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Geschichte und Bedeutung der Zellkultur
1.1 Das biologische Zeitalter
Leben wir im Zeitalter der Biologie? In seiner Neigung zum Ordnen und Klassifizieren hat der Mensch vergangene Epochen stets unter dem Gesichtspunkt herausragender gesellschaftlicher und kultureller Errungenschaften betrachtet. Begriffe wie „Eisenzeit“ oder „Neuzeit“ sind jedermann geläufig. Die fortschreitende Entwicklung der modernen Wissenschaften hat die letzten zwei Jahrhunderte vornehmlich geprägt. Stand das 19. Jahrhundert allgemein im Zeichen aufblühender Technik, bahnbrechender medizinischer Entdeckungen und der Emanzipierung der Naturwissenschaften, gehen wir kaum fehl, wenn wir das 20. Jahrhundert als das Atom- und Computerzeitalter bezeichnen.
Trotz der ungeheuren Leistungen, die auf den Gebieten der Physik und der Chemie vollbracht wurden, hat sich die Biologie in den Jahrzehnten seit 1953, als James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins die Desoxyribonukleinsäure (DNS) als Träger der genetischen Information entdeckten, unaufhaltsam eine Schlüsselposition erobert. Dass dem nicht immer so war, demonstriert die Tatsache, dass ein Nobelpreis für Biologie vom Stifter nicht vorgesehen war und merkwürdigerweise bis heute nicht ausgelobt wird. Dennoch konnte die „klassische“ Biologie dank ihrer engen Bindung an die Medizin und die zunehmende gegenseitige Durchdringung mit den anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen zu dem avancieren, was man heute in Ermangelung klarer Abgrenzungskriterien als Biowissenschaften bezeichnet. Nicht wenige sehen deshalb mit dem 21. Jahrhundert das Zeitalter der Biotechnologie anbrechen.
Ob sich diese Vision bewahrheitet, soll dahingestellt bleiben. Kaum zu bestreiten ist hingegen die Tatsache, dass insbesondere der Zellbiologie in dem neuen wissenschaftlichen Gebäude mit seinen zahlreichen Räumlichkeiten eine fundamentale Bedeutung zukommt. Betrachten wir die zahlreichen biowissenschaftlichen Teildisziplinen genauer, stellen wir fest, dass die Beschäftigung mit Zellen darin eine mehr oder weniger zentrale Rolle spielt. Die Zell- und Gewebekultur bildet gewissermaßen die Basis, auf der die gesamte Biotechnologie aufbaut.
In der Tat sind in den letzten Jahrzehnten Zellkulturen zu einem der wichtigsten Werkzeuge in der zellbiologischen, virologischen und immunologischen Forschung sowie in der Tumorforschung geworden. Die enormen Fortschritte in der Grundlagenforschung, der Medizin und der Pharmazeutik wären ohne die Verwendung von Zellkulturen nicht möglich gewesen.
1.2 Die mühseligen Anfänge
Obwohl uns die Zellkultur als eine sehr moderne und mit großem technischen Aufwand betriebene Methode erscheint, reichen ihre Wurzeln weit zurück. Man macht sich kaum noch eine Vorstellung von den nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten und Hindernissen, mit denen sich die Pioniere seinerzeit konfrontiert sahen. Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn man aufgrund der äußerst unzureichenden Voraussetzungen von einer Erfolgsquote von höchstens 1% ausgeht. Die großen Probleme bei dem Versuch Zellen lebend in Kultur zu halten, ließen ahnen wie komplex die Lebensvorgänge auf der mikroskopischen und auf der molekularen Ebene tatsächlich sind. Heute wissen wir um die Vielschichtigkeit der Ursachen, die im Laufe eines langwierigen Erkenntnisprozesses nach und nach mühsam und von zahlreichen Rückschlägen begleitet aufgedeckt wurden.
Jedes komplex organisierte Lebewesen – ob Mensch, Tier oder Pflanze – entsteht aus einer einzelnen Zelle, der befruchteten Keimzelle. Durch kontinuierliche Teilung und Differenzierung entwickelt sich ein komplizierter Organismus aus zahlreichen, miteinander in wechselseitiger Beziehung stehender Zellen. Ärzte und Wissenschaftler waren von Anfang an bestrebt, diesen Vorgang auch künstlich im Labor („in vitro“) durchführen und studieren zu können. Zum einen wollte man die Mechanismen der Krankheitsentstehung, zum anderen die entwicklungsbiologischen Vorgänge aufdecken und untersuchen. Die ersten „Zellkulturen“ beschaffte man sich mit dem Kescher aus einem Tümpel. Amphibienlaich – das weiß jeder, den der Forscherdrang in jungen Jahren mit dem Marmeladenglas voller Froscheier nach Hause trieb – verlangt außer genügend Wasser keine besonderen Vorkehrungen. Unendlich schwieriger erwiesen sich hingegen die lebenserhaltenden Maßnahmen bei frisch isolierten Zellen oder Gewebeproben! Selbst Krebszellen, deren Teilungsaktivität ungehemmt vonstatten geht, konnten in einer Kulturschale kaum am Leben erhalten werden.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass nahezu alle heute bekannten Parameter der Zellphysiologie damals unbekannt waren. Über die Nährstoffe, die ein Mensch zum Leben braucht, lagen gesicherte Erkenntnisse vor. Welche Ansprüche jedoch eine Zelle hinsichtlich der Versorgung und der Darreichungsform stellen mochte, darüber herrschte größte Unsicherheit. Da einer Zelle kaum feste Kost zugemutet werden konnte und eine Kultur in wasserloser Umgebung in kurzer Zeit vertrocknet, versuchte man es zunächst mit so kuriosen Flüssigkeiten wie Boullion aus Rindfleisch. Die Rinderbrühe konnte sich in der Zellkultur jedoch nicht durchsetzen. In erstaunlicher Vorausahnung der tatsächlichen Gegebenheiten experimentierte man nun mit Blutflüssigkeit und Lymphe, um die Kulturbedingungen für Säugerzellen soweit wie möglich der natürlichen Situation anzupassen.
