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Antworten auf die Krankheiten unserer Zeit
Ilios Kotsou, Caroline Lesire, Pierre Rabhi und Matthieu Ricard
Mittlerweile sind die sozioökonomischen und ökologischen Katastrophen, die sich auf diesem Planeten ereignen, kaum mehr überschaubar. Den meisten Menschen machen diese Krisen, denen scheinbar nichts und niemand mehr Einhalt gebieten kann, große Sorgen. Aber was können wir noch tun in einer globalisierten Welt, die anscheinend nur noch dem Diktat der Finanzmärkte und des maximalen Profits folgt? Welche Möglichkeiten haben wir, um Veränderungen anzustoßen und unseren Teil zu einer Kurskorrektur beizutragen?
Natürlich können wir uns engagieren: sozial, humanitär oder politisch. Eine andere Möglichkeit wäre, an uns selbst zu arbeiten, um in dieser schwierigen Welt zu mehr innerer Gelassenheit zu finden.
Wir sind die Welt. Wenn wir uns ändern, ändern wir damit zwangsläufig auch einen Teil der Welt. Er ist sicher nicht groß, aber er ist da, und er ist wichtig.
Meditieren oder engagieren?
Diese beiden Möglichkeiten werden meist als polare Gegensätze betrachtet. Gern zeichnet man vom »Aktivisten«, gleich welcher Couleur, ein überspitztes Bild: der Macher, der, sich selbst entfremdet und ohne Bewusstsein dafür, was auf dem Spiel steht und was sein Tun auslösen kann, zur Sache geht. Dem »Kontemplativen« hingegen hängt der Ruf an, ein egoistischer Zeitgenosse zu sein ohne Bezug zur Welt und seinen Mitmenschen, der sich nur für seinen Bauchnabel interessiert und unfähig ist, im praktischen Leben irgendetwas zuwege zu bringen. Bei genauerer Betrachtung dieser Problematik stellt sich jedoch die Frage, ob man in der Welt tatsächlich etwas nachhaltig beeinflussen kann, ohne dabei selbst auch ein anderer zu werden. Ist unser Eintreten für eine gerechtere Welt, die sich stärker mit unseren Idealen deckt, denn nicht eine günstige Gelegenheit, uns selbst auch ein wenig zu reformieren? Wie können wir also den aktiven und den kontemplativen Part in uns (wieder) zum Leben erwecken und miteinander versöhnen?
»Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas in der äußeren Welt in Ordnung bringen können, wenn wir es nicht zuvor in uns selbst geordnet haben.« Dieser Satz der niederländischen Pädagogin Etty Hillesum, den wir dem Buch als Motto vorangestellt haben, gibt uns eine erste Antwort auf diese Fragen.
Heiter, neugierig und durch und durch modern, wurde sie im Alter von knapp dreißig Jahren nach Auschwitz deportiert. Ihre Tagebücher,1 die mit einer Postkarte, geschrieben an eine Freundin in dem Zug, der sie ihrem düsteren Schicksal entgegentrug, enden, legen Zeugnis ab von ihrer lebendigen und engagierten Spiritualität. Lassen Sie uns, den Spuren dieser großen Gestalt unserer Zeit folgend, die Gründe erforschen, warum wir mit der Veränderung der Welt bei uns selbst beginnen sollten.
Unser erstes Argument gründet sich, ganz pragmatisch betrachtet, darauf, dass wir die Welt sind. Wenn wir uns also ändern, ändern wir damit zwangsläufig auch einen Teil der Welt. Er ist sicher nicht groß, aber er ist da, und er ist wichtig. Außerdem sind wir der Teil der Welt, über den wir die größte Kontrolle haben. Der Astrophysiker Hubert Reeves meint, dass die aktuelle Umweltverschmutzung kein großes Problem ist … sondern sechs Milliarden kleine Probleme. Darauf basierend glauben wir, dass es durchaus möglich ist, sechs Milliarden kleine Lösungen auf den Weg zu bringen, damit es auf dieser Welt gerechter zugeht: Wir haben den Wandel in der Hand.
Während der Achtsamkeitsseminare, die ich gebe (Ilios), erzählen mir die Teilnehmer immer wieder, wie die Arbeit an ihrer Einstellung zu sich selbst sich auf die Beziehungen zu ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt auswirkt. Unlängst meinte ein Firmenchef am Ende eines Kurses mir gegenüber: »Ich kam hierher, weil ich nach Methoden suchte, wie ich andere ändern kann. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass jede Veränderung nur bei uns selbst beginnt.«
Unsere Verantwortung annehmen
»Da jeder Mensch Menschlichkeit in sich trägt, ist er auch im Rahmen seiner Gegebenheiten für die Menschheit verantwortlich«, schreibt der französische Philosoph Edgar Morin.2 Wir haben teil an dieser Welt und tragen daher auch Mitverantwortung für ihre Zukunft. Doch sind wir auch imstande, diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen? Wissenschaftliche Studien, auf welche Christophe André in Kapitel 2 eingeht, deuten darauf hin, dass sich die Menschen unter dem Einfluss von Faktoren wie Geld, Stress, Werbung und so weiter von sich selbst abwenden. Konditioniert und manipuliert, werden wir uns selbst fremd. Wie können wir uns unter diesen Bedingungen die Selbstbestimmung über unser Handeln und unser Konsumverhalten zurückerobern?
