Die Malerei ist weiblich, jedenfalls die Leonardo da Vincis. Von seinen frühen Madonnen (Tafel 1 und 2) bis zur späten »Anna selbdritt« (Tafel 23), von dem ersten Porträt, das er malte, der »Ginevra de’ Benci« (Tafel 9), bis zur »Mona Lisa« (Tafel 28) sind die Hauptfiguren auf Leonardos Gemälden Frauen. Auf seinen überlieferten, sicher eigenhändigen Tafelgemälden wirken lediglich zwei Männer als Protagonisten. Der eine ist der »heilige Hieronymus« (Tafel 14), das unvollendete Bild eines sich selbst befragenden alten Mannes, der in der Wüste mit der Entsagung ringt. Der andere ist ein jugendlicher, so selbstbewusster wie sinnlicher »Johannes der Täufer« (Tafel 29), den Leonardo an seinem Lebensende malt. Man muss schon alle Jünger auf dem Fresko des »Abendmahls« (Tafel 19) oder alle Jesusbabys auf den Madonnenbildern hinzuzählen, um doch noch auf ein halbwegs ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu kommen. Nicht einmal Josef hat es auf Leonardos Bilder der Heiligen Familie geschafft, seinen Platz überlässt der Künstler Marias Mutter Anna (Tafel 22 und 23). Und gemalte Porträts von Königen, Päpsten und Fürsten fehlen völlig. Nur eine Porträtskizze für ein Herrschergemälde entwirft Leonardo. Auch sie zeigt eine Frau: Isabella d’Este, die Markgräfin von Mantua (Tafel 20).
Leonardo da Vinci hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan wie kein anderer Maler. Wahrgenommen wird er im 20. und 21. Jahrhundert aber anders: als technischer Pionier, der mit seinen gezeichneten Flugapparaturen, Waffensystemen, Hebevorrichtungen die Erfindungen der Moderne vorweggenommen hat. Das ist zu einseitig. Leonardo hatte Freude daran, auf dem Papier Maschinen aller Art zu entwerfen. Gebaut allerdings wurden sie fast nie. Wären ihm diese Ingenieursleistungen das Wichtigste im Leben gewesen, er wäre ein gescheiterter Mann.
Seine Maschinen bilden nur einen kleinen Teil seines umfassenden zeichnerischen Œuvre. Ausgiebig befasst er sich mit der menschlichen Anatomie, der Erdgeschichte, dem Wachstum von Pflanzen und immer wieder, mit größter Leidenschaft, mit den Bewegungen des Windes und des Wassers. Er zeichnet, um die Welt zu verstehen, und er versteht die Welt, um sie zu malen. Die Malerei ist ihm die höchste aller Wissenschaften, das Leitmedium seiner Zeit. An der Staffelei wird der Mensch zum Schöpfer, hier darf er sich Mutter Natur, der großen Kreativen, verwandt fühlen. Wenn Leonardo sich manchmal im Atelier quält und nur langsam Strich um Strich setzt, dann deshalb, weil er so viel nachdenkt über das, was und wie er es zeigen will. Er ist ein Maler-Philosoph, wie schon Zeitgenossen verwundert bemerken1, einer, der aus Erkenntnisinteresse arbeitet und weil er den Menschen etwas mitzuteilen hat.
Das Wissen, um das Leonardo in seiner Malerei kreist, ist das Wissen der Frauen. Schon in der Antike galt das Gemälde einer schönen Frau als Beweis für die Kunstfertigkeit eines Malers. Ihre Verführungskraft ist auch die seine. Frohlockend schreibt Leonardo einmal, wie Betrachter seine gemalten Frauen hingebungsvoll küssen.2 Bis zu seiner Zeit wurden Mädchen auf italienischen Porträts nur im keuschen Profil gezeigt. Erst Leonardo wendet seine Frauenfiguren dem Betrachter zu und erlaubt beiden einen innigen Dialog. Leonardos Frauen haben eine Seele und einen starken Willen, sie bewegen sich in Raum und Zeit, sind Wesen eigenen Rechts in einer Epoche weiblicher Rechtlosigkeit. Leonardos belle donne besitzen, was der Dichter Francesco Petrarca einst an Frauenbildnissen vermisste: »voce ed intellecto«, Stimme und Verstand.3 Gemeinsam mit seinen femininen Modellen erfindet der Künstler die unabhängige, selbstgewisse Frau, sie wird in seinen Werken zum ebenbürtigen Gegenüber des Mannes.
