II Warum wir nicht loslassen können
Im Clearing-Prozess stoßen wir auf die psychologischen Hintergründe, warum wir uns so schwertun mit dem Wegwerfen und Loslassen. Im Folgenden sind mögliche Ursachen der Erstmal-Nichtstun-Taktik aufgeführt. Passivität hat Scheinvorteile. In manchem Punkt werden Sie sich wiedererkennen, andere treffen auf Sie vielleicht weniger zu. Viel Spaß bei den Ausgrabungen!
Gefühle unterdrücken
Chaos-Theorie bleibt nicht lange graue Theorie, sie manifestiert sich als tägliche Erfahrung. Dinge entwickeln ein Eigenleben, begeben sich auf Wanderschaft und wachsen uns über den Kopf mit ihrer Nichtsesshaftigkeit. Anstatt friedlich auf dem Schreibtisch liegen zu bleiben, treckt Papier durchs ganze Haus, dringt vor bis in abgelegenste Winkel, um sich dann an den unmöglichsten Stellen einzunisten. Die Rechnung ist nicht mehr aufzufinden. Nach einer Weile löst sich das Rätsel – sie hatte sich in einem Schuhkarton im Küchenschrank verschanzt. Spielsachen für alle Altersgruppen, Zeitschriften und Bücher vermehren sich über Nacht. Die Tür des Kleiderschranks zum Schließen zu bewegen steht einem Workout im Fitnessstudio in nichts nach. Und wenn man sie glücklich wieder aufgekriegt hat, fällt einem rein gar nichts entgegen, was man gerne anziehen würde.
Mit der Verwaltung unseres Krams beschäftigt, räumen wir uns in einem gemächlichen Tempo durch Tage und Jahre. Wir beschränken uns auf die überschaubaren Fragen: „Wo und wie kann ich meine Siebensachen am besten verstauen?“ Gleichzeitig verhelfen diese Aktiönchen zu einem angenehmen Gefühl der Geschäftigkeit. Rein, raus, runter, rüber. Rein, raus... Nie Stillstand, nie Stille. Wir spielen in unserem Puppenhaus und erkramen uns die Illusion, wichtig und gebraucht zu sein. Die nützlichste Nebenwirkung: Das Umschichten lässt keine Muße, sich mal hinzusetzen und einer eventuellen Leere ins Gesicht zu starren. Den Warums, die unter all den Kisten und Kästen lauern, mit ihren unangenehmen Fragen:„Warum bin ich hier? Was sind meine wirklichen Träume? Wie kann ich mein volles Potential leben?“ Clutter ist eine Schutzmauer, die wir zwischen uns und den großen Themen auftürmen. Ein kunstvoll konstruierter Hindernisparcours, der Eindringlinge auf Distanz hält, die sich nicht mal eben abheften lassen. Wir nehmen den Fuß vom Gaspedal und tauchen ab.
Manchmal liegt die Wurzel einer Sammelleidenschaft weit zurück. Vielleicht haben Vorfahren auf einer Flucht alles verloren. Wandern Sie in Gedanken durch Ihre Vergangenheit. Wann fing das Horten an? Nach einem Todesfall, einer Trennung, Scheidung? Nach einem traumatischen Kindheitserlebnis? Sie kamen eines Tages von der Schule nach Hause und alle Stofftiere, die Lieblingspuppe oder Eisenbahn waren verschwunden. Die Eltern hatten sie einfach weggegeben. Sie wurden übergangen und verletzt. Und seitdem versuchen Sie (vergeblich), die durch diesen Verlust entstandene Lücke wieder zu füllen. Indem Sie grundsätzlich nie mehr etwas loslassen, die Vergangenheit in Keller und Speicher bewahren, aus den Augen, nicht wirklich aus dem Sinn. Irgendwann trauen wir uns dann nicht mehr, die schlafenden Erinnerungen zu wecken. Solange die Kartons unberührt vor sich hindösen, brauchen wir uns nicht auseinanderzusetzen. Clutter ist ein Kokon. Wir schaffen uns einen als stabil empfundenen Schutzpanzer, eine extra Schicht zwischen uns und der Welt da draußen – oder unserer Innenwelt. Wir entschärfen das Leben, halten es in Kisten verpackt in Zaum. Deckel zu, Etikette drauf, alles paletti. Für eine gewisse Zeit hat dieser Schutz seine Berechtigung. Früher oder später zeichnen sich dann allerdings die Nachteile ab. In einem Kokon sieht man nicht besonders weit. Erst wenn wir den Mut aufbringen, unsere Schutzhülle zu sprengen, entpuppen wir uns als der buntschillernde Schmetterling, der wir wirklich sind. Und fliegen freudig taumelnd unseren Träumen entgegen!
