Vorwort
Ein Buch über Herausforderungen zu schreiben ist eine Herausforderung für sich. Zumindest für mich. Denn eine Herausforderung ist für jeden Menschen etwas anderes. Für die einen beginnt das Wagnis bei einem Bungee-Sprung, für andere stellt schon eine Fahrt mit dem Aufzug eine große Überwindung dar. Ich dagegen habe Schwierigkeiten, mit dem Schreiben dieses Buches zu beginnen. Immer wieder lief ich in den letzten Tagen ziellos durch meine Wohnung und überlegte, ob diese in mir schlummernde Herzensangelegenheit, meinen Herausforderungen ein Buch zu widmen, wirklich eine gute Idee ist. Schließlich sind es meine ganz persönlichen. Sie zeigen, wovor ich mich fürchte, wonach ich mich sehne, was ich mir zutiefst wünsche und woran ich scheitere. Damit in die Öffentlichkeit zu treten ist für mich nicht einfach, denn viele Menschen projizieren eigene Ängste und Meinungen, ja manchmal sogar die gerade vorherrschende Stimmung, auf andere – nicht selten habe ich erlebt, wie hart manche Menschen mit anderen und damit auch gleichzeitig mit sich selbst ins Gericht gehen. Weil es sehr einfach ist zu kritisieren. Viel einfacher, als Unvoreingenommenheit zu trainieren und respektvoll mit den verwundbaren Stellen anderer Menschen umzugehen; spiegeln genau diese doch immer nur unsere eigenen. Ich könnte mir also einfach ein Notizbuch kaufen, es mir gemütlich machen, und einfach mit dem Tagebuchschreiben beginnen. Aber so funktioniert das nicht bei Autoren. In erster Linie schreibe ich, weil ich es liebe. Aber auch, weil ich meine Worte mit anderen Menschen teilen möchte. Durch meine Texte, durch meine Bücher und auch durch meinen Podcast »ÜberFrauen« bekomme ich immer wieder das Feedback, dass Menschen sich mit meinen Gedanken und Gefühlen, mit dem, was ich erlebe, mit dem, wovon ich träume oder wovor ich Angst habe, identifizieren können. Weil uns alle etwas verbindet.
Auch wenn jeder von uns an einem anderen Punkt in seinem Leben steht, ganz unterschiedliche Entscheidungen trifft oder vor ihnen flieht, haben wir doch alle eins gemeinsam: Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, wenn man sich nicht traut, etwas zu tun. Wir kennen das Zögern und das Zaudern und das gute Gefühl, wenn es uns gelungen ist, unsere Ängste zu überwinden. Wir wissen, wie sich diese Emotionen anfühlen. Wie sich das Leben anfühlt. Und deshalb will ich mich nicht nur meinen Herausforderungen stellen, sondern meine Erlebnisse auch teilen.
Ich lief also weiter durch meine Wohnung, jetzt aber mit der in mir wachsenden Überzeugung, dass dieses Buch nicht nur mir, sondern auch anderen helfen konnte, sich ihrem Leben mit allem, was es zu bieten hat, zu stellen. Und trotzdem konnte ich all die bohrenden Fragen, die ich mir selbst stellte, nicht abschütteln und nicht vor den fiesen Stimmen fliehen, die mir zuflüsterten, dass ich genau diese Herausforderung nicht meistern würde.
Ich setzte mich auf die Lehne meines Sofas und betrachtete mein Bücherregal. Ich ließ den Blick über die verschiedenen Buchrücken schweifen, bis er haften blieb. Jetzt! schaute mich an. Ich schaute zurück. Jetzt! von Eckhart Tolle hatte mich vor einigen Jahren erst überfordert, dann gefordert und mir schließlich das Gefühl gegeben, das Leben ein Stück weit mehr verstanden zu haben. Jetzt! lehrt vieles, vor allem jedoch, immer im Moment zu bleiben. Den Schalter im Kopf umzulegen, von früher oder später auf jetzt.
Die Sache ist die: Es gibt immer einen Grund, etwas nicht zu tun. Bloß nichts erleben, bloß nichts riskieren, lieber durch das Serienangebot von Netflix scrollen und anderen dabei zusehen, wie sie ihr Leben leben. Glücklich macht mich das auf lange Sicht nicht, denn mich unterhalten zu lassen ist ein Hobby und dadurch nur ein Teil meines Lebens. Aber nicht mein Leben selbst. Dabei habe ich doch das unfassbare Glück, selbst ein Wunder zu sein, aus dem einzigen Grund, tatsächlich geboren worden zu sein, mit jedem Tag innerlich und äußerlich zu wachsen … und jetzt will ich mich auf mein Sofa setzen und mich verstecken? Vor was eigentlich? Etwa vor mir selbst?
Ich entschied, meinen Plan zu verwirklichen. Und mich meinen Ängsten zu stellen. Mit dem Wissen, dass meine eigenen Herausforderungen vielleicht ganz andere sind als die meiner Leser und dass uns doch eine Sache verbindet: das Leben selbst. Und genau das begriff ich, als ich mich an diesen einen Tag im September vergangenen Jahres zurückerinnerte.
Es war ein warmer Nachmittag, ich lag bei meinen Eltern auf der Couch – ja, bequeme Wohnzimmereinrichtungen bekommen eine beachtliche Rolle in diesem Prolog zugeschrieben –, als das Telefon klingelte und ich überlegte, nicht ranzugehen. Seit elf Jahren lebe ich nicht mehr bei meinen Eltern, es war also unwahrscheinlich, dass mich dort jemand anrufen würde.
