Lehrjahre, in den Alpen wie im Leben
Alix
Ich verbrachte eine glückliche und erfüllte Jugend, und doch fühlte ich mich mit achtzehn Jahren nicht wirklich erwachsen. Nach dem Abitur war ich völlig orientierungslos, was ich einmal beruflich anfangen sollte. Zunächst bildete ich mir ein, Medizin sei vielleicht das richtige Studium. Ich wollte Karriere machen, eine erfolgreiche Ärztin werden, einen gut aussehenden Chefarzt heiraten … So war die Idee, aber natürlich kam alles ganz anders. Irgendwie können wir Menschen nicht anders. Wir machen Pläne über Pläne. Und dann sind wir ganz erstaunt, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Mein Plan mit dem Medizinstudium funktionierte jedenfalls überhaupt nicht. Gleich im ersten Semester musste ich mir eingestehen, dass das nicht das Richtige für mich war. Da kam mir eine Allergie gegen Desinfektionsmittel, die ich bei einem Praktikum im Krankenhaus entwickelte, gerade recht, um meine Karriere als Ärztin an den Nagel zu hängen, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Ich wechselte auf den Studiengang Diplomgeografie. Noch heute ist mir nicht ganz klar, was man damit eigentlich beruflich anfängt. Dennoch hatte ich dieses Fach aus reinem Interesse gewählt und studierte es mit viel Begeisterung. Gerne erinnere ich mich an die vielen Exkursionen in die deutschen Mittelgebirge oder in die französische Bretagne, die ich im Rahmen des Studiums absolvierte, an die geologischen Geländepraktika auf dem Zugspitzplatt und in der Brentagruppe der Dolomiten.
Luis
Den Sporteignungstest hatte ich in der Tasche, doch wie nun weiter? Sport als Beruf, so viel war klar. Aber das war auch schon alles. Ursprünglich hatte ich mir Sportökonomie oder Diplom-Sport als Studiengang vorgestellt. Ein Termin bei der Studienberatung erbrachte allerdings, dass die Aussichten hierfür nicht zum Besten standen. Man empfahl mir, mich stattdessen für das Lehramt zu entscheiden, wenn ich denn schon unbedingt Sport studieren wollte. Also schrieb ich mich zum Wintersemester 1990 für das Studium zum Lehramt für die Fächer Sport und Englisch an der Universität in München ein und zog in die Großstadt. Erst während des Studiums offenbarte sich mir, dass man mit den Prognosen des Ministeriums, was den Lehrerbedarf anging, vorsichtig umgehen musste. Mitunter war das Ergebnis das genaue Gegenteil des Vorhergesagten. Doch da war es schon zu spät.
Fürs Erste konnte ich in einem Zimmer wohnen, das mein Vater noch aus der Zeit seiner Berufstätigkeit in München behalten hatte. Er befand sich zwar schon seit ein paar Jahren im Ruhestand, half aber immer wieder im Büro der Firma aus. Das Leben in der Stadt war anders, als ich es bisher gewohnt war. Ständig so viele Menschen um einen herum, auf den dicht bevölkerten Straßen, in den beengten öffentlichen Verkehrsmitteln und den unzähligen Sitzreihen der Hörsäle. Überall Häuser, Straßen, Autos. Und dabei ist München ja noch eine sehr »grüne« Stadt. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder nach Hause gegangen. Aber so schnell aufzugeben war noch nie mein Ding gewesen. Trotzdem lebte ich anfangs für das Wochenende, wenn ich wieder zurück ins Allgäu zu Familie und Freunden fahren konnte. Nach einer gewissen Zeit, als ich mich besser an Hektik und Verkehr gewöhnt und einige Freunde im Semester gefunden hatte, gefiel es mir langsam besser. Das Angebot an Vergnügungen und kulturellen Attraktionen, das die Stadt zur Verfügung stellte, hatte schon auch seine Vorzüge. Dennoch konnte ich mich mit dem Leben in der Stadt nie gänzlich anfreunden.
Meine erste eigene Bleibe hatte ich in der Studentenstadt in Freimann gefunden. Nach ein paar Jahren in diesem »Studentengetto« hielt ich es irgendwann nicht mehr aus und suchte mir etwas weiter draußen, vor den Toren der Stadt. Ein Freund, den ich während des Wehrdienstes kennengelernt hatte und der nun ebenfalls Sport studierte, war gleichfalls auf Wohnungssuche. Stefan war zu dieser Zeit auch mein ständiger Tourenpartner, so taten wir uns zusammen, um eine Bergsteiger-WG zu gründen. Schließlich fanden wir eine finanzierbare Altbauwohnung in Brunnthal, im Südosten Münchens, deren Eigentümer uns jungen Studenten eine Chance geben wollte. Im ersten Stock über uns wohnte ein älteres Ehepaar, Tante und Onkel des Eigentümers, die zunächst etwas skeptisch schienen, sich dann aber doch eines anderen besannen. Als Resi und Karl erkannt hatten, dass wir weder vom anderen Ufer noch Radaumacher waren, entwickelte sich ein sehr herzliches, familiäres Verhältnis zwischen uns. Des Öfteren waren wir zum Mittagessen oder Kaffeetrinken eingeladen, mähten den Rasen oder halfen, schwere Getränkekisten in den Keller zu schleppen. Für sie waren wir nur noch »die Bergsteiger«. Ehrlich gesagt, taten wir – außer zu studieren – auch sonst nichts anderes. Mittlerweile hatten wir beide mit der Ausbildung zum staatlich geprüften Berg- und Skiführer begonnen und verbrachten jede freie Minute damit, für Lehrgänge und Prüfungen zu trainieren.
