Zum theoretischen Verständnis
Zum theoretischen Verständnis der Krise orientiere ich mich am schöpferischen Prozeß. In der Beschreibung des schöpferischen Prozesses findet man immer wieder den Ausdruck der „schöpferischen Krise“. Ob ein kreativer Prozeß ein Resultat zeigt, ob die Ideen der Welt verwirklicht werden können, hängt ganz wesentlich davon ab, wie wir mit einer solchen Krise umgehen. Ursachen für Krisen sind in meiner Sicht Entwicklungsthemen des Individuums, also Lebensnotwendigkeiten, die wahrgenommen und ins Leben integriert werden müssen und die der Kriselnde zunächst nicht aufnehmen kann oder will. Deshalb wird er auch in seiner Identität verunsichert. Identitätsunsicherheit bedeutet aber immer auch, daß wir uns wandeln können, daß wir auch anders sein können, daß wir etwas wagen können, daß wir auf etwas verzichten können. Krisenzeiten sind Wandlungszeiten zum Besseren oder zum Schlechteren hin.
Das Bewältigen von Krisen hat in der psychischen Dynamik eine große Nähe zum schöpferischen Prozeß.
Der schöpferische Prozeß
Sind Probleme nicht auf gewohnte Art zu lösen, müssen wir kreativ werden. Wir können den schöpferischen Prozeß an sich gut beschreiben. Wie allerdings der schöpferische und lösende Einfall zustande kommt, bleibt geheimnisvoll. Wir wissen aber, daß es ihn unter gewissen Bedingungen immer wieder gibt. Auf schöpferische Einfälle kann man zählen, auf schöpferische Einfälle zählen wir auch, sonst wären wir Menschen schon längst untergegangen.
Der schöpferische Prozeß beginnt mit einer Vorbereitungsphase: In dieser Phase versuchen wir, ein Problem mit den gängigen Methoden zu lösen. Wir beschreiben das Problem, stellen es in vielfältige Zusammenhänge, lesen vielleicht Literatur zum Thema und holen verschiedene Meinungen ein. Wir sammeln Wissen, kognitives und emotionales, entwickeln Ideen. Wenn keine Idee so richtig greift, bemerken wir, daß wir mit unseren üblichen Mitteln nicht weiterkommen. Dann geben wir scheinbar auf und ziehen unser Interesse von dem Problem ab. Das geschieht in der sogenannten Inkubationsphase: Wir befassen uns zwar nicht mehr hauptsächlich mit dem Problem, aber wir spüren, daß es immer noch in uns gärt. In dieser Phase sind wir unzufrieden, zweifeln an uns selbst, an unserer Kompetenz. Dadurch kann die Angst immer dominierender werden. Sie kann so sehr verstärkt werden, daß das Selbstwertgefühl in Mitleidenschaft gezogen ist. Und neue Einfälle, die normalerweise diese Phase beenden, werden blockiert, wenn durch das nicht Finden eines Einfalls Beeinträchtigungen und Verluste befürchtet werden (Ansehen, Karriere, Selbstbild). Wir haben es dann mit einem Kreativitätsblock zu tun, der mit der Angst im Zusammenhang steht, und der oft auch einer Krisenintervention bedarf. Ist weniger Angst vorhanden, wird die Inkubationsphase durch einen Einfall beendet, der plötzlich oder nach und nach Gestalt annimmt, der dann formuliert und verifiziert oder falsifiziert wird. Der Mensch, der ein Problem lösen will, fühlt sich blockiert, phantasielos, ohne Energie, ängstlich, in ernste Selbstzweifel verstrickt und findet nicht heraus. Je mehr Angst mit der Lösung eines Problems verbunden ist, um so größer ist die Blockierung. Und Menschen, die sich in einer Krise befinden, fühlen sich in dieser Situation blockiert. Auch sie haben zunächst versucht, mit den üblichen Mitteln ihr Problem zu lösen, auch sie stellen irgendwann fest, daß sie es so nicht lösen können, und dann geraten sie in Panik. Diese kann sich in aufgeregter Angst oder aber auch in einer Versteinerung zeigen. Dadurch hemmen sie ihr Unbewußtes zusätzlich, es fällt ihnen nichts mehr ein. Sie kommen nicht in die sogenannte Einsichtsphase: Aus der Phase der Inkubation erfolgt nämlich normalerweise plötzlich und unvorhersagbar der Moment der Einsicht; ein Gedankenblitz überfällt uns, eine Einsicht: So könnte es gehen. Bei großen schöpferischen Ideen wird in diesem Zusammenhang immer auch einmal vom „göttlichen Funken“ gesprochen. Diese Einsichtsphase ist begleitet von Gefühlen der Erleichterung, der Freude, der Inspiration. Der Einsichtsphase folgt die Verifikationsphase, in der das Gefundene überprüft werden muß: Taugt die gefundene Idee dazu, das gestellte Problem zu lösen? Die Einsicht wird geformt, kommuniziert, getestet. Die Emotionen, die damit verbunden sind, sind meistens Emotionen der Inspiration und der Konzentration.
Sieht man Krisenprozesse in der Analogie zu schöpferischen Prozessen, dann wird die Bedeutung der Angst klar: Sie entscheidet darüber, ob der Mensch in der Krise einen schöpferischen Einfall hat oder sich gelähmt fühlt. Es wird aber auch deutlich, daß uns – im richtigen Zeitpunkt – schon etwas einfallen wird, vorausgesetzt, wir können mit der Angst umgehen. Ist eine Lösung gefunden, muß sie schließlich geprüft werden.
