Einführung
Es war weit nach Mitternacht. Ich saß ganz oben auf der Mauer und schaute hinunter. Die hohen Kiefern im Innenhof gaben mir Deckung in der Dunkelheit, dennoch verspürte ich den Drang, ein letztes Mal zurückzublicken, um zu sehen, ob mir jemand gefolgt war. Wie hatte es so weit kommen können? Ich schaute noch einmal in die Tiefe. Es waren etwas mehr als drei Meter bis auf den gepflasterten Weg. Das hört sich vielleicht nicht hoch an, aber als ich da mit meinen ausgeleierten Sandalen und im Schlafanzug hockte, ließ mich der Gedanke, zu springen, zurückschrecken. Wie hatte ich nur Sandalen anziehen können? Ich hatte sie mir hinten in die Hose gesteckt, als ich mich leise durch das Kloster schlich, um die anderen Mönche nicht zu wecken. Ich war ins Kloster gegangen, um über das Leben nachzudenken. Aber hier saß ich nun, taxierte die Mauer und dachte über meine Sandalen nach – und war im Begriff, zurück in die Welt zu springen.
Dazu hätte es nie kommen sollen. Ich hatte schon früher als buddhistischer Mönch praktiziert, sogar unter viel schwierigeren Bedingungen. Andere Klöster hatten allerdings Wärme ausgestrahlt, die Mönche waren fürsorglich gewesen und offen für einen Lebensweg, der als herausfordernd und zugleich erfüllend beschrieben wird. Hier fühlte sich alles ganz anders an. Ein buddhistisches Kloster wie dieses kannte ich nicht. Tag und Nacht verschlossen, von hohen Mauern umgeben, ohne eine Möglichkeit, mit irgendjemandem draußen Kontakt aufzunehmen. Man fühlte sich zuweilen wie im Gefängnis. Natürlich konnte ich niemanden außer mich selbst dafür verantwortlich machen, denn ich war ja freiwillig gekommen. Und dennoch: Ein traditionelles Klosterleben war völlig anders. Normalerweise ist, wenn man erst einmal Mönch geworden ist, die Sache damit nicht erledigt – es ist keine Entscheidung fürs Leben, ohne jeden Rückweg. Im Gegenteil: Buddhistische Klöster sind für ihre Toleranz und ihr Mitgefühl bekannt. Deshalb war es mir ein Rätsel, weshalb ich über eine drei Meter hohe Mauer abhauen und weglaufen wollte.
Ein paar Jahre zuvor hatte ich mich entschieden, meine Sachen zusammenzupacken, nach Asien zu gehen und Mönch zu werden. Damals studierte ich an der Universität Sportwissenschaften. Das mag nach einer einschneidenden Veränderung meines Lebens klingen, war aber eine der einfachsten Entscheidungen, die ich je getroffen hatte. Verständlicherweise hatten meine Familie und meine Freunde mehr Bedenken als ich und fragten sich, ob ich möglicherweise endgültig den Verstand verloren hatte; sie unterstützten mich aber dennoch. Mit der Universität war das jedoch ganz anders. Mein Tutor schlug mir einen Arztbesuch vor, als er von der Sache Wind bekam – ein Antidepressivum schien ihm die vernünftigere Lösung zu sein. Natürlich meinte er es nur gut mit mir, aber ich hatte den Eindruck, dass er nicht verstand, worum es mir ging. Dachte er wirklich, dass das Glück und die Erfüllung, die ich suchte, auf Rezept zu beziehen waren? Als ich sein Büro verließ, sagte er: »Andy, diese Entscheidung wirst du für den Rest deines Lebens bedauern.« Wie sich herausstellte, war es eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen hatte.
Sie fragen sich vielleicht, was das für ein Mensch ist, der sich plötzlich entscheidet, nach Asien zu gehen und buddhistischer Mönch zu werden. Vielleicht stellen Sie sich einen Studenten vor, der vom Weg abgekommen ist und sich selbst therapieren will, oder den »alternativen Typ«, der gegen die Konsumgesellschaft rebelliert. Doch es war viel banaler: Ich hatte Probleme mit meinem Hirn. Mir machte mein Zwang, unaufhörlich denken zu müssen, zu schaffen. Es war, als sei mein Intellekt permanent aktiv, als drehe er sich pausenlos wie die Trommel einer Waschmaschine. Manche Gedanken gefielen mir. Viele mochte ich überhaupt nicht. Das Gleiche passierte mit meinen Gefühlen. Als wäre ein voller Schädel noch nicht genug, fühlte ich mich ständig von unnötigen Sorgen, frustrierenden Gedanken und Traurigkeit niedergedrückt. Meist blieben diese Gefühle auf einem normalen Level, doch hin und wieder gerieten sie außer Kontrolle. Und wenn dies geschah, gab es nichts, was ich tun konnte. Ich hatte das Gefühl, als sei ich diesen Zuständen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und würde von ihnen hierhin und dorthin gezerrt. An guten Tagen war alles in Ordnung. Aber an schlechten Tagen schien mein Kopf zu explodieren.
