3Bewegungsgrundlagen unseres Körpers
Gastbeitrag von Prof. Dr. Albrecht May
Die menschliche Bewegung ist zielgerichtet. Das bedeutet, dass sie nicht – wie in vielen Büchern vereinfacht dargestellt – als Impuls im Gehirn entsteht und dann mechanisch-mechanistisch als Programm abläuft, sondern dass sie nur als integriertes Phänomen von Aktivität, Wahrnehmung und Zielorientiertheit adäquat beschrieben werden kann.2 Man kann zwar einzelne Aspekte dieser Bildeinheit voneinander trennen, muss sich jedoch von der Vorstellung verabschieden, damit eine Bewegung verstanden zu haben.
Wenn wir uns in diesem Kapitel mit den Grundlagen der Bewegung auseinandersetzen, dann geschieht dies aus dem Blickwinkel der zielgerichteten Aktivität. Aspekte der Wahrnehmung finden sich in anderen Kapiteln.
Bewegung als Zeitgestalt
Wir beschreiben Bewegungen unseres Körpers häufig anhand bestimmter, definierbarer Muskeln und vergessen dabei meistens, dass solche Bewegungen im alltäglichen Leben nicht vorkommen. Ein einfaches Beispiel ist die Beugung des Armes im Ellenbogen, die landläufig mit dem zweiköpfigen Oberarmmuskel (Bizeps) assoziiert wird. Beobachtet man an sich selbst diese Bewegung genauer, wird man feststellen, dass hier nicht nur der Bizeps eingesetzt wird, sondern in der Regel eine ganze Gruppe von Muskeln am Oberarm sowie an der Schulter und eventuell am Rumpf. Scheinbar so einfache Bewegungen wie die Armbeugung entwickeln sich bei solch einer Betrachtung zu einem komplizierten Zusammenwirken unterschiedlichster Muskeln, das in seiner Komplexität nicht mehr beschreibbar ist.
Selbst unter isolierten, experimentellen Bedingungen kann eine Bewegung nicht zweimal identisch durchgeführt werden. Das liegt neben den schon genannten Bewegungsmöglichkeiten des Skeletts und seiner Gelenke auch am Aufbau und der Möglichkeit eines Muskels: Für eine bestimmte Kraft- bzw. Bewegungsdosis verwendet der Muskel eine definierte Anzahl von Muskelfasern, die auch bei größter Belastung niemals mehr als 70 % der Gesamtanzahl eines Muskels erreicht. Welche Fasern bei einer konkreten Bewegung aktiviert werden, hängt von verschiedensten Faktoren ab (z. B. wann wurde die Muskelfaser zuletzt eingesetzt, welche verschiedenen Fasertypen befinden sich an einer bestimmten Stelle im Muskel). Die Kombination erfolgt als »statistischer Zufall« und ändert sich während der Muskelaktivität laufend, um den einzelnen Muskelfasern eine Erholung zu ermöglichen. Eine konstante Position oder Bewegung ist auf dieser Ebene eine Illusion. Der Vorteil dieser Unruhe liegt in einer schnellen Reaktionsfähigkeit und Korrigierbarkeit; der Wechsel von Bewegung und Haltearbeit gelingt so fließend. Der Muskel passt sich in seiner Zusammensetzung der einzelnen Fasern an seine Beanspruchung an – eines der zentralen körperlichen Aspekte des Trainierens / Übens.
Die Muskeln stehen in enger Beziehung zum Nervensystem, das die Bewegung wahrnehmen und koordinieren kann. Die Bewegung selbst wird vom Muskel durchgeführt, der sich an einem vom Willen ausgemachten Ziel in der Zukunft orientiert. Da der Wille nur einen Impuls für die Bewegung geben kann, die einzelnen Muskeln diesen Impuls jedoch nicht selbst an die Gesamtsituation anpassen können, bedarf es eines komplexen Nervensystems, welches diese Koordination übernimmt.
Die Zielgröße für die Bewegung ist beim Streichinstrument auf der körperlichen Ebene die Lage der Finger am Griffbrett und am Bogen. Die Beherrschung der Finger ist dabei eine durch Üben erreichbare Fähigkeit, verschiedene Bewegungsmöglichkeiten auf das Ziel bezogen zu korrigieren. Dieser komplizierte Satz soll klarlegen, dass es beim Spielen eines Instruments nicht wie bei manchen anderen Trainings- oder Übungsaspekten um die Bildung von starren Bewegungsprogrammen geht (die generell als kritisch zu bewerten sind), sondern vielmehr um den virtuosen Einsatz der Koordinationsmöglichkeiten des Nervensystems. Die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten hängen von der Menge unterschiedlicher Muskeln ab, die eine Variation ihres Einsatzes erlauben. Eine daraufhin ausgerichtete Muskel-Lehre unterscheidet zweckmäßig zwischen eingelenkigen Muskeln, die jeweils klar definierbare Bewegungen ermöglichen, und mehrgelenkigen Muskeln, deren Aufgabe in der spielerischen Variation und Kombination mehrerer Gelenke liegt.
