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E-Book

Kämpfe um die Menschenwürde

Die Debatten seit 1949

AutorManfred Baldus
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl451 Seiten
ISBN9783518748640
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


<p>Manfred Baldus (1963-2021) war Professor f&uuml;r &Ouml;ffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Staatswissenschaftlichen Fakult&auml;t der Universit&auml;t Erfurt und Mitglied des Th&uuml;ringer Verfassungsgerichtshofs.</p>

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Leseprobe

16Kapitel 2: Parlamentarischer Rat


Ohne die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, die neue Verfassung gleich mit dieser Norm von der Würde des Menschen beginnen zu lassen, hätte diese wohl kaum jene herausragende und alles überwölbende Stellung erreichen können. Aber war dies vom Parlamentarischen Rat beabsichtigt? Was bewog ihn bei seiner Entscheidung, die, aus der Retrospektive betrachtet, von so außerordentlicher Wirkung war? Und: Welche Vorstellungen verband er mit dieser Norm?

Schon seit längerer Zeit wird intensiver diskutiert, was die Mitglieder des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948 und 1949 motiviert hat. Die Diskussion kreist um die folgenden Fragen:

–  Wollte der Parlamentarische Rat die Grundrechte durch die Würdenorm naturrechtlich verankern? Ging er davon aus, dass dem positiven staatlichen Recht ein Komplex naturrechtlicher Normen vorgelagert ist, ja jenem zugrunde liegt und ihn im Kollisionsfall verdrängt?

–  Hatte er vor, mit dieser Norm Stellung zu nehmen zu einem großen Thema der Philosophie- und Theologiegeschichte, zu Fragen wie der nach der Stellung des Menschen in der Welt, seinen Attributen, den Merkmalen, die ihn gegenüber anderen Lebewesen auszeichnen?

–  Beabsichtigte der Rat, mit dieser Norm eine Brücke zu bauen hin zu den zahlreichen, kaum zu überschauenden Würdekonzepten der Geistesgeschichte, damit sich die späteren Rechtsanwender ermächtigt sehen konnten, diese Konzepte zu ermitteln und sie dann bei ihren Argumentationen und Entscheidungen zugrunde zu legen? Zielte er also darauf, eine offene Formel zu installieren, die im Grunde zur Rezeption jener Konzepte aufforderte?

–  Reagierte der Parlamentarische Rat mit der Würdenorm allein auf die nationalsozialistische Vergangenheit oder auch auf die 1948 und 1949 bekannten Erscheinungsformen bolschewistischer Herrschaft der UdSSR, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges bestrebt war, die von ihr besetzten Gebiete in Osteuropa 17zu sowjetisieren? Oder hatte er einen von der unmittelbaren historischen Realität völlig losgelösten Umgang mit der Menschenwürde im Sinn?

–  Welche konkreten Inhalte legte der Parlamentarische Rat der Würdenorm bei?

–  Welche Art von Norm hatte der Rat im Sinn? Wollte er sie als Grundsatz oder als Grundrecht verstanden wissen? Sollte sie allein gegenüber dem Staat oder auch zwischen Bürgern gelten?6

Zu diesen Fragen lassen sich den edierten Quellen zur Arbeit des Parlamentarischen Rates Schlüsselzitate entnehmen, die im Folgenden wiedergegeben werden. Diese Zitate stammen von Teilnehmern des Verfassungskonventes von Herrenchiemsee, von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und zudem von Richard Thoma, der als Verfassungsexperte eine kritische Würdigung zu dem vom Grundsatzausschuss beschlossenen Grundrechtskatalog verfasst hatte. Diese Würdigung war den Mitgliedern des Rates zur Kenntnis gebracht und in die Beratungen eingeführt worden.

I. Vorstellungen und Absichten


1. Naturrechtliche Verankerung?


Im Abs. 1 wird ausgedrückt, daß die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur aus gegeben sind.

(Ludwig Bergsträsser; SPD, September 1948)

Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird. […] Die Sätze des Naturrechts wurden daher in den auf Art. 1 folgenden Grundrechtsartikeln, auf die Abs. 3 verweist, aufgezeichnet und in die für die unmittelbare Rechtsanwendung erforderliche Form gebracht. Diese Verweisung stellt für die Auslegung fest – es ist wichtig, sich das klar zu machen –, daß die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann. […] So besteht die Möglichkeit, die naturrechtlichen Auffassungen in die Grundrechte, wie sie hier gefaßt worden sind, stets neu hinein zu interpretieren. […]. Art. 1 gibt die Möglichkeit, auf Grund 18der Verweisung auf das Naturrecht die Grundrechte den Erfordernissen und Bedürfnissen der Zeit anzupassen.

