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Gekocht und doch lebendig
Jeden Morgen, wenn ich mein Frühstücksei aufschlage, denke ich daran, was dieses Ei hinter sich hat: 6 min lang tanzte es in kochendem Wasser. Da ist es kein Wunder, dass aus dem Eiklar festes Eiweiß geworden ist und aus dem Eidotter eine teigige Masse. Und wenn man das gekochte Ei von der Schaumkelle in den Eierbecher überführt, dann brennt es in den Fingerspitzen. Gerade in solchen Momenten kommen wohl jedem Zweifel, ob denn in kochendem Wasser überhaupt etwas wachsen und gedeihen kann.
Ein Überleben von Dauerformen bestimmter Mikroorganismen in kochendem Wasser ist schon seit Langem bekannt. Sporen, korrekter Endosporen, werden diese Dauerformen genannt, die bestimmte Bakterienarten bilden, wenn ihnen die Nährstoffe für die Vermehrung ausgehen. Sie entstehen intrazellulär (deshalb Endosporen) und sind im Mikroskop durch ihre starke Lichtbrechung zu erkennen. Wie Leuchtkugeln strahlen sie, umgeben von dem tristen Grau der Bakterienzellen (Abb. 1.1). Diese Sporen sind äußerst robust. Jahrzehnte können sie im trockenen Boden überdauern, und man kann sie mehrere Minuten, manche sogar Stunden kochen, ohne dass sie ihre Lebensfähigkeit verlieren. Geraten sie anschließend unter Wachstumsbedingungen – also es ist feucht, Nährstoffe sind vorhanden, die Temperatur ist im physiologischen Bereich, etwa zwischen 25 und 37 °C – dann passiert ein kleines Wunder. Der Fachmann sagt, die Sporen keimen aus. Sie nehmen Wasser auf, die starke Lichtbrechung verschwindet und aus der Spore entwickelt sich eine Bakterienzelle, die wächst und sich vermehrt.
Nicht alle Bakterienarten sind in der Lage, Sporen zu bilden. Besonders bekannt sind zwei Gruppen von Sporenbildnern, die Bacillus-Arten und die Clostridium-Arten. Viele Bacillus-Arten sind völlig harmlos. Manche sind auch nützlich, wie Bacillus subtilis oder B. licheniformis, die wichtige Produzenten von Enzymen sind, die in Waschmitteln für den Abbau von Eiweißresten in der Wäsche sorgen. Ausgesprochen gefährlich ist Bacillus anthracis, der Erreger des Milzbrands. Dieser ist auch historisch interessant, weil an ihm Robert Koch erstmals den Zusammenhang zwischen einer Infektion und einer Erkrankung herstellte. Was er nachwies war, dass B. anthracis, den er aus einem kranken Tier isoliert hatte, bei einem gesunden Tier Milzbrand hervorrief und in diesem dann B. anthracis vorhanden war. Das war 1876. Wegen der Sporen eignet sich B. anthracis leider auch zur biologischen Kriegsführung. Die Sporen lassen sich in Form von Aerosolen verbreiten. Werden diese inhaliert, so kann es zum Ausbruch des besonders gefährlichen Lungenmilzbrands kommen. Es entsteht ein Krankheitsbild mit hohem Fieber, Schüttelfrost und letztlich Lungen- und Kreislaufversagen. Nur im frühen Stadium lässt sich Lungenmilzbrand mit Penicillin oder mit anderen Antibiotika erfolgreich behandeln. Aber auch in Pulverform können Sporen von B. anthracis den Tod bringen.
Abb. 1.1 Sporentragende Bakterienzellen. Zu sehen sind Zellen einer Sporomusa-Art. Die Gattung Sporomusa wurde 1984 von Hans Hippe, dem Autor und ihrem Team beschrieben (Aufnahme: Hans Hippe, Göttingen).
Unmittelbar nach dem 11. September 2001 wurden fünf Briefe mit einem weißen Pulver versandt, das, wie sich später herausstellte, Sporen des Milzbranderregers Bacillus anthracis enthielt. Adressaten waren unter anderem die Senatoren Tom Daschle und Patrick Leahy. 18 Personen infizierten sich, fünf Todesopfer waren zu beklagen.
Wie lang andauernd gefährlich Milzbrand ist, wurde auf makabre Weise auch durch die gezielte Verseuchung der schottischen Insel Gruinard im Jahr 1942 dokumentiert. Sporen wurden dort großflächig versprüht, und noch nach 20 Jahren verstarben auf der Insel ausgesetzte Schafe binnen kurzem. Nach 48 Jahren musste die ganze Inseloberfläche chemisch sterilisiert werden, bevor sie wieder zugänglich gemacht werden konnte.
Die enorme Hitzebeständigkeit der Sporen beeinflusst unser Leben bis in den Alltag hinein, beispielsweise beim sogenannten Einwecken. Hierbei erhitzt man Früchte bzw. Gemüse in Gläsern für etwa 90 min in einem kochenden Wasserbad. Nur so ist gewährleistet, dass die Sporen wirklich abgetötet werden. Lösungen, gerade für den medizinischen Bereich oder für die Mikrobiologie, werden im Dampfdrucktopf, im sogenannten Autoklaven, sterilisiert. Dort sind sie für Zeiträume von 20 min bis zu 1 h einer Temperatur von etwa 120 °C ausgesetzt. Durch dieses sogenannte Autoklavieren ist sichergestellt, dass alle Sporen, die in den Flüssigkeiten möglicherweise enthalten waren, wirklich abgetötet sind.