Während die Nährstofffrage zumindest vorläufig gelöst schien, sah man sich mit einem anderen, kaum weniger bedeutenden Problem konfrontiert: den allgegenwärtigen Mikroorganismen, die sich als lästige Kommensalen („Mitesser“) in fast allen Zellkulturen trotz sorgsamster Abschirmung erfolgreich einnisten konnten. Da eine schlagkräftige Abwehrstrategie in Form von Antibiotika noch nicht zur Verfügung stand, muss die Verlustrate außergewöhnlich hoch gewesen sein.
Verglichen mit den Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Nährstoffen und der Aufrechterhaltung steriler Bedingungen war die Versorgung der Kulturen mit Wärme in geeigneten Behältern eine durchaus lösbare Aufgabe. Die Temperatur wurde mittels Thermometer und Raumheizung auf dem erforderlichen Niveau gehalten. Ein einfacher Kasten, ausgestattet mit einer Schale Wasser und einer Kerze kann als Urahn aller Brutschränke betrachtet werden.
1.3 Die zukünftige Schlüsseltechnologie
Versuch und Irrtum bestimmten noch bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die meisten Experimente mit Zellen. Erst die Entwicklung spezieller Kulturmedien und die Entdeckung der Antibiotika erlaubten den Zellforschern eine adäquate Nährstoffversorgung ihrer Zellkulturen sowie eine gezielte Bekämpfung mikrobieller Infektionen bzw. deren Vorbeugung. Die Zahl der erfolgreich in Kultur genommenen Zellen konnte ständig gesteigert werden. Infolge der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der Labortechnik und der immens verfeinerten Analysemethoden hat die Zellkultur mittlerweile einen Stand erreicht, der es erlaubt, komplexe Primär- und Gewebekulturen in vitro zu etablieren.
Besonders durch die stürmische Entwicklung der Biotechnologie gewann die Zellkultur, auch die pflanzliche Zell- und Gewebekultur, in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts ständig an Bedeutung. Konzentrierte sich das Interesse der Zellbiologen und Mediziner ursprünglich nur auf die Vorgänge in der einzelnen Zelle, untersucht man heute auch komplizierte Zusammenhänge in Zellverbänden und Geweben. Diese lassen sich meist nur in mehrschichtigen Cokulturen studieren, in denen z. B. sowohl Epithelzellen als auch Bestandteile ihrer natürlichen Umgebung (Basallamina, extrazelluläre Matrix, Fibroblasten) vorhanden sein müssen.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die Zellkultur das Leiden von Tieren verringern hilft, indem sie Tierversuche überflüssig macht. Laut einer Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums konnte die Zahl der Tierversuche in Deutschland von 1989 bis 1997 um mehr als 40% reduziert werden. Im Jahr 1996 wurden knapp 1,5 Mio Wirbeltiere in der Arzneimittelforschung „verbraucht“. Diese Zahl erscheint riesig, im Vergleich zur Situation vor 20 Jahren ist das jedoch eine Reduzierung um ca. 3 Mio Tiere pro Jahr. Es darf dennoch nicht verschwiegen werden, dass aufgrund der neuen EU-Chemikalienpolitik, die für Tausende von Stoffen neue toxikologische Untersuchungen vorsieht, seit Anfang der 1990 er Jahre die Zahl der Versuchstiere wieder auf mehr als 2 Mio pro Jahr angewachsen ist. Die Bedeutung der Zellkultur als Alternative zu Tierversuchen wächst dennoch ständig. So stellte die EU-Kommission im Jahr 2003 neue Arzneimitteltests auf der Basis von Zellkulturen vor, die preiswerter und genauer sein sollen als der herkömmliche Test an Kaninchen.
Die moderne Zellkultur hat die Kinderkrankheiten ihrer Anfangsphase weit hinter sich gelassen und ist zu einem unverzichtbaren Werkzeug nicht nur für die Biologie und Medizin geworden. Zellkulturen werden zunehmend auch für technische Fragestellungen, z. B. in der Biotechnologie, Gentherapie...