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E-Book

Leib und Leben im Judentum

AutorRobert Jütte
VerlagJüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783633749898
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR


<p>Robert J&uuml;tte, geboren 1954, leitet seit 1990 das Institut f&uuml;r Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Von 1983 bis 1989 lehrte er Geschichte an der Universit&auml;t Haifa. Zu seinen Ver&ouml;ffentlichungen geh&ouml;rt eine <em>Geschichte der alternativen Medizin</em> (1996), eine <em>Geschichte der Sinne</em> (2000) und eine <em>Geschichte der Empf&auml;ngnisverh&uuml;tung</em> (2003) sowie zahlreiche andere B&uuml;cher.</p>

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Leseprobe

A ssejfer on a hakdome is wi a guf on a neschome.1

(Jiddisches Sprichwort)

 

 

1 EINLEITUNG


 

Was unterscheidet einen Nichtjuden von einem Juden? »Ein Goi hastet in der Früh aus dem Bett, schlüpft in seine Hosen, besprenkelt sich mit Wasser, fällt auf die Knie und stammelt seine Gebete. Dann rafft er sich auf, nimmt Platz und säuft ein Glas Schnaps, frisst ein Stück Brot und geht auf die Straße und treibt Handel. Danach kehrt er zurück in seine Hütte, setzt sich hin zu seinen Bälgern und seiner Alten, frisst sich an und säuft sich voll wie ein Schwein, um dann wieder loszurennen und die Welt zu täuschen. Abends geht er in die Kirche, bekreuzigt sich wie ein Esel, kommt zurück in seine Hütte, frisst sich wieder an und pennt.

Dagegen ein Jude! In der Früh erhebt er sich von seiner Bettstatt, legt sein Gewand an, wäscht sich überall und stellt sich hin, das Morgengebet zu sprechen. Dann nimmt er ein Gläschen von einem Getränk zu sich und ein Stück Brot und begibt sich nach draußen, um Geschäfte zu machen und Handel zu treiben … Danach begibt er sich nach Hause, setzt sich an den Tisch mit seiner Gemahlin und den Kinderchen, sie sollen gesund sein, sagt den Segen, isst, spricht das Tischgebet und begibt sich wieder zu seinen Geschäften auf die Straße hinaus. Vor Anbruch der Dunkelheit geht er zum Gottesdienst [minjan] in die Synagoge und betet das Abendgebet, kommt nach Hause, nimmt sein Nachtessen ein, betet das Nachtgebet und legt sich hin zum Schlafen.

So verbummelt der Goi seine paar Jährchen und krepiert, und man wirft ihn hinein in die Grube. Der Jude jedoch lebt still, so lang's ihm gewährt wird, und dann stirbt er, man bestattet ihn und legt ihn in ein jüdisches Grab.«2

Der Leser dieser Zeilen ist zunächst überrascht, dass in einer der bekanntesten jiddischen Sammlungen von Anekdoten, Sprichwörtern und Schwänken, Rosinkess mit Mandlen (Rosinen mit Mandeln), die gleiche Geschichte zweimal erzählt wird. Nur die Wortwahl und die Zuspitzung lassen das Leben des einen, nämlich des Juden, als lebenswerter erscheinen als das des anderen. Wie Sigmund Freud (1856-1939) bereits in seinem Buch über den Witz gezeigt hat, versuchen Juden oft, die eigentlich als bedrückend empfundene Situation zu ironisieren. Deshalb der schwarze Humor, für den jüdische Witze bekannt sind.

Die doppelte Sichtweise verblüfft noch aus einem anderen Grund; denn lange Zeit gehörte zum jüdischen Geschichtsverständnis die Überzeugung, dass ein Jude, der in der galut, der Diaspora, lebte und lebt, zu einem Leben voller Drangsal und Anfeindungen verdammt sei. Hier wird jedoch ein ganz anderes, selbstbewusstes Bild gezeichnet. Es ist der als moralisch höherwertig geschilderte Lebenswandel, der sich positiv von dem des Gegenübers, des Nichtjuden, der in der Mehrheitsgesellschaft lebt, abhebt. Das gleiche Motiv kennzeichnet übrigens einen jiddischen Kinderreim, der ultraorthodoxen Kindern in Jerusalem bereits im Kindergarten beigebracht wird: »Oj, wie schejn zu sajn a jid, oj, wie schwär zu sajn a goj!« (»Wie ist es doch schön, ein Jude zu sein, und wie schwer hat es dagegen doch ein Nichtjude!«) Ihn hörte ich zum ersten Mal, als ich Mitte der 1980er Jahre, damals in Haifa lebend und lehrend, eine Sendung des israelischen Fernsehens anschaute und mir verwundert die Augen rieb, was diese heranwachsenden Ultraorthodoxen wohl jemals in ihrem späteren, dem Studium religiöser Texte geweihten Leben von der Welt der Gojim mitbekommen würden. Denn stolz kann man eigentlich nur auf etwas sein, wenn man das Gegenteil kennt.

Wie der eingangs geschilderte Vergleich zwischen einem Goi und einem Juden belegt, macht sich die behauptete, durch die abwertende Wortwahl unterstrichene Differenz vor allem an körperlichen Praktiken fest. Dazu gehören das morgendliche Aufstehen, die Hygiene, die Nahrungsaufnahme, die körperliche Bewegung, der Schlaf, aber auch das Ende der Leiblichkeit, der Tod. In allen Bereichen übertrifft angeblich der Jude den Christen, dessen Leben als trostlos und wenig beneidenswert geschildert wird. Das Jiddische verstärkt durch seine plastische, geradezu körperbetonte Sprechweise diesen Eindruck. Doch neutralisiert man beide Texte, nimmt ihnen die weltanschaulich-religiöse Färbung, so entdeckt man, dass der Alltag eines Juden sich kaum von dem eines Nichtjuden unterscheidet, und zwar bis in die Körperpraktiken hinein.