Je mehr eingelenkige Muskeln in eine Bewegung integriert werden, desto starrer (automatenhaft) wird der Bewegungsablauf und desto weniger ausgeprägt sind die Korrekturmöglichkeiten. Ziel einer fließenden Bewegung ist also die Einbeziehung möglichst vieler mehrgelenkiger Muskeln im Sinne von übergreifenden Muskelketten. Diese beginnen am Rumpf und ziehen bis zu den Finger-Endgliedern. Wird ein Gelenk durch übermäßige Muskelanspannungen der eingelenkigen Muskeln funktionell »blockiert«, dann können auch die mehrgelenkigen Muskeln nicht mehr effektiv agieren. Schon das Eigengewicht des Arms kann da störend wirken!
Strukturelemente der Bewegung
Der zur Verfügung stehende Bewegungsapparat gliedert sich in eine statische Komponente (Knochen und Gelenke), die Grundlage für die Gestalt und Beweglichkeit ist, und eine dynamische Komponente (Muskulatur), die aktiv Form und Bewegung immer wieder neu realisiert.
Die Skelettgestalt der Gliedmaßen (Arme und Beine) ist durch die Bildung eines Strahlenfächers charakterisiert, der über ein einzelnes, in viele Richtungen bewegliches Gelenk (Schulter bzw. Hüfte) am Rumpf seinen Ausgang nimmt und sich dann zunehmend auffächert. Mit der Zunahme der Gelenkzahl reduziert sich die Beweglichkeit der einzelnen Gelenke, sodass diese nur noch in einer Ebene bewegt werden können (z. B. Beugung und Streckung der Finger und Zehen). In der Summe der Einzelgelenke entsteht jedoch am Ende der Gliedmaßen ein feines, differenziertes Bewegungsfeld, das die strahlenförmigen (radiären) Tendenzen abbremst und eine Raumstruktur bildet: das eher starre Fußgewölbe bzw. die flexible Hohlhand.
Die Muskeln der Gliedmaßen kann man nach ihrer Anordnung in zwei Gruppen einteilen: Die eine Gruppe zeichnet sich durch einen langen Verlauf über mehrere Gelenke aus; sie sind besonders geeignet, Kräfte zu verteilen und harmonische Bewegungen zu führen (lila Verbindungen in Abb. 1). Die zweite Gruppe besteht aus eher großen Muskeln, die jeweils nur über ein Gelenk ziehen; sie sind besonders geeignet zur Kraftentwicklung und zum Stabilisieren des Gleichgewichts (rote Verbindungen in Abb. 1). Dieses Grundprinzip findet sich bei allen Gliedmaßen, wobei die eingelenkigen Muskeln zu den Fingern und Zehen hin abnehmen.
Abbildung 1: Schema der Muskelverbindungen einer Gliedmaße (rot: eingelenkige Muskeln; lila: mehrgelenkige Muskeln)
Die Muskelketten der oberen Gliedmaßen
Beobachtungen beim Menschen zeigen, dass es zwei grundsätzlich gegenläufig angelegte Muskelketten am Arm gibt. In ihrer Beschreibung von der Hand zum Rumpf beginnt die eine in der Handinnenfläche und zieht über die Beugerseite des Unterarms an die Vorder- und Innenseite des Oberarms und an die vordere Brustwand (ventrale Muskelkette). Die andere beginnt am Handrücken und zieht über die Streckerseite des Unterarms an die Hinter- und Außenseite des Oberarms und von dort zum Rücken (dorsale Muskelkette). Die großflächig angelegten und oberflächlich liegenden mehrgelenkigen Muskeln vom Rumpf zum Arm deuten auf eine wichtige Integration dieser Muskeln bei der Armbewegung hin.
Dorsale Muskelkette (Abb. 2)
Der breite Rückenmuskel ist bis an den oberen Beckenkamm ausgebreitet. Damit kann eine Bewegung aus der Beckenregion vom Rumpf her die dorsale Muskelkette des Arms beeinflussen und regulieren. Umgekehrt ist eine gestörte Beckenmuskulatur in der Lage, bis in die Fingerbewegung störend auszustrahlen.
Der Ellenbogenstrecker (Trizeps3) ist mit seinem langen Kopf an das Schulterblatt angebunden und integriert damit besonders den mittleren Anteil des Trapezmuskels in diese Bewegung, d. h. die unteren Hals- und oberen Brustwirbel.
Mit einer Überschneidung am hinteren Ellenbogen verbindet sich der Trizeps mit den Handgelenks- und Fingerstreckern. Die Sehnen der letztgenannten Muskeln ziehen über den Handrücken flächig an die Fingerrückseite und bewirken eine summierte Streckung aller Fingergelenke.
Die Streckung des Daumens ist durch die Anordnung des Muskelverlaufs eigenständig und weniger intensiv in die dorsale Muskelkette integriert.
Abbildung 2: Die dorsale Muskelkette des linken Arms am Cello. 1 = breiter Rückenmuskel; 2 + 7 = Köpfe des Ellenbogenstreckers (Trizeps); 3 = Fingerstrecker; 4 = langer Daumenstrecker; 5 = Trapezmuskel; 6 = großer Rundmuskel; 8 + 9 = Handgelenksstrecker.
Ventrale Muskelkette (Abb. 3 und 4)
Die Fingerbeuger sind dreifach geteilt: Die Beugung des Grundgelenks wird im Wesentlichen von den kurzen Zwischenknochenmuskeln der Hand geführt, das Fingermittelgelenk vom...