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E-Book

Siegfried Kracauer

Eine Biographie

AutorJörg Später
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl743 Seiten
ISBN9783518748046
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Siegfried Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, gestorben 1966 in New York, war in seinem Leben vieles: Architekt und Schriftsteller, Redakteur der Frankfurter Zeitung und gefragte Person des Weimarer Kulturbetriebes, Teil des philosophischen Quartetts mit Adorno, Benjamin und Bloch, Jude und politischer Linker. Von 1933 bis 1941 war er auf der Flucht, zuerst nach Paris, um dann über Marseille und Lissabon nach New York zu gelangen. Dort mischte er in der psychologischen Kriegsführung mit, betätigte sich aber auch als Filmschriftsteller, als Sozialwissenschaftler und zuletzt als das, was er immer war: ein philosophischer Autor.

Jörg Später hat sich auf die Spuren dieses facettenreichen Lebens begeben und die erste große Biographie über diesen außergewöhnlichen Mann geschrieben. Er beleuchtet die Orte und Milieus, lässt uns an den Freundschaften teilhaben und bringt die Werke zum Sprechen. Nicht im Stile einer der Objektivität verpflichteten Chronik zeichnet er das Leben Siegfried Kracauers nach, sondern als große Erzählung einer Existenzbewältigung, die Licht auf ein Jahrhundert der transzendentalen wie profanen Obdachlosigkeit wirft.

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<p>Jörg Später, geboren 1966, ist Historiker und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg.</p>

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Leseprobe

2

Die frühen Dinge: Vor 1918

Siegfried Kracauer wurde am 8. Februar 1889 geboren, im selben Jahr wie Charlie Chaplin und Adolf Hitler, zwei Figuren, die sein Leben beeinflussen sollten. Seine Geburtsstadt war Frankfurt am Main, eine historisch gewachsene Großstadt an einem Fluß, zwischen Mittelgebirgen, wie Kracauer sie 1928 in seinem Roman Ginster porträtierte. Wie andere Städte auch, nutzt sie ihre Vergangenheit zur Hebung des Fremdenverkehrs aus. Kaiserkrönungen, internationale Kongresse und ein Bundesschützenfest fanden in ihren Mauern statt, die schon längst in öffentliche Anlagen umgewandelt sind. Dem Gärtner ist ein Denkmal gesetzt. Einige christliche und jüdische Familien führen ihre Entstehung auf Ahnen zurück. Auch Familien ohne Herkunft haben es zu Bankfirmen gebracht, die Beziehungen mit Paris, London und New York unterhalten. Kultstätten und Börsen sind nur räumlich voneinander getrennt. Das Klima ist lau, die nicht im Westend wohnhafte Bevölkerung, zu der Ginster gehörte, kommt kaum in Betracht. Da er überdies in F. aufwuchs, wußte er von der Stadt weniger als von anderen Städten, die er nicht kannte.1 Das hatte Kracauer geschrieben, bevor nach 1933 die jüdischen Bürger und Bürgerinnen der Stadt zunächst stigmatisiert und entrechtet, dann beraubt und ghettoisiert, schließlich deportiert und getötet wurden. Kracauer selbst war dann nicht mehr dort, sondern bereits in Städten, zu der die Priester des Kapitalismus Beziehungen unterhalten hatten. Wie in F. wohnte er allerdings auch in Paris und New York nicht im Westend und kam noch weniger in Betracht. Nun allerdings wusste er einiges Wesentliches über F., wo er aufgewachsen war, was er vorher nicht wusste.

