1. August 1939, Dienstag
Es ist ein großes Marschieren in diesen Tagen in Deutschland. Dieses Land übt wieder für einen neuen Krieg.
Der Aufbau, Exilzeitung aus New York
1. August 1914 – 1. August 1939
Die Welt spricht wieder vom Krieg – Gibt es Krieg?
Der Angriff, Zeitung der Deutschen Arbeitsfront, Berlin
Überall in Europa freuen sich die Menschen in diesen Tagen über einen prächtigen Sommer – die niederländische Küstenstadt Noordwijk ist leider eine Ausnahme. Katia und Thomas Mann können sich hier für ihr Urlaubswetter nicht begeistern. Der Wind pustet oft so stark, dass geplante Spaziergänge am Strand ausfallen müssen. Seit dem 16. Juni sind beide in dem bekannten Seebad zu Gast. Katia Mann hat hier am 24. Juli ihren 56. Geburtstag gefeiert. Auch an diesem Tag, vor einer Woche, war es dunkel, kalt und regnerisch.
Ihr Mann fühlt sich in den Niederlanden nicht wohl. Die Tage sind kühl und verregnet – und die Nächte erst! Eiskalt. Mit drei Wolldecken hüllt der Literat sich ein. Noordwijk ist für sein Reizklima bekannt. Und Thomas Mann leidet schon unter dem politischen Reizklima dieser Tage: Er schläft schlecht, ist von chronischer Müdigkeit geplagt. Und dann sind da auch noch die laute Musik und die lärmenden Gäste, die seinen Mittagsschlaf auf der Terrasse stören. Was für eine Tristesse.
Endlich aber hat sich der Südweststurm etwas abgeschwächt. Die Sonne lässt sich blicken. Katia und ihr Mann, der weltberühmte Schriftsteller, können wieder einmal am Ufer flanieren. Kein Regen, kein Sturm halten sie auf. Der Anblick des rollenden Meeres beeindruckt beide nachhaltig.
Thomas Mann arbeitet viel in diesen Tagen, er bringt seinen Roman »Lotte in Weimar« voran, liest, diktiert. Katia Mann schreibt Briefe, korrespondiert mit ihren sechs Kindern, die über die halbe Welt verteilt sind. Mit ihren drei Söhnen und drei Töchtern kommuniziert sie in einer Sprache, die für Außenstehende kaum zu verstehen ist. Sie denken sich Kosenamen füreinander und die restlichen Familienmitglieder aus. Ironie, Spott und liebevolle Ermahnungen wechseln sich ab. Ihren Mann nennt Katia Mann manchmal ein »rehartiges Gebilde von großer Sänfte«.
Thomas Mann mag der intellektuelle Kopf der Familie sein, der entrückte Zauberer, aber Katia Mann hält alles zusammen. Sie hat für ihre Familie ihr Studium der Mathematik und Physik aufgeben, ordnet sich der Karriere des Ehemannes immer wieder unter, unterstützt ihn, so gut sie kann, sorgt dafür, dass er sich wohlfühlt und schreiben kann. Nun plant sie die Abreise. Bevor sie wieder zurück in die Vereinigten Staaten fahren, wohin sie vor den Nationalsozialisten geflohen sind, wollen sie noch die Schweiz und Schweden besuchen. Vor Sonnabend, so erfährt Katia Mann, sind aber keine Schlafwagenplätze mehr frei. Die Manns bleiben also noch ein paar Tage in Noordwijk und hoffen auf milde, sonnige Stunden.
Nachmittags trinken sie Tee im Café Seinpost und spazieren am Strand zurück zu ihrem Hotel. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um Deutschland, die alte Heimat, die sie ausbürgerte, wo sie als Staatsfeinde gelten. Ihren gesamten Besitz haben die Behörden konfisziert, die Villa in München, zwei Automobile und Bankkonten. Zum Glück hatte Thomas Mann die Hälfte des Nobelpreisgeldes in der Schweiz deponiert. Und Sohn Golo konnte noch 60 000 Mark in Deutschland vor der Beschlagnahmung retten, ein Drittel dessen, was die Eltern in der Schweiz besaßen. Als kritischer Konservativer, der die Nationalsozialisten nicht mochte, war Thomas Mann zum Regimegegner worden. Katia Mann aber gilt laut NS-Rassenideologie als »Halbjüdin«. Die Ereignisse in Deutschland verursachen ihr schieren Ekel. Ihre jüdischen Eltern leben noch in München. Sie fürchten, von der Geheimen Staatspolizei abgeholt zu werden. Doch auch die internationalen Nachrichten bringen Katia um den Schlaf: In China führen die Japaner ein brutales Besatzungsregiment, in Europa bedrohen Deutsche und Italiener fremde Staaten. Vor allem aber Danzig macht Schlagzeilen, die Stadt, um die sich Deutschland und Polen so vehement streiten. Erst gerade hat Thomas Mann in einem Blatt gelesen, dass der »Anschluss« Danzigs ans Reich friedlich vor sich gehen werde. Den Literaturnobelpreisträger überzeugt das nicht: »Der Glaube an den Krieg wieder im Wachsen.«
Auch die Gedanken eines 22-jährigen Politikstudenten der Eliteuniversität Harvard kreisen am 1. August 1939 um Danzig. Gerade erst war er in der Freien Stadt zu Besuch gewesen, hat dort Eindrücke und Material für seine Abschlussarbeit gesammelt, in der er sich mit der Politik der westlichen Demokratien gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland beschäftigt. Danzig, so schreibt er besorgt an einen Freund, könnte der Auslöser für den nächsten Weltkrieg sein. John Fitzgerald Kennedy heißt der junge Mann. Sein Vater Joseph gilt als ein Freund des amerikanischen Präsidenten. Kennedy senior vertritt sein Land als Botschafter in London. Er ist sehr vermögend, einflussreich, hat zahlreiche Kontakte in die Spitzenpolitik und zu Wirtschaftsführern. Am liebsten würde er die Vereinigten Staaten aus allen europäischen Krisen heraushalten. Sein zweitältester Sohn sieht das anders. Und fühlt sich durch die zahlreichen Gespräche, die er in diesen Tagen führt, bestätigt.
