2. Das Mandala als Lebensmuster
Ein Mandala ist eine kreisrunde Struktur, die in ihrem Aufbau überall auf den Mittelpunkt bezogen ist. Wissenschaftler würden sie als rotationssymmetrisch bezeichnen. Die östliche Vorstellung geht davon aus, dass das Mandala aus der Mitte entstanden ist und das Ganze in seinem Mittelpunkt enthält. Tatsächlich kann man sich vorstellen, dass ein Mandala dadurch entsteht, dass man einen Punkt gleichsam aufbläst und damit Raum und Zeit in ihn hineinfließen lässt.
Die Abbildung zeigt die Südrose der Kathedrale von Chartres
Unter den Symbolen und Bildern hat das Mandala insofern eine Sonderstellung, als es alle anderen Symbole und letztlich alles Geschaffene in sich integriert. Von den kleinsten bis zu den größten Strukturen finden wir überall Mandalas. Jedes Atom, gleichgültig ob wir das alte Atommodell von Niels Bohr oder das neue der Quantenphysik wählen, bildet mit seinem wirbelnden Tanz der Elektronen um den ruhenden Kern ein Mandala. Da aber alles in dieser Schöpfung aus Atomen besteht, bilden Mandalas die Grundstruktur aller Materie. Das Prinzip des Tanzes um die Mitte ist verbindlich für alle Atome, wobei sich die Mitte dadurch auszeichnet, dass sie sich unserem Verständnis weitgehend entzieht. Selbst nach der Vorstellung der Mathematik ist die Mitte nicht von dieser Welt; der Mittelpunkt hat keine Ausdehnung im Raum und darf per Definition keine haben. Wenn wir ihn als Punkt zeichnen würden, wäre dies schon zu viel, denn unsere Darstellung geht in den Raum und damit über den Punkt hinaus. Der Punkt ist eindimensional und damit auch, geometrisch betrachtet, der Einheit zugehörig. Das Tao Te King beschreibt die Nabe des Rades bzw. die in ihr herrschende Leere als das entscheidende Zentrum, um das sich alles dreht. Der mythologische Tanz um das Nichts wird durch unser Wissen um das Innere atomarer Strukturen bestätigt. Der Kern ist von seiner Ausdehnung winzig im Vergleich zur Elektronenhülle. Hätte diese das Ausmaß des Petersdomes in Rom, der größten Kirche der Christenheit, käme der Kern im Verhältnis dazu auf die Größe eines Staubkornes. Und doch dreht sich alles um diesen Kern, dieses Nichts.
Bei der Zelle, dem Grundbaustein des organischen Lebens, stoßen wir wieder auf die Mandalastruktur. Alles dreht sich auch hier um den zumeist ruhenden Kern; alle Information für das Leben der vielfältigen Zellstrukturen kommt aus ihm. Da alles organische Leben auf Zellen aufbaut, ist auch auf dieser Ebene das Mandala die Basis des Lebens. Selbst im anorganischen Bereich beruhen viele Kristalle auf der Mandalastruktur, um deren Zentrum sich der Kristall aufbaut.
Wechseln wir zu den größten Strukturen, die wir erkennen können, treffen wir wieder auf Mandalas. Die Erde selbst, aber auch alle anderen Planeten und Himmelskörper entsprechen dem Mandalamuster, indem sie sich um ihre ruhende Mitte drehen, in der die Schwerkraft wirkt. Das gesamte Sonnensystem stellt ebenso ein Mandala dar wie auch jeder Spiralnebel und das Universum als Ganzes.
Die Spirale, selbst Mandala, bringt noch eine spezielle Betonung der Mandalaform, indem sie das ihr innewohnende Bewegungselement betont. Alles kommt aus der Mitte, bleibt darauf bezogen und tendiert dorthin zurück. Das Universum ist aus der Mitte der Spirale entstanden und wird irgendwann dorthin zurückkehren, wie uns der indische Schöpfungsmythos verrät und seit neuestem auch einige Astrophysiker behaupten. Das Leben spendende Licht der Sonne erreicht uns nicht etwa auf geradem Weg, sondern auf einer Spiralbahn. Auch im Mikrokosmos, wo Materie entsteht, ist die Spirale gegenwärtig. Subatomare Teilchen, wie sie Physiker in ihren Blasenkammern beobachten, folgen oft Spiralbahnen. Und dort, wo das organische Leben seine Grundlage hat, im Erbgut im Innern der Zellkerne, steht die Doppelspirale der DNS im Zentrum. An allen entscheidenden Punkten des Lebens wird das Spiralmuster erkennbar. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch bei Empfängnis und Tod eine tragende Rolle spielt. Wenn die Seele sich in den Körper senkt, wird das oft als spiralige Wirbelbewegung erlebt, und auf dieselbe Art verlässt sie ihn beim Sterben wieder, wie wir aus der Reinkarnationstherapie wissen.
Von der größten Dimension des Makrokosmos bis in die kleinste des Mikrokosmos treffen wir auf das Mandala. Aber auch in den Zwischenbereichen, in denen sich unser Leben abspielt, ist das Mandala immer nah. Aus Blütenkelchen blickt es uns ebenso entgegen wie aus den Augen der Tiere und Menschen. In jedem Wasserstrudel dreht es sich mit, aber auch in Wirbelstürmen und Taifunen. Es findet sich in Muschelschalen und Schneckenhäusern und in jeder Schneeflocke. Bedenkt man, dass es keine zwei gleichen Schneeflocken oder Eiskristalle gibt, alle aber nach dem Sechssternmuster eines Mandalas geformt sind, kann man seine vielfältigen Möglichkeiten und seine Rolle im Rahmen der Schöpfung ermessen. Alles kommt aus dem Mandala oder ist auf dem Weg zu ihm, denn auch der Urknall, wie ihn uns die Wissenschaft beschreibt, bildet ein Mandala. Und selbst das gewaltigste Felsmassiv zerfällt mit der Zeit in Sandkörner und damit in Mandalas. Aus den Mandalas der Atome entsteht alles, und zu ebendiesen Mandalas wird alles zurückkehren. Es ist immer nur die große Täuscherin Zeit, die uns vom Mandala trennt.