Siegfried Kracauer hatte flüchten müssen und sein Zuhause verloren. Nach 1945 gab es keine Heimkehr, aber nach 1956 eine Rückkehr. Symptomatisch war ein Brief, den er im Oktober 1959 in New York von einer Dame aus Frankfurt erhielt, die sich an zwei Veröffentlichungen Kracauers zu erinnern meinte, die über dreißig Jahre zurücklagen und einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen hatten: »Der Bruder des verlorenen Sohnes« und »Das Verbrechen des Ornaments«.2 Freilich hatte Kracauer keine so betitelten Texte verfasst. Vielleicht hatte die Dame nach all den Jahren, in denen Wasser den Main hinuntergeflossen war, nur ein bisschen was durcheinandergebracht: Soma Morgenstern, ein jüdischer Kollege Kracauers von der Frankfurter Zeitung, hatte 1935 einen Roman mit dem Titel Der Sohn des verlorenen Sohns veröffentlicht; und Adolf Loos, wie Kracauer Architekturkritiker, hatte 1908 seinen berühmten Essay »Ornament und Verbrechen« geschrieben; Kracauer selbst war schließlich Autor des Aufsatzes »Das Ornament der Masse« (1928). Vielleicht waren die falschen Zuordnungen bloßer Zufall. Dass aber die Worte vom »verlorenen Sohn« und vom »Verbrechen« in einem Atemzug und in Bezug auf Kracauer fielen, hätte sich kein Psychoanalytiker besser ausdenken können. »Ach! Hätte mer die Judde noch!« hieß es so manches Mal nach 1945 zunächst mit Blick auf das zerbombte Frankfurt (dem Massenmord war demnach das Strafgericht gefolgt) und später angesichts des Verlusts von rund 30000 Frankfurter Juden, die diese Stadt mitgestaltet hatten.3 Dazu gehörte Siegfried Kracauer, ein Frankfurter »Bubb«, der Mundart reden konnte, aus einer Familie, die aus einer Kreuzung von jüdischen Einheimischen und jüdischen Zuwanderern bestand.4 Adolf und Isidor Kracauer, zwei Brüder aus Schlesien, der eine Handelsvertreter, der andere ein studierter Lehrer, heirateten die beiden Schwestern Hedwig und Rosette Oppenheim aus Frankfurt, die eine hochgebildet und intellektuell, die andere praktisch veranlagt, aber ungeschickt im Umgang mit Menschen.5

Frankfurt am Main war für deutsche Verhältnisse immer eine wohlhabende Stadt gewesen. Das hatte sie vor allem dem Handel zu verdanken, den auch die vielen Kriege nicht zerstören konnten. Seit 1240 stand die prosperierende Messe unter kaiserlichem Schutz, stets gab es eine sehr wohlhabende Oberschicht, hervorgegangen zunächst aus den Restbeständen des mittelalterlichen grundbesitzenden Adels und dann, nach der Reformation, ergänzt von vermögenden und zugezogenen Franzosen, Niederländern, Italienern, die sich in Frankfurter verwandelten. »Als letzte vor 1866«, so Selmar Spier, Kracauers Jugendfreund und Autor eines schönen Buches über das Frankfurt vor 1914, »waren die Juden zu den Frankfurter Bürgern gestoßen, die Mitglieder der Jahrhunderte alten Judengemeinde«, deren Quartier die »Judde’gaß« gerufen wurde, darunter Mayer Amschel Rothschild (1744-1812), der Begründer der Rothschilddynastie.6 Die Industrialisierung verlief am Untermain weder gleichmäßig noch reibungslos. In den Außenvierteln siedelten sich mechanische und chemische Fabriken an, aber die patriarchalisch herrschenden Kräfte der Stadt wehrten sich bis in die 1870er Jahre erbittert gegen die Industrialisierung, von der sie Schaden für Handel und Luxus befürchteten. Gefahr drohte auch politisch: 1866 verlor Frankfurt den Status eines unabhängigen Stadtstaates mit der Annexion durch Preußen. Trotz der konservativen oder sogar restaurativen Kräfte erlebte die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen enormen Modernisierungsschub, vor allem dank demokratisch gesinnter Bürger, denen sich die emanzipatorisch gesinnten Frankfurter Juden anschlossen. Der Eiserne Steg und die Oper, der Palmengarten und die Universität, der Hauptbahnhof und die Osthafenerweiterung veränderten das Gesicht der Stadt, die zu einer modernen Großstadt wurde. Zwischen 1872 und 1884 wurde auch das jüdische Ghetto abgerissen. Detlev Claussen fasst diese große Frankfurter Transformation unter dem Begriff der »paradoxen Moderne in wilhelminischer Gestalt« zusammen: eine »Erfahrung des Liberalismus als einer gesellschaftlichen Mischform, in der sich feudale Relikte mit den Kräften des Industrialismus kreuzen«.7 Das galt insbesondere für die jüdischen Bürger: »Es gab zwar Gleichheit vor dem Gesetz, und im Reich (wenn auch nicht in Preußen) allgemeines gleiches Wahlrecht zum Parlament und Preß- und Gewerbefreiheit«, so Selmar Spier, »aber sonst war alles noch lebendig, was 1900 Jahre Christentum und 250 Jahre Kleinstaaterei an Gegensätzen, Klassen, Abneigungen, vorgefaßten Meinungen hervorgebracht hatten.«8

