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Bin ich wirklich glücklich?
Wie eine weiße Leinwand liegt dein Leben vor dir. Wartend. Dein Leben wartet auf dich. Was möchtest du einbringen? Was soll hier entstehen? Es wird jeder Bewegung folgen, sich öffnen oder zurückziehen, hoch aufsteigen oder in die Tiefe sinken. Malst du trockene Steppen oder blühende Gärten? Spürst du die Stille, die darauf wartet, dass du endlich beginnst? Wagst du den ersten Strich auf deiner weißen Leinwand, wie einen Weg durch frischen Schnee? Ein Atemzug nach dem anderen – unterwegs in das wartende Land.
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Glück ist mehr als ein vorübergehendes Gefühl.
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Bin ich wirklich glücklich? Nicht viele Menschen wagen es, sich diese Frage zu stellen. Vielleicht liegt es daran, dass wir glauben, es sei egoistisch, sich das zu fragen. Solange es Menschen auf der Erde gibt, die verhungern oder durch Kriege ihr Leben verlieren – dürfen wir da überhaupt nach Glück streben? Ist es nicht angemessener, damit zufrieden zu sein, dass wir einigermaßen gut leben können und es uns – zumindest äußerlich betrachtet – an nichts mangelt?
Ich glaube, dass es heute wichtiger als jemals zuvor ist zu fragen, ob wir glücklich sind. Statt nach Geld, Erfolg und Anerkennung zu streben, tut es uns in der westlichen Welt sehr gut, wenn wir für einen Moment innehalten und wahrnehmen, ob wir wirklich glücklich sind.
Ich war Anfang zwanzig, als ich mir diese Frage zum ersten Mal stellte. Die Frage war wie ein kleiner Stein in meinem Schuh. Sie pikste mich so lange, bis ich endlich auf sie aufmerksam wurde. Bis dahin dachte ich, dass ich die Frage auf jeden Fall mit Ja beantworten kann. Schließlich war gerade mein großer Traum, einen begehrten Studienplatz zu bekommen und Kunst studieren zu können, in Erfüllung gegangen.
Ich war der Kleinstadt entkommen, fühlte mich mächtig erwachsen und genoss das abenteuerliche Leben in der neuen, großen Stadt. Ich hatte neue Freunde gefunden, mit denen ich nachts auf Partys unterwegs war. Eigentlich müsste ich doch glücklich sein, oder? Doch jedes Mal, wenn ich die Frage vorsichtig näher an mich heranließ, wurde mir deutlich, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich zuletzt wirklich glücklich gewesen war. Zwar gab es Momente von Begeisterung und überdrehtem Spaß, aber tiefe, echte Freude oder sogar Glück hatte ich lange nicht mehr empfunden. Wenn ich nach einer durchgemachten Nacht um fünf Uhr morgens durch die verlassenen Straßen lief und mir die Ohren noch immer von der lauten Musik einer Party dröhnten, war ich dann glücklich? Wenn ich oberflächliche Gespräche führte, versuchte, mich gut darzustellen, und mich dabei einsamer fühlte als jemals zuvor, war ich dann glücklich? Wenn ich mich ständig mit anderen verglich und daran arbeitete, mich gegen meine »Konkurrenz« durchzusetzen und den »Preis« zu ergattern, war ich dann glücklich? Wenn ich mein Ziel erreichte und bemerkte, dass ich mich genauso leer fühlte wie vorher, war ich dann glücklich?
Nein, ich war nicht glücklich, stellte ich ernüchtert fest. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, die versucht, eine glückliche Person zu spielen, doch wenn ich allein war und es gerade nichts zu tun gab, fühlte ich mich leer und einsam. Solange ich meinem Traum nachjagte, Bewerbungsmappen vorbereitete oder Aufnahmeprüfungen ablegen musste, hatte ich nicht darauf geachtet, ob ich glücklich bin. Ich war auf meinem Weg, und meine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf mein Ziel. Aber in ruhigen Momenten kam nun immer öfter diese Frage auf: »Bist du wirklich glücklich?« Nein, ich war es nicht! Und diese Tatsache brachte mich plötzlich ins Wanken.
Ich glaube, das geht vielen Menschen so. Unsere Welt scheint sich heute immer schneller zu drehen. Wenn wir ein Ziel erreichen, brechen wir sofort zum nächsten auf. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und es ist sehr leicht, sich im ewigen Streben nach »mehr« zu verlieren.
Ich hatte ein Studium begonnen. Eigentlich sollte ich jetzt das nächste Ziel ansteuern, nämlich den Weg in eine erfolgreiche Karriere als Künstlerin. Doch bevor ich dieser neuen Karotte nachjagen konnte, die vor meiner Nase baumelte, stolperte ich über die Frage, ob ich glücklich bin. Es war diese Frage, die mich dazu brachte, stehen zu bleiben und mein Leben zum ersten Mal wirklich zu betrachten.
Als mir klar wurde, dass ich nicht wirklich glücklich war, fragte ich mich, was Glück denn wohl eigentlich ist. Dass man nicht automatisch glücklich ist, wenn man äußere Ziele erreicht, hatte ich schon bemerkt. Auch die Begegnungen mit meinen Freunden erfüllten mich nicht wirklich mit Glück. Zwar gab es schöne Momente, wir lachten gemeinsam, redeten bis in die Nacht hinein und tranken literweise Kaffee, aber wir alle wussten, dass wir nur einen kleinen Teil von uns selbst preisgaben. Unsere wahren Gedanken, Ängste und Fragen blieben meistens ungesagt.
