»Eine Revolution von oben«
Der Historiker Michael Stürmer erklärt Bismarcks Vorgehen gegen Katholiken und Sozialdemokraten und kritisiert die These vom deutschen Sonderweg als »Plattitüde«.
Das Gespräch führten die Redakteure
Uwe Klußmann und Joachim Mohr.
SPIEGEL: Professor Stürmer, das Deutsche Kaiserreich wurde nach blutigen Kriegen im Jahr 1871 gegründet. Wie reagierten die Bürger damals auf den neuen Staat?
Stürmer: Zunächst einmal sehr gegensätzlich, im Norden zum Beispiel deutlich anders als im Süden. Die Preußen, die eine Vormachtstellung im neuen Reich genossen, waren sehr viel glücklicher als die Süddeutschen. Auch im Westen gab es starke Vorbehalte. Die kann man sogar noch bei Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, finden. Adenauer hat gesagt, es sei ein großes Unglück gewesen, dass man 1815 beim Wiener Kongress den Westen zu Preußen geschlagen hatte in Gestalt der Provinzen Rheinland und Westfalen.
SPIEGEL: Viele Menschen waren 1871 also gar nicht besonders begeistert?
Stürmer: Es gab ja niemals eine Abstimmung. Auch Karl Marx und Friedrich Engels haben die Reichsgründung als Revolution von oben betrachtet – und damit hatten sie recht. Von liberaler Seite wurde Reichsgründer Otto von Bismarck auch als weißer Revolutionär bezeichnet. Und Revolutionen pflegen nicht unter allgemeinem Beifall stattzufinden.
SPIEGEL: Einzelne Herrscher – Könige, Fürsten, Großherzöge, die Senate der Hansestädte – in den insgesamt 25 Bundesstaaten standen dem neuen Nationalstaat ebenfalls kühl gegenüber.
Stürmer: Ja, der bayerische König Ludwig II. konnte nur durch Millionen dazu bewogen werden zuzustimmen. Er hat dann seinem Vetter, dem preußischen König Wilhelm I., die deutsche Kaiserkrone angetragen. Das war eine geheime Aktion Bismarcks.
SPIEGEL: Aber was hielt das Reich dann zusammen?
Stürmer: Der Klebstoff der Einheit waren Kohle und Stahl, um John Maynard Keynes zu zitieren, aber auch das Blut, das im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 vergossen worden war. Denn nicht nur die preußischen, auch die bayerischen, württembergischen und badischen Truppen hatten große Verluste erlitten.
SPIEGEL: Welche Zukunft sah Bismarck 1871 für das neue Kaiserreich voraus?
Stürmer: Er hielt es nicht für stabil, er hat sich immer wieder tief pessimistisch geäußert.
SPIEGEL: Welche Probleme des Kaiserreichs waren denn in seiner Gründung schon angelegt?
Stürmer: Erst einmal war da das gewaltige Übergewicht Preußens gegenüber den anderen Bundesstaaten. Preußen umfasste mehr als drei Fünftel des Gebiets und verfügte über einen fast ebenso großen Anteil der Bevölkerung. Zudem hatte Preußen die Industrie, die Erze und Kohle aus Schlesien sowie Berlin als dynamisches Zentrum und Verkehrsknotenpunkt.
SPIEGEL: Was gefährdete darüber hinaus den Zusammenhalt?
Stürmer: Es herrschte im Reich der religiöse Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken. Bismarck, der geschichtlich in der Welt des 18. Jahrhunderts verwurzelt war, hat diese Rivalität noch als etwas sehr Kraftvolles gesehen, etwas, das ja im 20. Jahrhundert dann weitgehend verschwunden ist. Und er sah die sozialen Fragen! Warum hat Bismarck seit 1883 eine moderne und kostspielige Sozialpolitik eingeführt? Er wollte das Reich stabilisieren, die sozialen Forderungen erfüllen, die er für berechtigt hielt, und damit den Sozialdemokraten, machtpolitisch gesprochen, Schuhe und Strümpfe stehlen.
SPIEGEL: Bereits kurz nach der Reichsgründung ging Bismarck mit Repressalien gegen die katholische Kirche und die mit ihr verbundene Zentrumspartei vor, er entfesselte den sogenannten Kulturkampf. Brauchte das Reich für seinen Zusammenhalt einen inneren Feind?
Stürmer: Schon bei Machiavelli können Sie nachlesen, dass ein gemeinsamer Feind außerordentlich verbindend wirkt.
SPIEGEL: Der Kulturkampf war also, aus Bismarcks Sicht, ein notwendiges Übel?
Stürmer: Den Kulturkampf muss man kritisieren, aber man sollte ihn nicht dämonisieren. Die Säkularisierung Frankreichs etwa vollzog sich während der Französischen Revolution mit Massenmorden; der Kulturkampf im Deutschen Kaiserreich war eine sehr gemäßigte Wiederholung davon. Bismarck wollte die Kirche disziplinieren, ihren Einfluss zurückdrängen. Die herbe Kritik vieler meiner Historikerkollegen kann ich nicht teilen. Keiner von ihnen würde doch gern in einem Land leben, in dem die Kirche etwa über Ehescheidungen bestimmt. Das war aber damals so.