Aus einem Impuls heraus beschloss ich dennoch, aufzustehen und den Hörer abzunehmen. Rückblickend empfinde ich diesen Moment als den Beginn eines neuen Kapitels in meinem Leben, denn zu dem Zeitpunkt fühlte ich mich extrem hibbelig und unausgeglichen. Ich wollte mich an ein neues Projekt wagen, war auf der Suche nach neuen Buchideen, fand jedoch keine, denn was mir fehlte, war Inspiration. Also suche und suchte ich, weil ich vergessen hatte, dass die Inspiration auch mich finden kann.
»Spreche ich mit Anika Landsteiner?«, hörte ich die nervöse und etwas zittrige Stimme einer älteren Frau am anderen Ende der Leitung. Sie erzählte mir, dass sie mein Bild in der Regionalzeitung gesehen habe, und ich erinnerte mich an den groß platzierten Artikel mitsamt Foto, der meine Lesung ankündigte. »Ich sage Ihnen ganz ehrlich, wie es ist: Als ich Ihnen in die Augen blickte, habe ich gewusst, dass Sie der Mensch sind, den ich suche.«
Nun ja, ich schätze einen gewissen Hang zur Dramatik, doch solche Sätze hatte ich in meiner Zeit als Schauspielerin geprobt, wohl wissend, dass sie etwas zu übertrieben klangen, um dem tatsächlichen Leben zu entspringen. Jetzt wurde ich eines Besseren belehrt.
Die Frau hieß Emma, war vierundachtzig und hatte zwar nicht mich, jedoch meine Eltern im Telefonbuch gefunden.
»Ich suche seit Jahren jemanden, dem ich meine Geschichte anvertrauen kann, damit sie aufgeschrieben wird.«
»Welche Geschichte?«, fragte ich.
»Mein Leben ist unwirklich. Es gibt Menschen, die bestimmte Abschnitte kennen, aber keiner von ihnen weiß alles.« Gänsehaut. Wer war diese Frau?
Den Wunsch, das eigene Leben aufschreiben zu lassen, finde ich großartig, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch etwas erlebt hat, das es wert ist, erzählt zu werden, auch wenn viele das nicht so empfinden. Was soll ich schon erzählen, was habe ich denn schon erlebt?, bekomme ich oft zu hören. Diese Frau wusste jedoch, was sie wollte, und obwohl sie wiederholt anmerkte, dass sie gesundheitliche Probleme habe, empfand ich sie als klarer bei Verstand, als wissbegieriger und zielstrebiger als einige meiner Altersgenossen.
»Ihre Zeit ist kostbar, das ist mir bewusst. Sie sind eine junge Autorin, Sie haben sicherlich viel zu tun«, sagte sie dann, und ich schmunzelte angesichts der zwei faulen Tage zu Hause bei meinen Eltern, die hinter mir lagen. »Aber wenn Sie Interesse haben, dann erzähle ich Ihnen etwas von mir. Ganz unverbindlich.« Und bevor ich die eine Frage stellen konnte, die mir im Kopf herumschwirrte – warum ich? –, fügte sie hinzu: »Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Auch wenn wir uns nicht kennen.«
Ein paar Tage später, als ich wieder am Schreibtisch in meiner Wohnung in München saß, rief ich Emma an. Innerhalb einer Stunde schilderte sie mir die groben Umrisse ihres Lebens, und ich schwankte zwischen Faszination, Unverständnis und Mitgefühl. Es war tatsächlich ein unwirkliches Leben. Als wir auflegten, sah ich hinab auf meine Notizen. Ein emotionales Chaos lag vor mir, und ich schüttelte den Kopf über diese plötzliche Wendung in meinem Leben.
Da telefonierte ich mit einer mir fremden Frau, die mir Dinge anvertraute, die nicht mal ihr Sohn wusste, während ich auf der Suche nach Inspiration war und kurz zuvor beschlossen hatte, nicht mehr so viel Zeit in meinen eigenen vier Wänden zu verbringen. Ich war bereits in ein völlig anderes Leben eingetaucht. Und ich konnte kaum glauben, welcher Ruck plötzlich durch mein eigenes Leben ging – ich hatte nur den Hörer abnehmen und Emma hereinlassen müssen.
Drei Monate nach unserem ersten Telefonat lud Emma mich zu sich nach Hause ein, also setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Franken. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, doch aufgrund meines Berufes darf ich immer wieder in das Leben anderer eintauchen, sodass ich mittlerweile ohne jegliche Erwartung, dafür jedoch voller Neugier in ein Gespräch gehe. Ich freute mich darauf, sie kennenzulernen.
Als ich parkte, kam Emma mir bereits entgegen. Sie war klein und zierlich, hatte einen welligen Kurzhaarschnitt und wirkte mit der Jeans und der bunten Tunika, die sie trug, viel jünger, als sie tatsächlich war. Wir umarmten uns zur Begrüßung, und sie musterte mich einen Moment lang, ehe sie sagte: »Ich fühle mich so verbunden mit Ihnen.« Und dieser Satz, auf den ich gar nichts sagen konnte, bestätigte mich darin, nichts zu erwarten, nie etwas zu erwarten, sondern lediglich neugierig zu sein. Neugierig auf alles.
Emmas Lebensweg war von großen Träumen und noch größeren Herausforderungen geprägt. Jeder Wunsch ging mit einer wahnsinnigen...