Alix
Bei den Freeride-Urlauben am Arlberg war mein Interesse geweckt worden, ich wollte die Alpen unbedingt weiter kennenlernen. Die Berge waren eine faszinierende Welt für mich, und sie befanden sich von München aus vor meiner Haustür. So galt mein erster Gang nach der Immatrikulation dem Alpenverein, um Mitglied in der DAV-Sektion Oberland zu werden. Als Zweites suchte ich das Büro des Zentralen Hochschulsports (ZHS) auf, um mich für das Bergsportprogramm für Studenten anzumelden. Hier lernte ich meine Freunde Elisabeth, Michael, Claus, Steve und Thomas kennen. Alle studierten wir in München in verschiedenen Studiengängen und begegneten uns durch unsere gemeinsame Leidenschaft für das Bergsteigen. Alle wurden wir zu begeisterten Skitourengehern.
Die Plätze in einem Skitourenkurs oder für eine Skidurchquerung waren so heiß begehrt, dass wir das ein oder andere Mal am Abend vor der Einschreibung auf dem ZHS-Gelände übernachten mussten, um uns am nächsten Morgen Plätze ergattern zu können. Über viele Jahre hinweg lernte ich auf diese Weise zahlreiche Skidurchquerungen der Alpen kennen. Ich traversierte die Berchtesgadener Alpen auf der Großen Reibn, das Tessin, die Albulagruppe, die Berner Alpen, die Dauphiné sowie das Wallis und das Mont-Blanc-Gebiet auf der Haute Route von Zermatt nach Chamonix. Das Winterprogramm der ZHS kannte ich auswendig und besuchte die Veranstaltungen rauf und runter. Um mich unter der Woche fit zu halten, ging ich mit meinen Freunden fast jeden Abend in die Skigymnastik des Hochschulsports. Die ZHS und meine ebenso bergbegeisterten Freunde, das war im Studium viele Jahre meine kleine Ersatzfamilie, in der ich mich sehr wohlfühlte. Meine Eltern und Geschwister waren weit weg in Hamburg.
Aber auch im Sommer hatten es mir die Berge angetan. Nach einem ersten Ausbildungskurs in Fels und Eis, den ich bei einer Bergschule absolviert hatte, war ich häufig selbstständig mit Freundinnen unterwegs. Mit Bernadette, die ich im Geografie-Studium kennengelernt hatte, kletterte ich Felsklassiker im Wilden Kaiser. Mit Birgit und Ursula lernte ich die Dolomiten kennen und absolvierte unsere Wunschtouren im Eis, eine nach der anderen: Mönch-Nordostwand, Lenzspitze-Nordostwand, Palü-Ostpfeiler, Dent Blanche und viele mehr. Oft waren wir nicht gerade die schnellste Seilschaft und erreichten erst spät am Abend die Hütte, wo sich der Hüttenwirt meist schon Sorgen um die »Mädels« machte. Aber wir waren immer sehr umsichtig unterwegs. Birgit besaß einen orangefarbenen VW-Bulli, der jeden Sommer für ein paar Wochen unser Zuhause in den Alpen wurde.
Luis
Bergsteigerisch erlebte ich während des Studiums eine Blütezeit. War ich zuvor im Rahmen meiner Möglichkeiten leidlich erfolgreich und zufrieden gewesen, stachelten wir uns nun gegenseitig zu immer höheren Leistungen an, egal, ob im Fels, im Eis oder auf Hochtouren. In der Schweiz gelang uns am Kleinen Wellhorn die »Gletschersinfonie« (6c), an den Wendenstöcken »Sonnenkönig« (VII+), in Österreich »Sportherz« (VIII) im Wilden Kaiser oder der »Zentralpfeiler« (VIII+) an der Roten Flüh in den Tannheimer Bergen und in Italien der »Pilastro« (VII+) an der Tofana di Rozes in den Dolomiten. Eine beeindruckende Urlaubsreise in die USA führte uns ins Kletter-Eldorado Yosemite Valley, wo uns neben vielen klassischen Klettertouren im Tal am El Capitan die Bigwall-Routen »The Nose« und »The Shield« glückten. Beim Eisklettern stiegen wir in die »Hängenden Gärten« (WI 6) im Lüsenstal, die »Kerze« (WI 5), »Männer ohne Nerven« (WI 6–), beides im Pinistal, oder »Mordor« (WI 5) im Gasteiner Tal ein. Sogar eine Erstbegehung, »Shower Curtain« (WI 6+) am Seebenseefall der Ehrwalder Alm, fiel für uns ab. Alpinistisch wagten wir uns an längere, anspruchsvollere Touren in den Westalpen heran: die Nordwände von Großhorn, Bietschhorn, Obergabelhorn und Aletschhorn, die Schweizerführe am Grand Capucin, das »Supercouloir« am Mont Blanc du Tacul, der Peutereygrat am Mont Blanc, alle klassischen Nordwände im Argentière-Kessel. Hatte man ein Ziel abgehakt, waren gleichzeitig drei neue gefunden. So ging uns der Stoff zum Träumen niemals aus. Sogar mitten im Winter waren wir im Hochgebirge unterwegs, wenn es die Schnee- und Lawinenlage erlaubten.
Neben vielen eindrucksvollen Erlebnissen und schönen Erfolgen in dieser Zeit machte ich allerdings...