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Lebenslust

Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult

AutorDr. Manfred Lütz
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783426417133
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unsere Vorfahren bauten Kathedralen, wir bauen Kliniken. Unsere Vorfahren retteten ihre Seele, wir retten unsere Figur. Keine Frage: Wir haben eine neue Religion - die Gesundheit. Wir kasteien uns mit Diät- und Fitnessterror und vergessen darüber fast alles, was das Leben ausmacht. Höchste Zeit also für eine lustvolle Verteidigung der Lust! »Manfred Lütz lehrt mit Witz die Kunst zu leben.« FAZ

Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Theologe und Kabarettist. Seit 1997 ist er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Er publizierte zahlreiche Bestseller, darunter 2002 'Lebenslust - Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult' und 2007 'Gott - Eine kleine Geschichte des Größten', für das er den internationalen Literaturpreis Corine erhielt. Mit 'Irre! Wir behandeln die Falschen, unser Problem sind die Normalen' führte er 2009 wochenlang die Bestsellerlisten an. 2012 erschien 'Bluff - Die Fälschung der Welt', das ebenfalls zum Erfolg wurde.

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Leseprobe

Vorwort


Dieses Buch ist eine Provokation. Es ist geschrieben für die inzwischen über 5 Millionen Fitnessstudiomitglieder mit Sinn für Humor und für 75 Millionen andere Deutsche als Ermutigung zum Durchhalten. Aber es ist nicht nur eine Erlaubnis zum herzhaften Lachen in den heiligen Hallen der real existierenden Gesundheitsreligion. Es ist vor allem eine Anleitung zur wirklichen Lust am Leben. Anstatt bloß noch vorbeugend zu leben, um dann gesund zu sterben, plädiert dieses Buch dafür, die kostbaren unwiederholbaren Momente des Lebens zu genießen, zu schmecken, zu erleben.

Nebenbei ist es ein politisches Buch, denn es legt den gewaltigen sozialpolitischen Sprengstoff frei, den die Gesundheitsgesellschaft aufgehäuft hat. Die ungebremste glutvolle Verklärung der Gesundheit als »höchstes Gut« hat längst zum Zusammenbruch von so etwas wie Gesundheitspolitik geführt. Das ist auch kein Wunder, denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein »höchstes Gut« kann man aber nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun. So befürwortet man rituell Systemveränderungen, Qualitätsverbesserungen, Einsparungen, und vor allem ruft man unter allgemeinem Beifall: Bloß keine Zwei-Klassen-Medizin! Doch für wirkliche Einschränkungen zu plädieren bei den Bemühungen um das »höchste Gut« klingt nicht nur irgendwie gotteslästerlich, sondern wäre in jedem Fall politischer Selbstmord.

Nur wenn die gesamte politische Klasse sich verschwört und nachts die Gesundheitsministerin und der Gesundheitsoppositionsführer vor die Mikrofone treten und einer von beiden die soeben erzielte Einigung als »schönste Nacht meines Lebens« bezeichnet, verstummt kurz jede Kritik, da man weder bei religiösen Riten noch beim Beischlaf von außen dazwischenruft. Da die finanzielle Situation verzweifelt ist, kommt es so zu Vereinbarungen zwischen Regierung und Opposition, zwischen rechts und links, zwischen oben und unten, die als »große Reformen« etikettiert werden, in Wahrheit aber überhaupt nichts wirklich lösen. Dass schon immer und auch heute reiche Menschen älter werden können als arme, ist in einer Gesundheitsgesellschaft ein unsäglicher Skandal, der nicht benannt werden darf.

Die Gesundheitsreligion ist ein humorloser gefräßiger Tyrann, der die Menschen von morgens bis abends traktiert, bedroht, belehrt und mit rituellem Gesundheitsgeschwätz das eigenständige Denken einschläfert. Die Leute glauben nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit, und alles, was man früher für den lieben Gott tat – Wallfahren, Fasten, gute Werke vollbringen –, das tut man heute für die Gesundheit. Gesundheit gilt dabei wie alles in unserer Gesellschaft als herstellbares Produkt: Man muss was tun für die Gesundheit, von nichts kommt nichts, wer stirbt, ist selber schuld. Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres – und sterben dann doch.