Legt man der Krisentheorie eine Theorie des Schöpferischen zugrunde, dann geht man davon aus, daß bei der Zuspitzung der Krise mögliche neue Lebensthemen unbewußt bereits vorhanden sind, gleichsam im Sinne einer Selbstregulierung der Psyche. Sie können vom Menschen in der Krise jedoch noch nicht wahrgenommen oder nicht genützt werden und müssen also entbunden werden, allenfalls in einer Krisenintervention. Diese neuen Themen, die dabei ans Licht wollen, können Lösungen für anstehende Lebensschwierigkeiten mit sich bringen oder zumindest bewirken, daß gewisse Schwierigkeiten nicht mehr so sehr im Zentrum stehen. Dieses sich in Entwicklung befindende Thema kann sogar die Krise noch verschärfen, weil eine Entscheidung immer unabdingbarer wird, der Konflikt zwischen dem, was ist, und dem, was werden könnte, sich immer mehr zuspitzt.
Diese Sicht der Krise überzeugt unmittelbar bei den sogenannten Entwicklungskrisen. Da findet zum Beispiel ein adoleszenter Jugendlicher nicht hinaus ins Leben, bleibt in der Haltung eines Schulkindes in seiner Familie. Er macht offensichtlich keine sichtbaren Probleme, aber wird von Tag zu Tag depressiver und läßt in den Schulleistungen nach. Diese Krise, die leise und ohne lärmende Symptomatik7 auftaucht, kann so verstanden werden, daß die Aggression, die zur Bewältigung der neuen Entwicklungsanforderung, der Ablösung vom Elternhaus, benötigt würde, sich gegen sich selbst wendet. Sie zeigt sich in der Depression, in der Selbstsabotage. Kann der Adoleszente entängstigt werden, entweder durch veränderte günstige Lebensumstände oder durch eine Therapie, werden die natürlichen Entwicklungsanforderungen gelebt, und die Krise ist überstanden. Anders sieht es bei den Verlustkrisen aus: Da werden wir in eine neue Lebenssituation unter Umständen sehr abrupt hineingestellt – ohne daß zuvor schon eine Entwicklung eingesetzt hätte. Um die Situation des Verlustes zu meistern, entwickeln wir neue Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch neue Verhaltensmöglichkeiten – auch bei Verlusterfahrungen müssen wir einen Entwicklungsschritt leisten.
Das zukunftsweisende Element in der Krise
Diese Sicht der Krise als immer auch einer schöpferischen Krise, in der es darum geht, das psychisch Anstehende zu entbinden, durchaus auch in der Erwartung, daß dann auch ganz konkrete reale Probleme in der Welt auch besser gelöst werden können, wird in den Märchen deutlich sichtbar. So etwa im Märchen vom Aschenputtel:
Die nur gute Mutter von Aschenputtel stirbt und nimmt ihm noch auf dem Totenbett das Versprechen ab, immer gut und fromm zu bleiben. Aschenputtel muß sich also von einer nur guten Mutter ablösen, dagegen wehrt es sich zunächst. Dabei geht es ihm sehr schlecht und immer schlechter: Erst als die Mutter gestorben ist, wird es überhaupt zu einem Aschenputtel, von den Stiefschwestern verhöhnt und gequält, vom Vater kaum zur Kenntnis genommen. Sein Leben gerät zunehmend mehr in die Krise, wird immer dramatischer grau. Aber: Einmal geht der Vater zur Messe, und er fragt, was er denn den Töchtern bringen soll, und er fragt auch Aschenputtel. Dieses wünscht sich das erste Reis, das dem Vater an den Hut stößt. Dieses Reis, das der Vater bringt, pflanzt es auf dem Grab der Mutter, wo es sofort zu wachsen beginnt. Und obwohl symbolisch da deutlich etwas Neues wächst, Wurzeln treibt usw., gerät das tägliche Leben dennoch immer noch mehr in die Krise. Die Beleidigungen und Entwertungen erreichen einen Höhepunkt, als es wie die anderen auch auf den Ball des Königssohnes gehen möchte. Zu allem Übel wird ihm versprochen, daß es gehen darf, wenn es die Linsen aussortiert, und das Versprechen wird nicht gehalten. Da geschieht aber der Umschwung: Aschenputtel fragt in einem gewissen Moment nicht mehr, sondern geht auf das Grab der Mutter und sagt zu dem Bäumchen, das aus dem Reis entstanden ist: Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich. Es wird dann mit wunderbaren Kleidern überschüttet, geht auf den Ball und gewinnt den Prinzen für sich.
An dieser Geschichte ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig, daß der Keim für die neue, die bessere Lebenssituation (das Reis) durch ihren Wunsch bereits Wurzeln treibt und wächst, längst bevor die Krise an ihren Höhepunkt oder Tiefpunkt gerät. Am Tiefpunkt der Verzweiflung wehrt sich Aschenputtel nicht mehr gegen die Veränderung und vertraut auf die Ressourcen, die ihr durch die Beziehung zu ihrer guten Mutter zugänglich sind.
Und die scheint mir regelhaft zu sein für Krisen: Menschen, die ganz und gar von einer Krise erfaßt sind, können Träume haben, die bereits deutliche Hinweise auf Veränderungen geben, die allerdings von den Träumerinnen und Träumern noch nicht wirklich aufgenommen...