Die zweite große Gruppe von Sporenbildnern ist – wie erwähnt – die der Clostridien. Sie leben im anaeroben Milieu, also dort wo Sauerstoff überhaupt nicht oder nur in geringer Konzentration zugegen ist. Viele Leser haben von Clostridium difficile gehört. Der breitet sich im Darm aus, wenn die gesunde Mikroflora, etwa durch Antibiotikabehandlungen, stark dezimiert ist. Und er macht uns dann mit seinen Toxinen zu schaffen. Noch viel gefährlicher sind aber Clostridium botulinum und Clostridium tetani, die äußerst potente Toxine produzieren können. C. tetani lebt im Boden. Er wächst in Kadavern, oder er erlegt Getier im Boden mithilfe seines Toxins und verschafft sich so Nahrung. In Zeiten der Not setzt bei C. tetani der Prozess der Sporenbildung ein, und diese fertigen Sporen überdauern lange Zeiträume, mit Sicherheit mehrere Jahrzehnte. Sie liegen einfach herum, aber sie bleiben gefährlich. Wehe, wenn sporenverseuchter Boden in eine Schürfwunde gelangt. In den Wundsekreten ist wenig Sauerstoff zugegen, Nährstoffe sind reichlich vorhanden. Das alles sind Signale, die die Sporen zum bereits beschriebenen Auskeimen bringen. Clostridium tetani vermehrt sich und bildet Kolonien, die aus Millionen von Zellen bestehen. Sobald die Zellvermehrung – aus welchen Gründen auch immer – stoppt, holt C. tetani seine furchtbare Waffe hervor, das Tetanustoxin. Bei diesem Gift handelt es sich um ein Neurotoxin, es ist nach dem Botulinumtoxin die zweitgiftigste Substanz, die bekannt ist. Die letale Dosis liegt bei etwa 1 ng/kg Körpergewicht. Glücklicherweise gibt es seit 70 Jahren einen hochwirksamen Impfstoff, das Tetanustoxoid, welches durch Behandlung von Tetanustoxin mit Formaldehyd gewonnen wird. Der Impfschutz reicht übrigens für einen Zeitraum von sechs bis zehn Jahren, und die Impfung sollte daher in etwa diesem zeitlichen Abstand wiederholt werden. Dank der Wirksamkeit dieser Impfung tritt Wundstarrkrampf in industrialisierten Ländern nur sporadisch auf. Weltweit ist der Wundstarrkrampf aber immer noch eine große Bedrohung; 400 000 Fälle pro Jahr treten auf, viele davon bei Neugeborenen von nicht geimpften Müttern, die häufig über die Nabelschnur infiziert werden.
Abb. 1.2 Gemälde eines an Wundstarrkrampf erkrankten Mannes (Charles Bell, Royal College of Surgeons in Edinburgh, mit freundlicher Genehmigung).
Das Tetanustoxin ist übrigens ein Enzym, das eine bestimmte Bindung in einem Protein, dem sogenannten VAMP-Protein, spaltet und dadurch die Reizübertragung im Nervensystem zerstört. Dadurch kommt es zu einer kontinuierlichen Muskelkontraktion, eben dem Wundstarrkrampf, der im Kiefer- und Nackenbereich beginnt (Abb. 1.2). Man kann sich an dieser Stelle fragen, weshalb ein Toxin, gebildet von winzigen Bakterien, die im Boden leben, nun ausgerechnet uns angreift und, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, tötet. Dieses Toxin haben die Clostridien wohl in erster Linie zur Verfügung, um kleines Getier im Boden abzutöten und sich so Nährstoffe zu sichern. Man kann es als eine Panne der Evolution ansehen, dass dieses Toxin auch uns angreift und unter Umständen tötet. Also, ob Maus, Maulwurf oder Mensch, alle fallen dem Tetanustoxin zum Opfer.
Endosporen sind schon faszinierende Gebilde. Auf kleinstem Raum sind Proteine, Nukleinsäuren, Stoffwechselprodukte und Vitamine zusammengepfercht. Alles ist mit dem Calciumsalz einer Säure, der sogenannten Dipicolinsäure, verklebt und hält dann wie beschrieben Temperaturen bis zu 100 °C über einen bestimmten Zeitraum aus.
Natürlich, leben und sich vermehren in kochendem Wasser ist noch etwas anderes, und die Mikrobiologen brauchten eine gewisse Zeit, bis sie sich an Untersuchungen im Hochtemperaturbereich heranwagten. Einer der Pioniere war Thomas Brock. Er interessierte sich für die heißen Tümpel im Yellowstone-Nationalpark und isolierte 1969 ein Bakterium, das bei 70 °C wachsen konnte. Es erhielt den Namen Thermus aquaticus. Jeder Molekularbiologe kennt das Enzym Taq-Polymerase; es stammt aus Th. aquaticus und ist unentbehrlich für die sogenannte PCR-Technik. Diese Technik wird in Kapitel 15 beschrieben.
Mit 70 °C sind wir noch 30 °C von kochendem Wasser entfernt. Thomas Brock machte jedoch einen weiteren Schritt. Er isolierte einen weiteren Organismus, Sulfolobus acidocaldarius, der noch bei 80 °C wächst. Jetzt war das wissenschaftliche Interesse an Mikroorganismen aus heißen Quellen geweckt. Die Solfatara in der Nähe von Neapel, die heißen Quellen auf Island und Kamtschatka und andere heiße Flecken auf unserer Erde wurden zu Wallfahrtsorten der Mikrobenjäger. Zu ihnen gehörten auch die deutschen Mikrobiologen Wolfram Zillig (1925 bis 2005) und Karl Otto Stetter. Sie isolierten zahlreiche Mikroorganismen, die zwischen 65 und 97 °C wachsen konnten. Immer noch nicht waren 100 °C erreicht. Stetter...