Man hat gesagt, die Lebenszeit der Menschen sei heute drastisch zusammengeschmolzen. Während der mittelalterliche Mensch seine diesseitige Lebenszeit plus ewiges Leben vor sich hatte, bleibt dem heutigen Menschen nur noch unendlich weniger Lebenszeit übrig: sein begrenztes Leben auf dieser Welt. Doch je mehr man das merkt, desto mehr breitet sich im Wartesaal des Lebens Unruhe aus. Der Tod ist ausgebrochen im Wartesaal, der endgültige Tod ohne Wenn und Aber. Es hat sich herumgesprochen, dass alle sterben werden, an der Vogelgrippe, an BSE, an AIDS, am Leben, ohne Ausnahme, und dass kein Zug mehr fährt, noch nicht einmal nach Nirgendwo. Panik herrscht bei vielen, rette sich, wer kann. Mit dem ewigen Leben rechnet zwar keiner mehr, aber wenigstens sterben möchte man nicht.

So sind die Kinder der glorreichen Befreiungsbewegungen der Neuzeit, der Aufklärung, der Amerikanischen Revolution, der Französischen Revolution, der Emanzipation der Frau und zuletzt des Mannes, unter eine neue drückende Knechtschaft geraten. In absurde Verkleidungen gepresst, mit verbissenem Ernst und ohne jeden Humor, die Todesdrohung im Nacken und schuldgebeugt, hetzen die Menschen bei den Städtemarathons in Bataillonsstärke durch hässliche Straßen, sie laufen von Arzt zu Arzt und essen unschmackhafte Sättigungsbeilagen zu einem Leben voller Verzicht und Kasteiung. Um den Tod zu vermeiden, nehmen sich die Menschen das Leben, nämlich unwiederholbare Lebenszeit. Gellende Kommandos schallen durch die Fitnessstudios im schnarrenden Ton preußischer Exerzierübungen. Diätbewegungen gehen wie wellenförmige Massenbewegungen übers Land, in ihrem Ernst die Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters bei weitem übertreffend.

Im Wissenschaftsteil einer seriösen überregionalen Tageszeitung erschien ein Artikel über japanische Studien über Würmer. Dabei war herausgekommen, dass Würmer, die quasi nichts essen – und wenn überhaupt, nur Körner – wahnsinnig alt werden. Und man sei jetzt dabei, das aufs Menschenmodell zu übertragen. Der Artikel atmete Nobelpreisverdächtigkeit. Wenn ich mir aber überlege, ich dürfte quasi nichts mehr essen und wenn überhaupt, nur Körner und könnte dann noch nicht einmal sterben … das wäre für mich die konkrete Beschreibung der Hölle. Aber in der Gesundheitsreligion: paradiesische Zustände!

Die Gesundheitsreligion ist Realsatire pur. Eigentlich wäre es Zeit, die Absurdität dieses ganzen Treibens zu entlarven. Doch da sei Gott vor! Genauer gesagt: Der Blasphemieschutz ist inzwischen von den Altreligionen auf die Gesundheitsreligion übergegangen. Über Jesus Christus können Sie in unserer Gesellschaft jeden albernen Scherz machen, aber bei der Gesundheit hört der Spaß auf – nur in diesem Buch fängt er genau da an. Denn in totalitären Systemen kann man die Wahrheit nur satirisch sagen – und die Gesundheitsreligion herrscht totalitär mit der Macht strenger Political Correctness. Jede Abweichung vom allgemeinen rituellen Gesundheitsgeschwätz wird streng sanktioniert. Daher ist dieses Buch durchaus ein lustvoller Tabubruch und nichts für kuschelige Meinungssofties, die gerne meinen, was alle meinen, oder Bücher nur danach beurteilen, ob es dem Autor gelingt, die eigene bewährte Auffassung glanzvoll zu bestätigen. Mit anderen Worten, dieses Buch setzt ein gewisses Maß an Grundhumor voraus, denn Humor ist die Fähigkeit, sich selbst einmal wenigstens probeweise in Frage zu stellen. Daher ein eindringlicher Warnhinweis: Aus haftungsrechtlichen Gründen ist dieses Buch für humorlose Fitnessstudiobesitzer nicht geeignet.