Sicherheit vorgaukeln
Vielen Dingen machen wir es viel zu leicht, sich für immer bei uns einzunisten. Sie bestehen die Weggeben-Feuerprobe mit dem meistgehörten aller Sammlerargumente: „Das könnte ich ja vielleicht noch irgendwann einmal gebrauchen.“ Oder falls nicht ich selbst, dann die Kinder. Oder eine Freundin. Vielleicht die Nachbarn? Hinter dieser harmlos klingenden Ausrede verbirgt sich eine Emotion, die lähmt: Angst. Wir selbst haben wahrscheinlich noch nie eine Hungersnot durchlitten, ertappen uns aber trotzdem immer wieder bei einem unterschwelligen ‚Morgen könnte nicht mehr genügend da sein’-Lebensgefühl. Vielleicht haben die Vorfahren einen Krieg miterlebt, eine Flucht oder Wirtschaftsdepression. Armutsmentalität kann sich über Generationen hinweg vererben. Aber wir haben es in der Hand, Angstschwingungen zu transformieren, ein Ins-Leben-Vertrauen bewusst zu kultivieren. Indem wir einen Gegenstand weitergeben, den wir nur aus Sicherheitsgründen im Schrank einkerkern und damit der kollektiven Mentalität des „immer wenn ich etwas weggebe, brauche ich es am nächsten Tag” ein Schnippchen schlagen. Unsere Erwartungshaltung ist wesentlich an der Gestaltung unserer Realität beteiligt. Also sagen wir uns mit dem Schwung der Zuversicht: „Falls ich diesen Reservedosenöffner morgen brauche, findet sich garantiert ein noch besserer.“ Wir benutzen unsere Siebensachen manchmal als security blanket, als eine Art Kuscheldecke. Für ein Kind werden zusammengenähte Stoffteile im Teddy zum Trostspender. Auch wir suchen Halt in vertrauter Symbolik, die uns durch ihre Anwesenheit angeblich beweist, wie viele Freunde wir haben (Geschenke), wie viel wir wissen (Bücher), wie erfolgreich wir sind… Ein paar gutplatzierte Erinnerungsstücke verbreiten freudige Schwingungen, die Menge macht’s. Kinder haben selten 75 Kuscheldecken. Sie beschweren sich nicht damit. Sie ersticken sich nicht darunter. „Je mehr Gegenstände ich um mich türme, desto sicherer bin ich“, ist ein Missverständnis. Sicherheit liegt nie in Dingen. Sie liegt in der Gewissheit, mit allem umgehen zu können, was uns das Leben bringt.
Die Stürme werden kommen. Aber wir steuern unser Boot.
Identität zusammenbasteln
Eines unserer Grundbedürfnisse ist Zugehörigkeitsgefühl. Wir sehnen uns nach Seelenverwandtschaft, nach Gleichgesinnten. Suchen das Aufgehobensein in einem größeren Ganzen, in der Identifikation mit einer Nation, Region, Religion. Als Fan leben wir Individualität und Gruppe gleichzeitig. Feuer und Flamme zu sein für eine Fußballmannschaft, Musikrichtung, Partei oder Glaubensgemeinschaft gibt uns ein emotionales Zuhause. Oma sammelt Teekannen, ein Kollege Vinylplatten, andere begeistern sich für Modellflugzeuge oder Zeichentrickfilme. Alte Opernprogramme und Schulhefte versichern uns: „Das habe ich gemacht, das bin ich.“ Im Endeffekt speichern wir eine Essenz. In der Kunstkollektion leben wir unsere Kreativität aus. Die Filme stehen für den Traum, einmal Schauspieler, Regisseurin, Komiker zu sein. Die Flugzeuge für Geschwindigkeit, Vorwärtskommen, das Erreichen von Zielen, Freiheit... Begeben Sie sich auf Safari in Ihre ganz persönliche Dingewelt. Welche Essenz horten Sie? Wie können Sie sich diesem Bedürfnis annähern, ohne ständig neue Regale aufzustellen? Bücherwände vermitteln uns selbst oder anderen – Unzutreffendes bitte streichen! – „Ich bin: belesen, weitgereist, geistig beweglich, aufgeschlossen, vielseitig interessiert, Querdenker/in, gebildet, spirituell, cool, umweltfreundlich, intelligent, witzig, fantasievoll, individuell, liberal, konservativ, anders, besonders, offen für Neues, kunstinteressiert, Reformer, Revolutionärin, ein guter Vater… Ich habe Tiefgang, den Durchblick, Interesse an persönlicher Entwicklung...“ Was steht als Überschrift auf Ihren Regalen, in unsichtbarer Tinte?
Wir wollen respektiert und geliebt werden und benutzen Dinge, um zu kommunizieren: „So einzigartig bin ich! Bitte mögt mich dafür!“ Dabei wissen wir: Andere schätzen uns nicht wegen unseres Krams. Wenn wir Leute oft zum Lachen bringen, brauchen wir keine siebzehnbändige Witzeedition, um das der Welt zu beweisen. Und wenn wir nicht mit einem Übermaß an Humor gesegnet sind, nützt leider auch der ausgefallenste Fundus nichts. Wir kommunizieren durch unser So-Sein. Was wir sind, überstrahlt alles was wir sagen, horten oder tun.
Beim Thema Status vielleicht mal kurz wegdenken vom Klischee des roten Sportwagens. Statussymbole sind Hilfsmittel, um ein Image zu vermitteln und wir alle haben welche. Sie kommen in den unterschiedlichsten Formen daher. Für die einen sind es Marken, für andere der Protest gegen die Wegwerfgesellschaft: nur Bio- und Gebrauchtwaren, um sich von konsumberauschten, oberflächlichen Verschwendern abzugrenzen. Die große Erleichterung kommt mit der Erkenntnis, dass wir andere nicht nur nicht beeindrucken müssen, es funktioniert sowieso nicht. Wir sind nicht, was wir haben. Wir sind was wir sind. Unsere Geschichte. Ein Puzzle aus...