen zum Beispiel –, auf Naturkräfte wie Wasser und Wind oder die Muskeln von Tier und Mensch angewiesen. Handarbeit beherrschte das Leben; über die tägliche Schufterei hinaus noch Sport zu treiben wäre niemandem eingefallen. Da nur die wenigsten Wege zu Straßen ausgebaut oder gar gepflastert waren, konnten selbst kürzere Transporte und Reisen zum Abenteuer werden.
Behausungen aus Stein besaßen außer Gott selbst allenfalls Adlige und Herrscher; gewöhnliche Menschen lebten in Unterkünften aus Holz und Lehm, die fast nie mehr als ein Stockwerk hatten. Heizung und Kochfeuer waren häufig identisch. Wasser strömte nicht sauber und wohltemperiert aus dem Hahn, sondern musste im günstigen Fall vom Brunnen geholt, anderswo aus Flüssen und Teichen herbeigeschafft werden. Da abseits alter Römerstädte jegliche Kanalisation fehlte, blieben Fäkalien und Abfälle meist in unhygienischer Riechnähe. Medizinisch wirksame Mittel gegen Krankheiten existierten nur wenige, Quacksalberei dafür umso mehr.
Fensterglas, bekannt erst seit dem 12. Jahrhundert, war reiner Luxus für Kirchen oder Paläste. Die meisten Häuser blieben düstere Rückzugsorte, von Öllampen oder Kerzen schwach erhellt. Entsprechend lebte man weit mehr bei Tageslicht, im Freien und mit der wetterwendischen Natur; Mobiliar gab es spärlich, Stühle fast nur als Thron und Ehrenplatz. Schrauben aus Metall fehlten; selbst Nägel und Draht waren bis ins Spätmittelalter nicht leicht verfügbar. Materialien wie Gummi, Aluminium oder Zement kannte man nicht, von Kunststoffen ganz zu schweigen.
An Speisen waren weder Kartoffeln noch Tomaten, nicht einmal Reis zu haben. Gemüse- und Getreidekost prägte den Alltag. Salz war so kostbar, dass man es hoch besteuerte und mitunter wie ein Zahlungsmittel verwendete. Tabak zum Rauchen: Fehlanzeige. Und Gewürze kannten die meisten nur aus Geschichten von fernen Ländern.
Bildhafte Darstellungen gab es praktisch nur in kirchlicher Umgebung. Gedrucktes fehlte, und die handschriftlich hergestellten Bücher auf Pergament waren extrem teure Raritäten. Aber lesen oder gar schreiben konnten ohnehin nur die wenigsten. Nachrichten, die nicht als Urkunden amtliche Form erlangten, mussten mündlich ihren Weg finden; das ging kaum schneller als mit Eilboten zu Pferd. Da es aber bis zum 13. Jahrhundert allenfalls in Klöstern Uhren gab, waren Zeitpläne etwas Ungefähres. Terminwünsche »über Jahr und Tag« hatten jedenfalls bessere Aussicht auf Erfolg.
Kompassnadeln waren Experten zwar bekannt, wurden aber nur wenig verwendet – Geografie über die nähere Umgebung hinaus diente nach den Worten des Mediävisten Horst Fuhrmann sowieso hauptsächlich der »Aufzeichnung des entfalteten Heilsgeschehens«. Auf Weltkarten erschien zum Beispiel meist Jerusalem als Mittelpunkt der Erdscheibe. Weit wichtiger als Ortskunde waren geistliche Ratschläge, mit Hilfe welcher Gelübde, Fürbitten, Almosen, Pilgerreisen und Stiftungen man nach dem Tod der Gefahr entging, im Fegefeuer oder gar unwiderruflich in der Hölle zu landen.
Schon aus Mangel an Papier fand kein Papierkrieg statt, aber auch weil bis ins Spätmittelalter praktisch keine örtlichen Behörden, Banken, Börsen oder Versicherungen existierten. Ebenso wenig gab es eine Polizei oder Gleichheit vor dem Gesetz im heutigen staatsbürgerlichen Sinne. Schriftlich dokumentiert wurde selbst in Adelskreisen nur das Wichtigste. Von der Wiege bis zum Grab blieb der Mensch fest in Familie, Diensthierarchie oder klerikaler Gemeinschaft eingebunden. Individuelle, private Liebhabereien, für die es Muße brauchte, waren allenfalls Reichen und Mächtigen möglich.
Könnte sich der Zeitreisende dem Denken anpassen, das all diesen herben Bedingungen entsprach, wäre ein Kurzbesuch im Mittelalter vielleicht sogar relativ erträglich. Vom heutigen Lebens- und Bewusstseinsstandard aus betrachtet aber wirkt das Alltagsleben der Epoche ernüchternd, ja beängstigend – in erschreckendem Ausmaß »finster«, wie die seit dem Frühhumanisten Francesco Petrarca verbreitete Formel es behauptet.
Sehr lange konnte sich dieses düstere Image halten. Noch die Aufklärer, allen voran Voltaire, verbreiteten ein denkbar schwarzes Bild von pfäffisch gegängelten, feudal tyrannisierten und materiell wie geistig barbarisch rückständigen Frühzeiten Europas. Aber seit etwa 1750 wendete sich langsam die Stimmung: Das Mittelalter wurde interessant.
Literaturkenner entdeckten die reizvolle Eigenart alter deutscher Dichtung, zum Beispiel des Nibelungenliedes. Der junge Universaldenker Johann Gottfried Herder urteilte 1774, Lehnswesen, Rittertum und Gotik seien Ausdruck des »gesunden nordischen Verstandes«. Es habe damals durchaus »Sprachseligkeit, muntere Schnellkraft, leichte Gefälligkeit und glänzende Anmut« gegeben – die Kreuzzüge seien da bloß ein christliches Missgeschick, »eine tolle Begebenheit, die Europa einige Millionen Menschen kostete«. Trotz solcher Pannen verdiene das Mittelalter Respekt als eigenständiges »Wunder des menschlichen Geistes«.
Dieses Ideal urwüchsiger Volkstümlichkeit wurde nach den Gewaltexzessen der Französischen Revolution noch verstärkt durch die Sehnsucht nach...