Meine Ohnmacht gegenüber diesen Gefühlen weckte in mir den Wunsch, meinen Geist zu schulen. Ich wusste nicht genau, wie man das effektiv tut, aber ich war schon früh in meinem Leben mit Meditation in Berührung gekommen und verstand, dass sie eine potenzielle Lösung anbot. Nicht dass Sie denken, ich sei ein Wunderkind gewesen, das als Teenager seine Zeit mit gekreuzten Beinen am Boden sitzend verbracht hat, denn das war definitiv nicht der Fall. Ich war 22 Jahre alt, als ich mich ausschließlich der Meditation zuwandte, aber meine erste Erfahrung von Headspace[1], die ich mit elf machte, zeigte mir, was möglich ist. Natürlich würde ich gerne sagen können, dass mich der Wunsch, den Sinn des Lebens zu verstehen, dazu brachte, mich für die erste Meditationsklasse anzumelden. Doch die Wahrheit ist, dass ich mich nicht ausgeschlossen fühlen wollte. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt, und meine Mutter meldete sich darauf für einen sechswöchigen Meditationskurs an, um die Trennung zu verkraften. Als ich sah, dass meine Schwester sie begleitete, fragte ich, ob ich auch mitgehen dürfe.
Ich vermute, beim ersten Mal hatte ich einfach Glück. Ich hatte keine Erwartungen, konnte also auch keine Hoffnungen oder Befürchtungen auf meine Erfahrung projizieren. Selbst in diesem Alter ist es schwer, die Veränderung der geistigen Verfassung zu ignorieren, die Meditation bewirken kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals zuvor einen stillen Geist erfahren hatte. Jedenfalls hatte ich nie zuvor so lange still an einem Platz gesessen. Schwierig wurde es erst, als sich diese Erfahrung beim nächsten Mal nicht wiederholte und auch danach nicht und ich frustriert war. Je mehr ich versuchte, mich zu entspannen, umso mehr entfernte ich mich von einem entspannten Zustand. Das war also meine erste Berührung mit Meditation: ein Ringen mit meinem Geist und zunehmende Frustrationen.
Wenn ich zurückblicke, erstaunt mich das nicht. Der Ansatz war etwas »abgefahren«, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Sprache war eher die der sechziger Jahre als die der achtziger, und es wurden so viele Fremdwörter gebraucht, dass ich in dem Kurs einfach abschaltete. Außerdem wurden wir ständig aufgefordert, »einfach zu entspannen« und »einfach loszulassen«. Nun, wenn ich gewusst hätte, wie ich »einfach entspannen« und »einfach loslassen« kann, wäre ich gar nicht dort gewesen. Und was das dreißig oder vierzig Minuten lange Stillsitzen betraf – das konnte man gleich vergessen!
Diese Erfahrung hätte mir das Meditieren für den Rest des Lebens verleiden können. Was ich erlebte, ergab keinen Sinn. Meine Schwester langweilte sich und hörte einfach auf, und meine Mutter, die viele Verpflichtungen hatte, fand keine Zeit weiterzumachen. Was die Unterstützung von Freunden anging, weiß ich nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, als ich ein paar Leuten in der Schule davon erzählte. Als ich am nächsten Morgen den Klassenraum betrat, saßen dreißig Schülerinnen und Schüler mit gekreuzten Beinen auf ihren Pulten und chanteten »Om«, während sie erfolglos Lachanfälle unterdrückten. Auch wenn ich mich heute darüber amüsiere, schämte ich mich damals in Grund und Boden. Danach erwähnte ich niemandem gegenüber mehr irgendetwas davon, und schließlich gab ich das Meditieren auf. Außerdem tauchten dann Sport, Mädchen und Alkohol am Horizont meiner Jugend auf und machten es schwierig, Zeit zum Meditieren zu finden.
Vielleicht glauben Sie, meine Erziehung habe mir dabei geholfen, mich für die Idee der Meditation zu öffnen. Möglicherweise stellen Sie sich einen »alternativen« Schüler vor, der mit ausgestellten Jeans, Pferdeschwanz und nach Räucherstäbchen duftend durch die Welt lief. Oder Sie sehen Eltern vor sich, die ihren Sohn in einem mit Hanf betriebenen und mit Blumen bemalten VW-Bus von der Schule abholten. Ich erwähne das, weil es so einfach ist, voreilig Schlüsse zu ziehen, in Klischees über das Meditieren steckenzubleiben und zu denken, es sei nur für bestimmte Menschen gemacht. In Wirklichkeit war ich so normal, wie man als Teenager nur sein kann.
Bis zu meinem 18. Lebensjahr meditierte ich hin und wieder, aber dann erlebte ich eine Krise. Eine Reihe tragischer Ereignisse, auf die ich später noch zu sprechen komme, ließen der Meditation plötzlich eine Wichtigkeit und Bedeutung zukommen, die sie bis dahin nicht gehabt hatte. In jedem Alter ist es schwer, mit Trauer umzugehen. Wir sind nicht darauf vorbereitet. Es gibt kein Rezept. Und die meisten von uns versuchen, irgendwie damit zurechtzukommen. In meinem Falle bedeutete es, das Einzige zu tun, was ich kannte: alles runterzuschlucken und darauf zu hoffen, mit den Gefühlen des Verlustes und der Trauer, die mich zur völlig falschen Zeit erwischt hatten, nicht mehr umgehen zu müssen.
Doch ist es wie mit allem im Leben: Je mehr man sich gegen irgendetwas wehrt, umso mehr Druck erzeugt man. Und irgendwann will dieser Druck nach draußen. Machen wir einen Zeitsprung von ein paar Jahren: Ich bin Student an der Uni. Das erste Jahr fliegt vorbei, und das Leben könnte nicht besser sein. Doch dann drängen nach und nach diese Spannungen, die Gefühle, die ich immer wieder ignoriert habe,...