Wenn sich alles auf dem Weg des Mandalas befindet, so ist es nicht verwunderlich, dass auch wir Menschen diesem universellen Muster folgen. Das Leben in der polaren Welt nimmt in der Mitte des Mandalas im befruchteten Ei, wiederum einem Mandala, erste Form an. Aus der Ungebundenheit des freien Raumes wird die Seele in die Enge des Körpers gesogen, der sich zuerst wie ein Gefängnis anfühlt. Der Mittelpunkt des Mandalas entspricht der Einheit, dem Paradies, wo noch keine Gegensätze bestehen. Dem biblischen Auftrag gemäß, sich die Erde untertan zu machen, wird das Kind nun immer weiter hinaus aus der Mitte streben. Im Mutterleib ist es der Mitte und damit der Einheit noch sehr nahe. Über die Nabelschnur mit der Mutter aufs Engste verbunden, ist die Versorgung in dieser Schlaraffenlandsituation jederzeit gewährleistet. Durch sein stetiges Wachsen entrückt das Kind unwiderruflich und Schritt für Schritt diesem Paradies und gerät mit jeder Entwicklungsstufe tiefer in die Polarität. Bald wird sein Nest zu eng. Unter Schmerzen und ob es will oder nicht, wird die Mutter das Kind mit mächtigem Wehendruck hinaustreiben. Mit dem ersten Atemzug bindet es sich an die Polarität des Ein- und Ausatmens. Das eine Herz teilt sich in der Mitte, und linke und rechte Kammer entstehen. Ist das Kind bisher von der Mutter mitbeatmet worden, muss es nun selbst Luft holen. Ist ihm bisher die Nahrung zugeflossen, muss es nun selbst saugen. Zwar wird es noch gestillt, aber auch das hört bald auf. Mit dem Abgestilltwerden vollzieht sich noch ein weiterer Schritt nach draußen in Richtung Polarität. Noch wird es gefüttert, aber schon bald muss es selbst essen und schließlich sich selbst ernähren. Es wird die sichere Mutter Erde, die es bisher vor allem bäuchlings kennen gelernt hat, verlassen müssen, um sich auf die Hinterbeine zu stellen. Dadurch gerät es in ein labiles Gleichgewicht und noch weiter in die Unsicherheit der Polarität. Mit seinem ersten »Nein!« fährt es auf diesem Weg fort und beginnt Dinge auszuschließen, wodurch letztlich Schatten entsteht und die Gegensätze der Polarität noch schroffer hervortreten.
Mit der Pubertät ist es schon ein gutes Stück aus der Mandalamitte hinausgeraten und beendet die immer noch relativ neutrale Kinderexistenz. Das Kind muss sterben, damit die Frau oder der Mann leben kann. Mit der Abnabelung von den Eltern nach geglückter Adoleszenz ist ein weiterer Schritt in die Eigenständigkeit getan, und die Spannung des Lebens nimmt laufend zu. Mit der Suche nach der besseren Hälfte, wie der Partner im Volksmund so ehrlich heißt, werden die Spannungen oft noch größer, und mit der Heirat und der Gründung einer eigenen Familie wachsen Verantwortung und Belastung, aber auch Chancen. Die Polarität ist nun sehr deutlich spürbar. Es geht lange nicht mehr alles so, wie man will, und immer häufiger kommt der Schatten bei noch so gut gemeinten Unternehmungen ins Spiel. Alle weiteren Anstrengungen, das Leben in den Griff zu bekommen und sich die Erde untertan zu machen, erhöhen Spannung und Verantwortung. Gelingt es, große Reichtümer aufzuhäufen, müssen diese verwaltet und letztlich bewacht werden, was wiederum die Anspannung noch verstärkt.
Schließlich kommt in der Peripherie des Mandalas der Punkt der unwiderruflichen Umkehr. Der einzig mögliche Fortschritt ist hier der Rückschritt. Auch wenn wir sie heute zu ignorieren und manchmal sogar zu überschreiten suchen, bleibt diese äußere Grenze des Lebensmusters unüberwindbar. Noch nie ist ein Mensch oder Wesen anders aus diesem Muster herausgekommen als durch den Mittelpunkt. Alle Versuche, sich in der Peripherie festzuklammern und sich dem Muster des Lebensweges zu verweigern, scheitern auf die eine oder andere spektakuläre bis simple Art. Ab diesem Punkt gilt der Christussatz: »Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen« (Mt 18,3). Alle Wege führen jetzt nur noch zurück, heim in Richtung Mittelpunkt des Mandalas und zum Abschied von der Polarität im Tod. Alles Festhalten in der Lebensmitte am Mandalarand ist ein hoffnungsloses Gegen-das-Leben-Arbeiten und verbraucht sinnlos Energie in ebenso krampfhaften wie chancenlosen Aktionen.
Da das Ziel des Weges die Mitte und damit das Sterben ist, haben Menschen, die nicht an den...