Indem er sich mit den Frauen verbündet, emanzipiert Leonardo auch die Kunst. Sie ist nun keine Wunschmaschine für Auftraggeber mehr, sondern hat ein unverfügbares Eigenleben. Seine in sich ruhende Maria unterwirft sich keinem Verkündigungsengel und seine Malerei keinem Bildbesteller. Die Gemälde, die ihm wirklich etwas bedeuten, behält Leonardo bis zu seinem Lebensende bei sich. Darunter sind die »Mona Lisa« und die »Anna selbdritt«: Beide Werke verbinden das Weibliche mit der Natur- und Erdgeschichte, die der Maler in den Landschaftshintergründen entfaltet. In Leonardos Sicht kann eine individuelle Frau für das große Ganze stehen, weil sie mit der Natur die Gabe teilt, Leben zu geben. Diese Fähigkeit zum steten Neuanfang ermöglicht der Menschheit, das Dasein immer wieder neu zu gestalten. Der unbeherrschbaren Natur, ihren Meeren und Felsen, Tieren und Pflanzen begegnet der Vogelliebhaber, Bergwanderer und Vegetarier dabei mit Hochachtung, und diese verlangt er auch den Betrachtern seiner Kunst ab.
So ist die Vorstellung abwegig, Leonardo wolle sich mit seinen gezeichneten Panzern und seinen Flussumleitungsplänen die Welt untertan machen. Ja, er stellt sich dem Krieg und begleitet den Schlächter Cesare Borgia auf einem Eroberungszug. Doch ganz offenkundig hadert der Künstler mit dem, was er sieht. Pazzia bestialissima, »höchst bestialische Verrücktheit«, nennt er den Krieg und verarbeitet ihn in seinem Entwurf für ein Gemälde der »Anghiarischlacht« (Abb. 32), das von der Ausweglosigkeit gewalttätiger Konflikte handelt.4
Das Zerrbild von Leonardo als Techniknarr und virilem Mustermann geht zurück auf eine Leonardo-Schau, die im Herbst 1939, als der Zweite Weltkrieg begann, in Mailand zu sehen war. Der italienische Diktator Benito Mussolini, nach Selbstaussage der »größte lebende Italiener«, wollte hier den »größten Italiener der Vergangenheit« feiern.5 Ausgestellt waren erstmals Modelle von Leonardos Maschinen, die zu seinen Lebzeiten nie gebaut worden waren. Und seine zutiefst humanistische Aktzeichnung vom »Vitruvmann« (Abb. 21) in Kreis und Quadrat sollte nun den technikaffinen, beinahe selbst zur Maschine gewordenen Menschen der Zukunft repräsentieren.
Nach dem Ende des Faschismus wirkte das Image vom unerbittlichen Rationalisten Leonardo nach. Es beeinflusste im späten 20. Jahrhundert noch die Vordenker der Computerindustrie, die auf der Suche nach einem Ahnherrn Leonardos Entwurfszeichnungen entdeckten und seither zwar nicht mehr den Krieger, aber den Maschinisten und Technikvisionär Leonardo für sich beanspruchen (vermutlich auch deshalb erwarb Bill Gates im Jahr 1994 Leonardos naturwissenschaftliche Handschrift, den Codex Leicester).6 Wieder bleibt eine Leerstelle: Übergangen und übersehen werden Leonardos Frauen, für deren Präsenz auf der Bühne der Kunst- und Naturgeschichte der Künstler so viel tat.
Im Jahr 2019 liegt Leonardo da Vincis Tod fünfhundert Jahre zurück. Es ist Zeit, vorurteilsfrei zurückzublicken, seine Gemälde und Zeichnungen zu betrachten und seine Texte zu lesen. Ihm zuzuhören und den Zeitzeugen, die ihn persönlich kannten.
Das unternimmt diese Künstlerbiographie in ausführlichem Quellenstudium. Ausgewertet werden neben Leonardos künstlerischen Werken seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Schriften zur Kunst und zur Natur sowie seine tagebuchähnlichen Notizen. Hinzu kommen Briefe und Aussagen von Zeitgenossen, notarielle Urkunden, Steuer- und Gerichtsunterlagen und andere Dokumente. Dieses breite Panorama an Belegen ermöglicht es, spätere Wertungen wie die des Kunstschriftstellers Giorgio Vasari kritisch einzuordnen (Quellenangaben mit den italienischen und lateinischen Originalzitaten sowie Hinweise zum kunsthistorischen und historischen Forschungsstand finden sich im Anhang).
Außer von Leonardos gesamtem Leben und Werk und der Kunst seiner Zeit erzählt das Buch von den sozialhistorischen und politischen Umständen, unter denen dieser Ausnahmekünstler wirkte. So handelt das erste Kapitel von Leonardos frühen Madonnen und von der Rolle der Mütter und ihrer Säuglinge in der Renaissance. Und das vierte Kapitel schildert, wie in Florenz einerseits die Liebe in symbolreichen Spektakeln gefeiert wurde, andererseits Männer verfolgt wurden, die Männer liebten.
Leonardo da Vinci war der uneheliche Sohn eines Notars und einer...