3. Stellenwert von Leistung in der Leichtathletik
3.1. Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Leichtathletik
Die Sportart Leichtathletik setzt sich aus den Bereichen Gehen, Laufen, Springen und Werfen zusammen, welche die natürlichsten und ältesten Bewegungsformen sind, die den Menschen zur aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt in allen Lebensbereichen befähigen. Diese Bewegungsformen stellten in der Frühzeit einen unverzichtbaren Bestandteil des Alltagsdarund dienten vornehmlich der Existenzsicherung, sie „entstammen [demnach] der nutzbringenden Alltagsmotorik“ (Schütte 1988, 54). Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang z.B. der Speerwurf als eine urgeschichtliche Jagdmethode oder das schnelle Laufen aus demselben Grund. Andere Disziplinen wie z.B. der Diskus- oder der Hammerwurf sind aus traditionellen Überlieferungen in die Sportart integriert worden. Der hohe Stellenwert dieser Bewegungen führte dazu, dass sie von alters her gepflegt bzw. trainiert wurden. Das Zielwar von Anfang an: möglichst schnell, möglichst weit, möglichst hoch!
An dieser Stelle einen differenzierten Rückblick in die bewegungskulturelle Vergangenheit der Leichtathletik vorzunehmen, würde zu einer Entfernung vom eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit führen. Näher mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat sich unter anderem Schütte (1995).
Die Ursprünge der jetzigen Form der Sportart Leichtathletik liegen in Großbritannien in der Zeit um das Jahr 1860, wodurch die Sportart auf eine fast einhundertfünfzigjährige Entstehungsgeschichte zurückblicken kann, in der sie ein eigenständiges Inhalts- und Werteprofil entwickelte. Die ersten Wettkämpfe werden auf das Jahr 1864 datiert, bei denen zum ersten Mal Studenten der Universitäten Cambridge gegen Studenten der Universität Oxford im schnellen Laufen über verschiedene Distanzen und im Springen antraten. In der Folgezeit gaben Großbritannien und zudem die Vereinigten Staaten neue Impulse, z.B. durch die Aufnahme von zusätzlichen Disziplinen in den Wettkampfkanon, wie z.B. dem Hochsprung (vgl. Bernett 1987, 27). Populär wurde die Sportart Leichtathletik vor allem durch die Olympischen Spiele der Neuzeit, die 1896 erstmals stattfanden. Unter deren Eindruck „neigte man [dazu], deren athletisches Kernstück „Olympischen Sport“ zu nennen“ (Bernett 1987, 17). Diese Bezeichnung für die Leichtathletik wurde in Deutschland noch bis in die Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts synonym benutzt. Als Folge entwickelten sich nationale und internationale Leichtathletikverbände mit einem weltweit gültigen Regelwerk, wodurch eine Vergleichbarkeit der Leistungen bei Wettkämpfen und das Führen von Rekordlisten ermöglicht wurden. Diese Bestrebungen haben der Leichtathletik das Image einer streng normierten Sportart verliehen (vgl. Joch 1997, 132). Somit kann als eines der bedeutendstenCharakteristika der Sportart Leichtathletik unzweifelhaft die strenge Reglementierung und Normierung angesehen werden.
3.2. Leistung in der Leichtathletik
Ausgangspunkt für die Wettkampfsportart Leichtathletik war die Grundidee der eigenen Leistungsverbesserung und des Leistungsvergleichs untereinander. „Um die Wette laufen, springen oder werfen – das ist so nahe liegend, daß wir es in fast allen Kulturen der Welt finden“ (Kurz 1994, 51), beschreibt Kurz den Charakter der Leichtathletik und hebt damit den Wettkampfgedanken hervor, den jeder sportlich aktive Mensch bereits einmal verspürt haben dürfte. Hirtz (1996) formuliert dazu:
„Der Hauptreiz der Leichtathletik liegt in ihrer Leistungs- und Wettkampforientiertheit und auch darin, daß sie ohne systematisches Lernen und Trainieren, ohne anspruchsvolle Ziele nicht möglich erscheint. Charakteristisch für die Leichtathletik ist die Freude an der durch Anstrengung und Einstellung erbrachten Leistung und an einem dementsprechenden Erfolg im Wettkampf.“ (Hirtz zitiert in: Joch 1997, 135)
Demnach ist sein Können mit anderen zu messen, auch wenn z.B. schnelles Laufen oder weites Springen in unserer heutigen hochtechnisierten Gesellschaft nicht mehr lebensnotwendig sind, Teil der Anziehungskraft der Leichtathletik. Kurz nennt das die „Faszination der symbolischen Leistung, die in der Leichtathletik so einfach und elementar zu finden ist wie wohl sonst nirgends im Sport“ (Kurz 1994, 52). Der Wettkampf- und der Leistungsgedanke können somit als charakteristischer Kern der Leichtathletik angesehen werden. Da die Leichtathletik in besonderer Weise durch diese Merkmale geprägt ist, tauchen in diesem Zusammenhang häufig die Begriffe üben, messen und vergleichen auf. Aktive Leichtathleten zeichnen sich in der Regel durch das Herantasten an die individuelle Leistungsgrenze aus. Dies beinhaltet auch den fairen Wettstreit mit anderen Sportlerinnen und Sportlern. Zum Erreichen dieser Ziele muss die Athletin bzw. der Athlet im Rahmen seiner Möglichkeiten einen kurz-, mittel- oder langfristig angelegten planmäßigen Trainingsprozess beginnen und konsequent durchhalten. Aus diesen Gründen spricht Digel (1997) sogar davon, dass die Leichtathletik „in besonders typischer Weise eine körperliche Leistungskultur“ (Digel 1997, 127) zum Ausdruck bringt.