Glück war das nicht. All das, was bisher so viel Raum in meinem Leben eingenommen hatte, machte mich nicht glücklich. Mein Aussehen, mit dem ich öfter mal haderte, machte mich nicht glücklich. Das Geld, das ich mit meinem Nebenjob verdiente, machte mich nicht glücklich.
Je mehr ich dieser Glücksfrage folgte, desto deutlicher wurde mir, dass es schon sehr lange her war, seitdem ich zum letzten Mal so etwas wie Glück empfunden hatte. Ich fragte mich, ob es in meinem Leben wohl einmal eine Zeit gegeben hatte, in der ich so richtig glücklich gewesen war.
Die Suche nach meinem Glück führte mich zurück in meine Kindheit. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie es sich anfühlte, morgens mit dem Aufgehen der Sonne die ersten Vogelstimmen zu hören. Bei meinen Großeltern im Schwarzwald begann der Tag mit Haferflocken, Milch und dem Rascheln der Zeitung, die mein Großvater am Frühstückstisch las. Danach ging es, einen Joghurt und eine Decke im Gepäck, mit dem Traktor in den Wald. Der uralte Traktor nahm die steile Anhöhe ratternd und schnaufend, und dann schaukelten wir über die engen Wirtschaftswege zwischen dunklen Tannen tief in den Wald hinein. An seinem Holzplatz angekommen, machte sich mein Großvater an die Arbeit. Er sägte, räumte große Äste von umgefallenen Bäumen beiseite und sorgte für Ordnung im Wald.
Während er beschäftigt war, öffnete sich für mich eine ganz eigene Welt. Ich baute mir Hütten aus Tannenzweigen, bastelte Schafe und Kühe aus heruntergefallenen Tannenzapfen und legte mich auf dunkelgrüne Kissen aus Moos. Es gab immer etwas zu tun und zu beobachten. Die normale Welt war vergessen, und die Zeit schien stillzustehen. Wenn es mir doch einmal langweilig wurde, zeigte mir mein Großvater, wie man stundenlang auf einer Decke liegend zum Himmel schauen und die vorüberziehenden Wolken beobachten kann. Ich sah Drachen, Prinzessinnen und hin und wieder auch Engel über den Himmel schweben. Ich hörte dem Wind zu, der die hohen Tannen sanft hin und her wiegte.
Hier oben, weit weg von allem, fühlte ich mich glücklich. Dieses Glück war tief und reich. Es war, als ob meine Seele überströmte vor Zufriedenheit. Ich fühlte mich sicher, geborgen und lebendig. Mein Kinderherz wollte für immer hierbleiben, im Wald, doch schon bald waren meine Ferien zu Ende, und ich saß wieder im Zug, der mich von diesen kostbaren Augenblicken voller Glück entfernte.
Als ich jetzt, viele Jahre später, auf diese Momente meiner Kindheit zurückblickte, bemerkte ich staunend, dass ich seitdem nie wieder wirklich glücklich gewesen war. Das Glück war mir auf dem Weg zum Erwachsenwerden irgendwie abhandengekommen. Zwar blitzte es hier und dort in kurzen Momenten hervor, doch tiefes, wirkliches Glück hatte ich nicht mehr erlebt.
Mein zynischer Verstand redete mir natürlich sofort ein, dass es ein naiver Wunsch ist, glücklich sein zu wollen. Sei froh, dass du ein Dach über dem Kopf hast, und sei froh, dass du deinen Studienplatz bekommen hast, sagte die nüchterne Stimme meiner Vernunft. Warum willst du denn glücklich sein? Doch je mehr ich an die wenigen glücklichen Augenblicke meines Lebens zurückdachte, umso mehr wurde mir bewusst, dass ich nur in diesen Momenten wirklich zutiefst lebendig war. Es kam mir so vor, als hätte ich mit den Jahren gelernt, mich dem Leben nicht mehr zu öffnen. Doch genau danach sehnte ich mich. Ich wollte mich endlich wieder lebendig fühlen, durchströmt von Glück. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie ich mein Glück wiederfinden konnte, aber ich war bereit, mich auf die Suche zu begeben.
Bei einem Spaziergang durch einen Stadtpark kam ich einmal an einem riesigen alten Walnussbaum vorbei, der mit weit ausgebreiteten Ästen mitten auf einer Wiese stand. Als ich vor dem Baum stehen blieb, wurde mir bewusst, wie fest verwurzelt er dasteht. Als der Herbstwind unsanft an seinen Zweigen rüttelte, blieb er aufrecht stehen. Unter dem Baum lagen unzählige Walnüsse, die reichen Früchte, die er hervorgebracht hatte. Der Baum strahlte eine solche Harmonie aus, als wäre er ganz eins mit sich selbst. Voll entfaltet, in seiner ganzen Größe und Kraft. »Ich bin genau, wer ich wirklich bin«, schien er mir zu sagen.
Während ich staunend vor diesem Baum stand, wurde mir bewusst, wie weit ich mich in meinem Leben von mir selbst entfernt hatte. Ich hatte keinerlei Wurzeln, kein tiefes Urvertrauen, das mir Halt gab. Ganz im Gegenteil, ich ließ mich oft schon von den kleinsten Herausforderungen aus meinem Gleichgewicht bringen. Statt selbstbewusst dazu zu stehen, wer ich wirklich bin, war ich jemand geworden, der versucht, es anderen recht zu machen, dazuzugehören und sich anzupassen. Ich traute mich nicht, meine wahren Gefühle und Gedanken auszudrücken, sondern hörte lieber, was andere zu sagen haben.
Während ich einige...