Wie können wir verantwortlicher – nicht voller Schuldgefühle, sondern geschickter – agieren, um auf die bestmögliche Weise auf unsere momentane Situation zu reagieren?
In dem Sommer, bevor ich (Caroline) zu studieren anfing, fuhr ich nach Brasilien zu einer Begegnung mit den Straßenkindern von Recife. Als ich dann in einer der Sozialstationen, die sich um sie kümmern, eintraf, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Vor mir standen Mädchen, die bestenfalls gerade mal so alt wie ich, oder sogar jünger, waren, bereits ein oder mehrere Kinder hatten und nicht selten vom Leben schon deutlich gezeichnet waren. Ich kam mir so ohnmächtig vor, so hilflos, und ich fühlte mich schuldig, weil ich in meinem kleinen behaglichen Winkel lebte, während sie nicht das Geringste besaßen. Doch Didier und Christine von der Organisation, die uns begleitete, sagten: »Schau dir an, wie sie sich freuen, nur weil sie euch treffen und mit euch reden können. Lass dich nicht von deiner Trauer auffressen, damit hilfst du ihnen nicht. Wenn du weinst, weinst du über dich selbst. Damit nimmst du dir nur deine Kraft. Bewahre die Trauer und die Empörung in deinem Herzen, denn sie werden dir später als Motivation dienen, diesen Mädchen und allen anderen, die deine Hilfe brauchen, zu helfen.« Bei dieser Gelegenheit sagte ich mir, dass ich vielleicht nicht viel tun konnte, dieses Wenige aber dennoch ein entscheidender Beitrag sein könnte, damit sich auf der Welt etwas zum Besseren hin bewegt. Seitdem mache ich mir jede noch so kleine positive Veränderung bewusst. Das hilft mir, vor allem in Momenten, in denen ich mich angesichts all der Ungerechtigkeit auf der Welt total ohnmächtig fühle.
Gandhi sagte: »Seid die Veränderung, die ihr in dieser Welt sehen wollt.« Wenn wir unser Leben nicht ausfüllen, wenn wir diesen Wandel nicht in den Alltag bringen, dann wird die Welt uns verändern und nicht wir die Welt.
Wie können wir mit unserer Traurigkeit umgehen, ohne dass sie uns in den Würgegriff nimmt? Wie können wir unsere Angst, unsere Empörung in sinnvolles Handeln übersetzen, das am Lauf der Dinge auch etwas verändern kann? Empört zu sein ist in der Tat ein wichtiger erster Schritt, doch der entscheidende Punkt ist, dass wir diese Empörung zum Motor eines Handelns machen, das auf die Verwirklichung eines konstruktiven Gegenentwurfs zielt und sich nicht in Kritik am Status quo erschöpft. Stéphane Hessel, berühmter Kämpfer für die Menschenrechte, ehemaliges Résistance-Mitglied und Autor von Empört euch!, betonte, nachdem sein Essay erschienen war, wie wichtig es sei, sich nicht nur zu empören, sondern sich über die Empörung hinaus bewusst zu machen, dass wir an den Umständen mitwirken, ja, dass wir Widerstand leisten müssen, um etwas schaffen zu können, und schaffen, um weiter und ohne Unterlass Widerstand zu leisten.3
Je größer unsere Empörung ist, desto größer muss auch unsere Achtsamkeit sein, damit unser Tun mit unseren Idealen übereinstimmt. Denn sind wir nicht mehr eins mit uns, haben wir die Verbindung zu uns selbst verloren, dann besteht die Gefahr, dass wir auch die Bindung an unsere Wertmaßstäbe verlieren. Entfremdung heißt, dass wir uns »fremd« werden, dass wir für uns selbst »der Andere« sind. Der Begriff beschreibt einen Prozess, bei dem der Einzelne seiner Selbstbestimmung beraubt wird, der freien Verfügung über seine Anlagen und Gaben (durch soziale Prägung, Werbung und gezielte Falschinformation).
Das, wogegen wir ankämpfen, wirkt auf uns zurück und kann am Ende uns und unser Handeln beherrschen. Dann laufen wir Gefahr, im Kampf gegen Ungerechtigkeit ungerecht, gewalttätig im Namen des Friedens und unmenschlich im Namen der Menschenrechte zu werden. Die Geschichte liefert uns unzählige Beispiele, wie jene, die sich im Namen hehrer Ideale erhoben, einmal an der Macht, sich nicht minder schlimm aufführten als jene, die sie bekämpft hatten. Ist unsere Achtsamkeit stark und unser Inneres friedvoll, so dürfen wir Hoffnung haben, dass aus dieser Haltung auch rechtes und gerechtes Handeln erwächst.
Gandhi sagte: »Seid die Veränderung, die ihr in dieser Welt sehen wollt.« Wenn wir unser Leben nicht ausfüllen, wenn wir diesen Wandel nicht in den Alltag bringen, dann wird die Welt uns verändern und nicht wir die Welt.
Eine Sufigeschichte
Mit zwanzig war mein einziges Gebet: »Mein Gott, hilf mir, diese Welt zu verändern, diese schreckliche, unerträgliche Welt, erfüllt von Grausamkeit und Unrecht.« Und ich kämpfte wie ein Löwe.
Bald ging ich auf die dreißig zu, und es hatte sich nicht viel verändert. Als ich vierzig wurde, war mein einziges Gebet: »Mein Gott, hilf mir, meine Frau, meine Kinder und meine Familie zu ändern.« Und wie ein Löwe...