1. Einleitung
Der Islam gilt als die sich am schnellsten ausbreitende Religion in Afrika. Besonders auf junge Leute übt er eine starke Faszination aus. Die tiefe Enttäuschung über die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, verbunden mit dem sich immer stärker äußernden Unmut über die westliche Vorherrschaft im weltpolitischen Geschehen, kann man als äußere Gründe für dieses Phänomen sehen. Dazu kommt die Kritik am Westen als kulturzerstörerische Macht und die Angst, von ihm überrollt zu werden. Der wachsende Einfluß der Fundamentalisten stellt hierzu einen Gegenpol dar, denn er bietet die Einheit und das Selbstvertrauen einer starken Weltreligion.
Auch der Norden der Republik Sudan gehört zu den islamisierten Ländern Afrikas, da der die Politik und Gesellschaft bestimmende Norden des Landes islamisch ist. Der Norden forciert die Verbreitung des Islams in den Süden des Landes, was eine der Ursachen für den aktuellen Nord-Südkonflikt des Landes ist. Mit dem Islam verändern sich die gesellschaftlichen Bedingungen, und ein anderes religiöses und politisches Weltbild tritt an die Stelle der bis dahin gültigen Ordnung. Von den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen sind vor allem die Frauen betroffen, die sich durch die Islamisierung den vorwiegend patriarchalischen islamischen Machtverhältnissen beugen mußten*.
Mit dieser Arbeit versuche ich, ein Stück Lebensgeschichte von Frauen im Niltal der Republik Sudan einzufangen und zu vermitteln. Natürlich kann dies nur ein ganz kleiner Ausschnitt der Lebensbedingungen sein, die sich nach den jeweiligen regionalen, sozialen und politischen Gegebenheiten sehr voneinander unterscheiden können. Spezielle Probleme sollten auf jeden Fall durch weitere gezielte Feldforschung noch vertieft analysiert werden.
Die Strukturierung und die äußere Form der Arbeit wurden nach den Empfehlungen der Dudenredaktion (s. Poenicke 1988: 107 ff.) und den Richtlinien der Johann Wolfgang Goethe-Universität vorgenommen. Die Umschreibung arabischer Bezeichnungen erfolgte nach dem Transkriptionssystem der ISO (International Organization for Standardization) (s. Duden 1980: 85 ff.). Bei geographischen Namen und bei Personennamen wird demnach im Sudan der arabische Buchstabe dschim mit g (statt des sonst üblichen dsch) umschrieben. Nur bei dem arabischen Buchstaben zai wurde eine Abweichung von dieser Transkription vorgenommen. Statt der vorgeschlagenen Umschrift (zai = s) bin ich bei der in der Literatur gebräuchlicheren Form des z (zum Beispiel zar statt sar) geblieben. Die Schreibweise der Eigennamen und der Autoren richtete sich nach der entsprechenden Schreibweise der Autoren.
Arabisches Transliterations und Transkriptionssystem
1 Der arabische Artikel al wird getrennt, ohne Bindestrich davor
und danach sowie mit Majuskel-A geschrieben, z.B. Al Kahira.
Das l des arabischen Artikels al wird dem folgenden Buchstaben
oder der folgenden Buchstabengruppe angepaßt, und zwar:
l D > d D, l Dh > dh Dh, l N > n N, l R > r R, l S > s S,
l Sch > sch Sch, l T > t T, l Th > th Th,
z. B. Al Raschid > Ar Raschid; in den übrigen Fällen bleibt das
l des arabischen Artikels al erhalten, z. B. Al Dschauf, Al Kahira.
2 Vor Konsonantenbuchstabe der Transkription; am Wortende.
3 Dafür g in Ägypten und Sudan bei geographischen Namen und bei
modernen Personennamen.
4 Dafür gg in Ägypten und Sudan bei geographischen Namen und
bei modernen Personennamen.
5 Vgl. aber aw, aww.
6 Vgl. aber ay, ayy.
Auszug aus dem Transkriptionssystem des Dudens
(s. Duden 1980: 89).