Leider ist Humor generell in Kreisen der Gesundheitsreligion weitgehend unbekannt. Meist war man betroffen, ist betroffen oder wird bald betroffen sein. Und wenn dauernd bei Übertretungen mit der Todesstrafe gedroht wird, ruiniert das ohnehin jede Stimmung. Die Gesundheitsreligion hat dabei übrigens leider entdeckt, dass Lachen mit Humor gar nicht unbedingt etwas zu tun haben muss. Denn wenn der Volksmund schmunzelnd erklärt, Lachen sei gesund, wird so etwas von der Gesundheitsreligion natürlich sofort systematisch aufgegriffen. Es gibt inzwischen in allem Ernst Lachgruppen, wo Leute sich regelmäßig zum gemeinschaftlichen Lachen treffen. Scherze sind dabei verboten, denn es geht um das Lachen an und für sich. Sollten im Rahmen des bevorstehenden Prophylaxegesetzes für alle Bundesbürger verpflichtende Lachzeiten eingeführt werden, habe ich meine Auswanderung angekündigt.

Dass Gesundheitsgurus zumeist humorlose Ölgötzen sind, hindert mich also nicht an lustvoller Gesundheitssatire. Doch habe ich mir schon ein wenig Sorgen gemacht, wie ein solches Buch wohl auf Menschen wirken könnte, die eine schwere Krankheit haben und für die Gesundheit verständlicherweise ein wichtiges Thema ist. Da erreichte mich, kurz nachdem die Thesen dieses Buches zum ersten Mal das Licht der Öffentlichkeit erblickten, die E-Mail einer Frau:

 

»Es ist wunderbar, dass Sie laut sagen, was ich nur zu denken wage. ›Hauptsache gesund‹, wie sehr ich diesen Satz hasse! So ein Quatsch, wenn das die Hauptsache wäre, müsste ich den ganzen Tag Trübsal blasen, und mein Leben hätte keinen Sinn – keine Hauptsache – mehr. Oder noch nie gehabt. Ich habe einen angeborenen Herzfehler und deswegen 6 Herzoperationen hinter mir und dadurch noch einige andere Krankheiten dazubekommen. Da bleibt von Gesundheit als ›Hauptsache‹ nicht viel übrig. Sonst bin ich eigentlich normal: 32 Jahre alt, seit 13 Jahren verheiratet, 2 Kinder … Was die 6. Herzoperation vor 2 Jahren hätte bedeuten können, war uns allen klar. Es gibt schließlich nicht viele (lebende) Menschen nach einer 6. Herzoperation. Aber dass ich sterben könnte und jeder Tag ein besonderes Geschenk an mich ist, wusste ich eigentlich schon sehr früh, seit ich ca. 4 Jahre alt war.

Nach gelungener Operation kam ich zur Anschlussheilbehandlung. Dort waren fast nur ältere Menschen, auch nach Herzoperationen oder Herzinfarkten. Und die jammerten alle!! Jedem tat es irgendwo weh, jeder konnte irgendetwas nicht oder war ständig müde. Was hatten die erwartet? Anstatt glücklich zu sein, diese Operation überstanden zu haben, bedauerten die nur sich selbst. Oder mich: ›Was, so jung und schon herzkrank? Ooch, Sie Arme!‹ In ihrer Vorstellung von Bypass waren sie eher in einen Jungbrunnen gefallen, der sie nach der Narkose 50 Jahre jünger, bildhübsch und supersportlich wieder auferstehen ließ. Beim nächsten Mal gehe ich in eine Kinderkurklinik, da ist es lustiger.

Nun ist...

Blick ins Buch

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