(Hermann von Mangoldt, CDU, September 1948)

Nun ist Abs. 1 schon eine bedenkliche Sache. […] Nicht zu allen Zeiten hat man an Rechte, die einem von Natur zustehen, so geglaubt, wie heute. Ich erinnere da an den Satz des erstaunlichen Burke, der im Gegenstoß gegen die französische Revolution das Wort sagte, ›von Natur aus‹ habe der Mensch überhaupt keine Rechte; was als konkrete Rechte der Menschen in Erscheinung trete, seien Dinge, die dem Menschen geschichtlich zugewachsen sind, Produkte von Dezisionen, Institutionen im Lauf seiner Geschichte. […] wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ›Naturrecht‹ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen, ist eine gefährliche Sache. […] Wenn wir an dem Satz von dem naturgegebenen Recht festhalten, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit jedermann freistellen, zu sagen, Naturrecht, wie ich es auffasse. Man muß enumerativ vorgehen und so eine zu willkürliche Ausdehnung ausschließen.

(Carlo Schmid, SPD, September 1949)

Es ist an sich richtig, die Betonung der Vorverfassungsmäßigkeit der Grundrechte führt zu einer gewissen Uferlosigkeit. Die Rückkehr zum Naturrecht, die wir heute erleben, ist die Reaktion auf einen falsch verstandenen Rechtspositivismus. […] Ich bin der Auffassung, dass man keine Naturrechtssätze unmittelbar anwenden kann.

(Georg August Zinn, SPD, September 1948)

Vielmehr müssen wir von einem historischen Naturrechtsbegriff, der nur scheinbar eine contradictio in adjecto ist, ausgehen und sagen: In dieser Sphäre der geschichtlichen Entwicklung sind wir Deutsche nicht bereit, unterhalb eines Freiheitsstandards zu leben, der den Menschen die und die Freiheiten als vom Staate nicht betreffbar garantiert.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Aber ich glaube nicht an die von Natur aus eigenen Rechte.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

19Man kann nicht alles aus dem Naturrecht ableiten. Aber das Naturrecht ist gleichwohl wichtigste Grundlage.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Ich möchte das Naturrecht als Katalog von Rechtsverbindlichkeiten nicht nehmen, sondern das Naturrecht nur als Basis und Mittel einer moralischen Überprüfung ansehen. […] In meinem Vorschlag steht die »Würde des menschlichen Wesens« als nicht interpretierte These. Deshalb sage ich nicht, daß sie vom Staate geschützt wird, sondern daß sie im Schutze der staatlichen Ordnung steht. Ich sehe darin schon eine Abwendung vom Staat als Machtapperatur. Auch hier gilt der Satz: Homo homini lupus. (Theodor Heuss, FDP, September 1948)7

2. Brücke zu Würdekonzepten aus Philosophie und Theologie?


Im übrigen haben wir Wert darauf gelegt, die Artikel so zu formulieren, daß sie eine gewisse Wirkung haben, gut klingen, aber auch die ethische Grundlage des neuen Gebildes klar herausstellen.

(Ludwig Bergsträsser, SPD, September 1948)

Was ist die Menschenwürde? Das müsste definiert werden. Die Verfassung von Württemberg-Baden hat eine solche Definition zu geben versucht.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Der erste Satz muss sozusagen das Ganze decken. Ich habe da vor mir selber ein Gefühl der Unsicherheit. Ich möchte bei der Formung des ersten Absatzes von der Menschenwürde ausgehen, die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen kann.

(Theodor Heuss, FDP, September 1948)

Es bleibt dem Einzelnen unbenommen, ob er von religiösen, philosophischen, ethischen oder geschichtlichen Einsichten ausgeht. Aber daß wir in der geschichtlichen Stunde die Würde des Menschen an den Anfang der Verfassung stellen, halte ich für sehr bedeutsam.

(Helene Weber, CDU, September 1948)

Die Formulierung beginnt sehr zweckmäßig mit der Würde, eine Eigenschaft, die bestimmend für den Menschen ist und den Menschen 20von anderen Geschöpfen unterscheidet. Der Mensch ist innerhalb der Schöpfungsordnung ein Wesen, dem eine spezifische Würde zukommt. Dann wird gesagt: Die Würde, dieses Attribut des Menschen, steht im Schutze der staatlichen Ordnung. Die Würde ist das Primäre, der Schutz durch die staatliche Ordnung das Sekundäre.

(Carlo Schmid, SPD, September 1948)

Die Formulierung »Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung« […] löst […] beim einfachen Mann, der sich nicht in philosophischen Gedankengängen zu bewegen pflegt, eine gewisse erhebende Wirkung aus.

(Anton Pfeiffer, CSU, September 1948)

Um eine Antwort auf die Frage, worin die eigentümliche Würde begründet ist, die wir allem, was Menschenantlitz trägt, zusprechen, müssen sich Philosophen und Theologen bemühen. Der Verfassungsgesetzgeber kann diese Antwort nicht geben und jedenfalls ist die Menschenwürde nicht »in ewigen Rechten« begründet, sondern sind umgekehrt die Menschenrechte aus der Menschenwürde abzuleiten. In dem Maße, in dem sich die in der Ethik des Christentums wurzelnden humanitären Postulate der Aufklärungsphilosophie...

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