Der emeritierte Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg ist Autor des Standardwerks »Das ruhelose Reich« (Siedler Verlag). In den achtziger Jahren war er Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl; seit 1989 schreibt er für die Tageszeitung »Die Welt«. Stürmer, geboren 1938, lebt in Berlin. |
SPIEGEL: Ab Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bekämpfte Bismarck mit den sogenannten Sozialistengesetzen die Sozialdemokraten. Fürchtete der Reichskanzler eine rote Parlamentsmehrheit?
Stürmer: Angst machen ist immer produktiv in der Politik. Wobei Bismarck nicht wirklich fürchtete, dass es in seiner Lebenszeit zu einer roten Republik kommen könnte. Aber er hat das Bild wiederholt beschworen. Deswegen hat er auch die herrschenden Klassen kritisiert, den Adel wie die Bourgeoisie. Die, die was haben, arbeiten nicht, die Hungrigen aber sind fleißig und werden uns fressen, hat er gewarnt.
SPIEGEL: Was tat er dagegen?
Stürmer: Er war ja ein Deichgraf, und dementsprechend hat er politische Deiche gebaut. Der wichtigste Deich gegen die Linken war die Sozialgesetzgebung, also die Einführung der Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung. Das hat sozialen und nationalen Zusammenhalt geschaffen.
SPIEGEL: Erst einmal ging Bismarck auf harte Konfrontation, er hat Sozialdemokraten verfolgt, Gewerkschafter drangsaliert, ihre Vereine verboten.
Stürmer: Auch die Sozialistengesetze muss man in eine historische Perspektive stellen. Es hat zwei Attentate auf Wilhelm I. gegeben. Und 1871 hatten sich die Sozialdemokraten von der revolutionären Pariser Kommune begeistert gezeigt, allen voran August Bebel, auch »Arbeiterkaiser« genannt. Das empfand Bismarck als einen Angriff.
SPIEGEL: Aber die Sozialdemokraten waren im Reichstag isoliert, für die anderen Parteien nicht koalitionsfähig. Wie sollten sie eine Gefahr darstellen?
Stürmer: Bismarck dachte an die Zukunft und den schlimmsten Fall. Die Sozialdemokraten wussten damals noch nicht, ob sie eine revolutionäre oder reformistische Partei sein wollten, also einen radikalen Umsturz oder schrittweise Reformen anstreben sollten. Dabei wuchsen sie enorm, 1890 bekamen sie bei der Reichstagswahl schon 20 Prozent. Aus Bismarcks Sicht war das ein bedrohlicher politischer Tsunami. Den wollte er stoppen.
SPIEGEL: Der Reichskanzler hat sich immer wieder gegen den Kaiser und die Regierung durchgesetzt, indem er mit einem Staatsstreich gedroht hat, einer Art Militärdiktatur.
Stürmer: Bismarck spielte ab und zu mit der Möglichkeit eines Staatsstreichs. Es hätte bedeutet, die Rechte des Parlaments einzuschränken oder gar aufzuheben. Ob Bismarck wirklich so weit gegangen wäre, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen. Ich glaube das ja. Aber Abschreckung beruht nun einmal vor allem darauf, dass man eine Drohung glaubt.
SPIEGEL: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel aufgekommen: die Eisenbahn, der Telegraf, das Telefon. Damit konnten Ländergrenzen überwunden werden, die Staaten in Europa rückten enger zusammen. Erkannten die damaligen Eliten nicht, dass nur gemeinsame europäische Stabilität für Wohlstand sorgen würde?
Stürmer: Die staatlichen Eliten waren noch nicht in der Lage, in Richtung eines zusammenwachsenden Europas zu denken. Der Gedanke eines politisch geeinten Kontinents, der ja auch heute noch sehr fragil ist, war ihnen fremd. Unternehmer und Banker agierten hingegen bereits grenzüberschreitend. Die verrufenen Kapitalisten waren den politischen Denkern weit voraus.
SPIEGEL: Hat die Verfassung des Kaiserreichs die grundsätzliche Frage, wer der Souverän im Staat sein soll, der Fürst oder das Volk, offengelassen?
Stürmer: Ja, natürlich, das hat sie – und das war sehr klug. Wenn man eine Frage nicht lösen kann, muss man sie offenlassen. Es gibt viele Beispiele aus der Geschichte, bei denen es so war. Schauen Sie, im Viermächteabkommen von Berlin 1971 zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion mitten im Kalten Krieg wird immer nur vom »relevant territory« gesprochen. Die Westmächte und die Sowjetunion verstanden jeweils etwas anderes unter der Bezeichnung. Und allen Beteiligten war das klar. Der Kaiser oder der Reichstag – im Kaiserreich ein stetiger Streitfall.
SPIEGEL: Auch das Verhältnis zwischen Preußen und den anderen Bundesstaaten war...