Sinnbild der jüdischen Verbürgerlichung war die Frankfurter Zeitung, Kracauers spätere Arbeitgeberin. Ihr Gründer, der Bankier Leopold Sonnemann (1831-1909), war ein »Achtundvierziger« und Anhänger des Nationalparlaments in der Paulskirche. Seit 1856 erschien die Zeitung als Börsenblatt, die im Laufe des folgenden Jahrzehnts verschiedene Namen trug und auch einen politischen Teil erhielt. Im Jahr 1866 floh Sonnemann vor den in Frankfurt einrückenden preußischen Truppen, kehrte aber bald zurück. Von nun an, es war der November 1866, erschien die Zeitung unter dem Namen Frankfurter Zeitung.9 Sonnemann war der idealtypische Frankfurter jüdische Großbürger mit demokratischer Gesinnung, ein Stadtverordneter und Mäzen, der die städtischen Einrichtungen unterstützte, unter anderem das Städelsche Kunstinstitut und die Stiftungsuniversität.10 Er war ein Sozialreformer, der den Zweifrontenkampf gegen Bismarck und Lassalle suchte. Die von ihm bis zu seinem Tod herausgegebene Zeitung folgte der sozialliberalen Linie der Deutschen Volkspartei, ohne ein Parteiblatt zu sein; sie war prokapitalistisch und lehnte zugleich den Scheinkonstitutionalismus des Kaiserreichs ab. Zudem war sie von jener erwähnten eigentümlichen Frankfurter paradoxen Modernität geprägt. Paul Arnsberg, nach 1945 Chronist der Frankfurter Juden, stellte fest: »Die ›Frankfurter‹ galt sicher als fortschrittlich und liberal, war aber dem Frankfurter Lokalcharakter gemäß in ihrer ›Infrastruktur‹ beinahe im Barockstil patrizierhaft und konservativ.« Innerhalb der Zeitung hatte Sonnemann eine kollegiale Verfassung etabliert, und die Redaktion war vom Verleger unabhängig. Aber »bei aller Redaktions-›Konferenz‹-Demokratie herrschte dort das ungeschriebene Gesetz der festgefügten Hierarchie und Autorität, welches sich auch in dem Stil und der Art des Mobilars« in der Großen Eschenheimer Straße 81-87 ausdrückte.11 Mit dem Aufstieg Frankfurts zur führenden Banken-, Handels- und Industriestadt erblühte auch die fortschrittlich-konservative FZ und wurde zu Deutschlands angesehenstem Blatt mit internationaler Bedeutung. Außerhalb Frankfurts beachtete man sie vermutlich stärker als in der Stadt selbst.12 Das änderte sich auch nicht, als Sonnemann nach 1910 die Geschicke seinen Enkeln Heinrich und Kurt Simon überließ.

Siegfried Kracauers Frankfurter Kindheit um 1900 war offenbar keine besonders freudvolle. Über seine Familiengeschichte wusste er, der von allen Friedel gerufen wurde, lange Zeit so gut wie nichts. Es war zuhause nicht darüber geredet worden. Erst als es ans Sterben ging, stieg der Onkel in seine Kindheit, dabei schien sein Geist etwas verwirrt. Auch die Mutter hatte ihre Jugend gehabt, lauter verborgene Kinderjahre, um die er nicht wußte, und es ging immer noch weiter zurück, wie bei einer Schreibtischschublade von unermeßlicher Tiefe. Vergeblich suchte Ginster sie...

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