„Der Begriff der Kultur soll deshalb auf die Leichtathletik angewendet werden, weil es in ihr vorrangig um außergewöhnliche individuelle Leistungen geht. Kennzeichnend für die Leichtathletik ist ferner, daß es in ihr auch darum geht, die Befriedigung von Bedürfnissen hinausschieben, freiwillig etwas zu lernen, sich anzustrengen, langfristig angelegt zu üben, sich mit Anweisungen von Übungsleitern und Trainern ausein-anderzusetzen, sich in der Solidargemeinschaft mit anderen in der Situationen des Wetteifers zu bewähren, Regeln und Vereinbarungen einzuhalten und bereit zu sein, ohne Vergütung für andere ehrenamtlich etwas zu tun. Diese Fähigkeiten werden in der Leichtathletik besonders zum Ausdruck gebracht.“ (Digel 1997, 127)
In diesen drei Sätzen spricht Digel, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) war, alle für unsere auf Erfolg strebende Gesellschaft besonders positiven Werte der Sportart an, die integrierender Bestandteil der Leichtathletik bleiben müssen. Die Werte der Leichtathletik beschreibt Digel folgendermaßen:
„Chancengleichheit, Konkurrenz, Allgemeinverständlichkeit der Leistungen, Objektivität, Exaktheit, Vergleichbarkeit, Messbarkeit, Zuweisung von Rangpositionen auf der Grundlage der erbrachten Leistung, Durchsichtigkeit der Leistungsdifferenzierung – das sind die Werte, die die Leichtathletik auszeichnen.“ (Digel 1997, 128)
Zusammenfassend können das Erleben von Leistung und der Wettstreit mit anderen Athletinnen und Athleten als die tragenden Säulen der Leichtathletik gesehen werden. Wer dieses Fundament aufgibt, gibt die Idee der Sportart auf (vgl. Joch 1997, 135).
3.3. Zur Leistung in der schulische Leichtathletik
„Oft trifft man im Schulsport auf ein Leistungsverständnis, das an den Normen des „großen“ Sports orientiert ist. Dieses wettbewerbs- und erfolgsorientierte Sportverständnis führt insbesondere bei Schülerinnen und Schülern, die Erfolg in diesem System vorweisen können, häufig zu einem Dominanzstreben im Sportunterricht, während leistungsschwächere und weniger motivierte Schülerinnen und Schüler in den Hintergrund gedrängt werden, ja manchmal sogar stigmatisiert werden.“ (Landesinstitut für Schule 2004, 53)
Ziel des Schulsports sollte daher nicht die Ausbildung von Wettkampfsportlerinnen und Wettkampfsportlern sein, sondern allen Schülerinnen und Schülern den Charakter und den Reiz der Sportart Leichtathletik zu vermitteln. Bestärkt wird dieser Ansatz durch den bereits in Punkt 2.3. beschriebenen, zu erfüllenden Erziehungs- und Bildungsauftrag, welcher eine pädagogische Filterung des Leistungsbegriffs erfordert. Frey (1995) fordert aus diesem Grund:
„Leichtathletik in der Schule sollte […] ein institutionsspezifisches Angebot des Laufens, Springens und Werfens sein, nicht ein reduziertes Programm der olympischen Leichtathletik. (…) Wenn Leichtathletik in der Schule eine andere Funktion als im Verein hat, dann muss sie sich auch vom Verein durch einen anderen Umgang mit dem Laufen, Springen und Werfen unterscheiden. Nicht zuletzt auch, weil die bei den Schülern und Schülerinnen anzutreffenden individuellen Voraussetzungen andere sind als im Verein. Im schulischen Alltag sind Veranlagte und weniger Veranlagte, Willige und Unwillige, Schwache und Starke stets in verhältnismäßig großen Gruppen zusammen.“ (Frey zitiert in: Treutlein 1995, 18 f.)
Dennoch ist häufig zu beobachten, dass die Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht die Leichtathletik „als ein ausgesprochenes Schmalspurprogramm, als Sprint, Weitsprung und Ballwurf [erleben]“ (Frey 1990, 34). Zudem orientiert sich dann die Vermittlung der genannten Disziplinen häufig an den methodischen Reihen der „Erwachsenenleichtathletik“ (Hägele 2003, 2). Auch werden individuelle Bewegungsausführungen der Schülerinnen und Schüler, die in der Regel von denen der weltbesten Wettkampfsportlerinnen und Wettkampfsportler abweichen, nur selten anerkannt. In diesem Zusammenhang kann die exakte und objektive Messbarkeit der leichtathletischen Leistungen die Sportlehrkraft dazu verführen, im Sinne eines produktorientierten Unterrichts die Leistung als Grundlage für die Notengebung zu missbrauchen...