1.1 Zur Themenwahl
Das Ziel meiner Arbeit ist die Beschreibung der Lebens-
bedingungen und der Lebensmuster von Frauen in der traditionellen islamischen Gesellschaft des sudanesischen Niltales unter Berücksichtigung historischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Gesichtspunkte. Anhand zweier, in den ruralen Gebieten des Niltales ansässigen Stämme, der Gaalijjin und der Schaikijja, versuche ich dabei, beispielhaft zu zeigen, in welchen Lebensbereichen Frauen auch nach der Islamisierung traditionelle Kultur weiterführen, welche Bereiche welchen Wandlungen unterliegen und welche Beziehungen zwischen dem Islam und den meist volksreligiösen Praktiken aufgestellt werden. Der Thematik, die ich in der Arbeit zu erörtern versuche, sind folgende Fragen übergeordnet:
Ist der Frauenbereich von dem öffentlichen Leben
tatsächlich so abgeschlossen ?
Welche Mechanismen entwickeln die Frauen untereinander,
um außerhalb ihres Hauses wirken zu können?
Haben sie dadurch ökonomische Vorteile?
In welchem Zusammenhang zur sozialen Ordnung stehen
die volksreligiösen Praktiken?
Ist die Ausübung volksreligiöser Praktiken nur als
willkürlich zu verstehen, oder gibt es spezielle
soziale Gruppen oder Personen, die sich hiermit bewußt
auseinandersetzen oder besonders von ihnen betroffen sind?
Welche Bedeutung haben diese Praktiken für die Frauen?
Die Basis für die später dargelegten Betrachtungen bildet ein einleitender Teil, der einen kurzen historischen, klimatischen und politischen Überblick über die behandelte Region verschaffen soll.
Diesem einleitenden Teil folgt im Hauptteil eine Darstellung der Lebenssituation der Frau im Nordsudan. Die Analyse der Geschlechterbeziehung in der islamisch geprägten Gesellschaft bezieht sich vor allem auf die ruralen Gebiete des Niltales. Die bearbeitete Literatur ist fast ausschließlich neueren Datums, um eine möglichst aktuelle Authentizität zu gewährleisten.
Zur Präzisierung des Themenkomplexes "weibliche Lebensmuster" habe ich einige volksreligiöse Praktiken der Gaalijjin und der Schaikijja ausgewählt. Anhand dieser Beispiele wird die These von einer frauenspezifischen Kultur, die sich besonders in den ruralen Gebieten des Niltales gebildet hat, erörtert.
Im letzten Teil werden die Konsequenzen aus dem Hauptteil gezogen und Hypothesen über das Selbstverständnis der Frauen und ihre möglichen Einflußnahmen auf die Gesellschaft entwickelt. Im Gegensatz zur Situation in den ländlichen Gebieten wird der soziale Wandel in der Stadt lediglich angesprochen. Er bietet in seiner Komplexität aber noch Stoff für umfangreichere und weiterführendere Untersuchungen.
1.2 Überblick über die Region
Die Demokratische Republik Sudan mit der Hauptstadt Khartoum umfaßt ein Gebiet von 967,500 Quadratmeilen und ist das größte Land auf dem afrikanischen Kontinent (s. Nelson u.a. 1973: 1). Die Topographie des Landes weist an der Nordgrenze des Landes eine Wüstenregion mit entsprechend wenig Niederschlag auf. In der zentralen Ebene herrscht jedoch ein semiarides Klima, während am humiden Äquatorgürtel, entlang der Südgrenze, bis zu sechzig Zoll Niederschlag im Jahr verzeichnet werden (s. Nelson u.a. 1973: vii). 1972 wurde die Bevölkerung im Sudan auf 16,2 Millionen geschätzt, mit einer Wachstumsrate von 2,5 Prozent.
Nahezu ein Drittel der Bevölkerung im Sudan bezeichnet sich als Araber. Der Terminus "Araber" wird im Sudan durch ethnische oder sprachliche Affinitäten definiert, aber meistens bezeichnet er kulturelle Charakteristika.
Der arabische Einfluß auf das Land begann nachweislich bereits im ersten Jahrhundert vor Christus durch arabische Händler und Reisende, die von der dort ansässigen Bevölkerung, den Bedscha, absorbiert wurden (s. Nelson u. a. 1973: 73). Nach dem Fall der nubischen Königreiche im dreizehnten Jahrhundert drangen arabische Beduinen in großer Zahl von Ägypten aus in den Norden des Landes. Sie verheirateten sich mit der ansässigen Bevölkerung, siedelten in dem Gebiet um den Nil und verbreiteten dort den Islam. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fiel das christliche Königreich Alwa, und der arabischen Expansion in den Süden des Landes wurde der Weg geebnet.
Nach der ägyptischen Invasion in den Sudan 1821 siedelten türkische, ungarische und...