John F. Kennedy reist in diesem unruhigen Sommer durch Europa. Er nutzt die Kontakte seines Vaters, den bekannten Namen seiner Familie. Manchmal lebt er mehrere Wochen in den Residenzen von US-Botschaftern. Kennedy erfährt dabei weit mehr über die politische Lage als viele seiner Landsleute – und er weiß auch mehr als die meisten Deutschen.
Die Schlagzeilen der gleichgeschalteten Zeitungen in Berlin, Hamburg, München oder Wien klingen ganz anders als die der freien Presse in London, Paris und Washington. Die deutschen Journalisten berichten von Angriffen auf die deutsche Minderheit in Polen, von Aggressionen aus dem Nachbarland. Ihre Kollegen in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten schreiben über Hitlers Griff nach dem nächsten freien Land, über deutsche Provokationen und Einschüchterungsversuche.
Kennedy gewinnt seine Informationen lieber aus erster Hand. Seine Abschlussarbeit soll nicht nur auf Sekundärquellen beruhen. Sondern eindrücklich belegen, wie die Aufrüstung überall auf Hochtouren läuft und in diesem Sommer noch mal verschärft wird – genau wie der Tonfall zwischen den Regierungen.
Die Bürger Europas hingegen hoffen auf einen Sommer ohne weitere Eskalationen, in dem sie mit Familie und Freunden das gute Wetter genießen können. In Danzig messen die Meteorologen am 1. August den heißesten Tag des Jahres. An den Ostseestränden drängeln sich Tagesausflügler. In diesem Sommer läuft der Tourismus ausgezeichnet. Allein 5538 Badegäste zählt die Seebadanstalt Heubude an einem einzigen Tag. Manche Strände sind so voll, man könnte meinen, die ganze Stadt sucht Erholung von der angespannten Lage.
Keine Zeit für ein Sonnenbad oder gar einen ausgedehnten Urlaub hat hingegen Sir Neville Henderson. Der britische Botschafter in Berlin versucht, den Frieden zu erhalten. Und trotz der martialischen Sprüche manches Politikers bleibt er optimistisch. Er ist ein hagerer Mann, mit Schnauzbart und akkurat gescheiteltem Haar, mit der Haltung eines Aristokraten. An seinem Schreibtisch in der britischen Vertretung verfasst er Berichte an den Außenminister in London. Er rät zu weiteren Verhandlungen mit Hitler. Während viele Journalisten den Krieg herbeischreiben, versucht Henderson die Gemüter in der Heimat zu beruhigen. Die Lage scheint ihm zwar durchaus ernst zu sein, aber noch nicht unmittelbar gefährlich. »Wenn wir ihn richtig behandeln, so glaube ich, dass er allmählich friedlicher wird«, hatte er über Hitler noch im Februar an das Auswärtige Amt in London geschrieben. Aber was heißt »richtig behandeln« in diesen Sommertagen? Die europaweiten Gespräche, die den Frieden erhalten sollen, schleppen sich endlos dahin. Aber noch hat niemand den Krieg erklärt. Immerhin! Und so könnte es doch auch bleiben.
Die britische Botschaft befindet sich im alten Regierungszentrum der Deutschen Reichshauptstadt. Henderson residiert im Palais Strousberg, einem zweistöckigen, palastähnlichen Gebäude, mit vier korinthischen Säulen aus Sandstein vor dem eindrucksvollen Portal. Die Adresse lautet Wilhelmstraße 70–71. Der Reichstag, die Reichskanzlei und viele Ministerien liegen nur wenige Schritte entfernt. Doch Nähe zur Macht bedeutet das für den britischen Botschafter nicht zwangsläufig. Denn in den vergangenen Jahren hat Adolf Hitler in Deutschland neue Herrschaftsformen eingeführt. Wie ein mittelalterlicher Fürst reist er durchs Land, hält sich gern fern der Hauptstadt auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden auf oder in München, seiner selbstgewählten Heimatstadt. Wer etwas von ihm will, muss zum »Führer« kommen.
Henderson hat versucht, Hitler in dieser Krise hinterherzureisen. Vor wenigen Tagen machte er sich nach Bayreuth auf. Er hoffte, Hitler dort bei den Wagner-Festspielen zu treffen. Bei wuchtigen Opernklängen die Spannungen abzubauen, lautete sein Plan, den auch Winifred Wagner unterstützte, die Leiterin der Festspiele. Schließlich heißt es, dass die Musik Wagners den »Führer« geradezu verwandle, ihn ruhig, ausgeglichen, zufrieden mache. Genau...