Kein Geringerer als Shakespeare hat die Erkenntnis, zu der man gelangt, wenn man den jiddischen Text gegen den Strich bürstet, so prägnant auf den Punkt gebracht und dramaturgisch klug gestaltet. Gemeint ist die berühmte Stelle aus dem Kaufmann von Venedig, in der Shakespeare, der keinen Juden persönlich gekannt haben dürfte, Shylock verzweifelt ausrufen lässt: »Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ?«3 Doch diese Betonung der Gleichheit von Christen und Juden vor den Gesetzen der Natur, denen auch die menschliche Physis und Psyche unterworfen sind, verhallte bekanntlich ungehört und wird durch den Verlauf des Stücks geradezu konterkariert.

Dass in der Tat die Juden damals (zumindest in Venedig) äußerlich kaum von Christen zu unterscheiden waren, bezeugt der englische Reisende Thomas Coryat (ca. 1577-1617), der 1608 das Ghetto in Venedig besuchte und erstaunt feststellte, dass das englische Sprichwort »to look like a Jew« (wie ein Jude aussehen) an diesem Ort keinen Bezug zur Wirklichkeit hatte: »Ich stellte fest, dass einige wenige dieser Juden, insbesondere einige Levantiner, so gute und ordentliche Männer sind, dass ich zu mir selbst sagte, dass unser englisches Sprichwort ›Aussehen wie ein Jude‹ (worunter man manchmal einen wettergegerbten Kerl mit windschiefem Gesicht, manchmal eine rasende, verrückte Person, manchmal einen Unzufriedenen versteht) nicht wahr ist. Denn in der Tat schienen sie mir die elegantesten und am schönsten gestalteten Personen, was mir umso mehr dazu Anlass gab, ihre Religion zu bedauern.«4

Was Coryat hier zum Nachdenken über Stereotype bringt, die durch Redeweisen und populäre Bilder verstärkt werden, war für viele seiner Zeitgenossen eher ein Anlass zur Sorge.5 Wie sollte man dann überhaupt einen Juden erkennen, wenn nicht an seinem Äußeren? Hier setzte bereits die spätmittelalterliche Judenkennzeichnung an, und zwar durch Kleidungsvorschriften (negativ konnotierte und grelle Farben sowie bestimmte Accessoires wie z. ‌B. ein aufgenähter gelber Ring). Auf diese Weise glaubte man, einen Juden, der häufig nicht die angeblich typischen Körpermerkmale wie gebogene Nase oder Bart aufwies, gleich identifizieren zu können.6 Und selbst nach der Konversion blieb in christlichen Kreisen bis weit in die Neuzeit hinein das Misstrauen, ob die Taufe wirklich aus dem Juden einen neuen Christenmenschen gemacht hatte, wenn es nicht eindeutige körperliche »Beweise« dafür gab. So kursierten Legenden, dass getaufte Juden angeblich nicht mehr stinken, wie man dies ihren früheren Glaubensgenossen nachsagte. Und wenn solche wundersamen Transformationen des Leibes ausblieben, dann musste ein Konvertit zumindest seine Körperpraktiken an die neue Umgebung anpassen. Gerade in Inquisitionsprozessen, in denen zwangsgetaufte spanische Juden (marranos) vor Gericht standen, weckten verdächtige Körperpraktiken Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Konversion. Als Test diente zum Beispiel der »richtige« Umgang mit einer Leiche.

Was uns heute zunächst als Anachronismus erscheint, spielt gleichwohl auch in unserer modernen Gesellschaft noch eine Rolle. Nicht wenige Konvertiten versuchen, den Glaubenswechsel oder Religionswechsel durch eine Veränderung körperbezogener Praktiken zu bekräftigen. So existieren beispielsweise religionssoziologische Untersuchungen zu amerikanischen Juden, die ihre ultraorthodoxen Elternhäuser verlassen haben und danach das Bedürfnis empfanden, diesen Schritt durch neue Körpertechniken (z. ‌B. wie man morgens aufsteht, sich tagsüber ernährt oder kleidet) zu unterstreichen.7 Dabei ist es offenbar unerheblich, ob die Betroffenen nur zu einer weniger orthodoxen Glaubensrichtung gewechselt oder atheistisch geworden waren. Auch für andere Glaubensgemeinschaften werden ähnliche Verhaltenswechsel nach erfolgter Konversion beschrieben.8 Allerdings fehlen dazu bisher Untersuchungen von Historikern, die diesem religionssoziologischen Phänomen in früheren Zeiten nachspüren.

Doch warum soll man sich als Historiker überhaupt mit dem Körper befassen, zumal mit dem jüdischen? Hat dieser überhaupt eine Geschichte?

Dass der Körper nicht nur biologisch zu betrachten ist, sondern auch eine historische Dimension hat, ist in den letzten Jahrzehnten von der sogenannten Körpergeschichte überzeugend dargelegt worden.9 Die grundlegenden methodischen Debatten sind inzwischen geführt, die soziale Konstruktion des Körpers wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Inzwischen geht es vor allem darum, »mittels Fragen nach überlieferten Körpervorstellungen und -praktiken [zu] versuchen, Antworten auf Gesellschaftskonstituierung zu finden«.10 Dieser »corporal turn« in der Geschichtswissenschaft hat...

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