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Leopold Figl und das Jahr 1945

Von der Todeszelle auf den Ballhausplatz

AutorHelmut Wohnout
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783701745067
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Dieses Buch erschließt neue Blickwinkel auf eine Ikone der Österreichischen Politik im dramatischen Jahr 1945. Zu Jahresbeginn noch brutale Einzelhaft im KZ Mauthausen: Der NS-Häftling Leopold Figl erwartete in der Todeszelle seinen Prozess. Im April die Freilassung, als die Russen bereits nach Wien vordrangen. Schon bald darauf organisierte Figl die improvisierte Wiener Lebensmittelversorgung. Im Mai wurde er zum ersten Landeshauptmann Niederösterreichs. Und schließlich führte er die Volkspartei im November in die Nationalratswahlen, die ihn zum ersten Bundeskanzler der Zweiten Republik machten. Auf Basis akribischer Forschungen lässt Helmut Wohnout das Leben Leopold Figls im ereignisreichen Jahr 1945 in neuem Licht erscheinen.

Helmut Wohnout, geboren 1964 in Wien. Dozent für österreichische Geschichte, Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen Themen, mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen.

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Leseprobe

Neubeginn in Trümmern


Als Figl am Nachmittag des 6. April in seine Wohnung in der Kundmanngasse zurückkehrte, war die Schlacht um Wien in vollem Gange. Das sowjetische Umfassungsmanöver rund um die Stadt wurde nunmehr für die deutschen Verteidiger Wiens in seinem ganzen Umfang sichtbar. Zugleich drangen die Angreifer vom Süden kommend weiter in die Stadt ein: Der 3. SS-Panzer-Division gelang es gerade noch, den Vormarsch knapp vor dem Gürtel auf der Höhe Südbahnhof/Südtirolerplatz zum Stehen zu bringen.1 Im Gebiet rund um das Arsenal sollten die Kämpfe zwei Tage lang toben, während die Sowjets ansonsten fast überall bis zum Gürtel vorgedrungen waren und im Zuge ihrer Zangenbewegung bereits Klosterneuburg unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Am 7. April 1945 begann die Rote Armee in schweren Kämpfen durch die Industriezonen des elften und dritten Bezirkes in Richtung Donaukanal vorzudringen, wobei das Kampfgeschehen in den dicht besiedelten Gegenden immer unübersichtlicher wurde. Tieffliegerangriffe begleiteten die Vorstöße der Sowjets.2 Für Figl hieß das: Die engere Umgebung seines Wohnhauses wurde noch von den Deutschen kontrolliert, zugleich rückte die Frontlinie aber unaufhaltsam näher. Figl war sich der doppelten Gefahr, die für ihn bestand, bewusst. Einerseits war er wie alle Zivilisten durch das unmittelbare Kampfgeschehen gefährdet, andererseits wusste er, dass er bis zum letzten Augenblick mit Racheaktionen der SS zu rechnen hatte. Er blieb daher nicht in seiner Wohnung, sondern verschanzte sich, wie andere Mitbewohner auch, im Keller seines Hauses, ohne diesen für einige Tage zu verlassen. Dass seine Vorsicht mehr als berechtigt war, zeigte sich am Beispiel des tragischen Schicksals seines Freundes Heinrich Otto Spitz, der noch im Jänner 1944 bei ihm zu Gast gewesen war. Es wurde bereits erwähnt, dass es Spitz nach dem Auffliegen des Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees POEN gelungen war, unterzutauchen. Am 10. April wurde er in buchstäblich letzter Sekunde nahe seines Wohnhauses in Wien an der Heiligenstädter Lände von der SS gestellt und erschossen.3 Die Deutschen standen unmittelbar davor, sich über den Donaukanal nach Norden abzusetzen. Folgt man der Darstellung von Ernst Trost, so suchte ein fanatisierter Nazi-Trupp in den letzten Stunden vor dem Rückzug in Richtung des zweiten Wiener Gemeindebezirks auch noch nach Figl. Im Keller des Wohnhauses, wo er sich hinter Lebensmittelvorräten versteckt hatte, wurde er aber nicht entdeckt.4 Die letzten Wochen und Tage der nationalsozialistischen Herrschaft im Osten und Südosten Österreichs waren insgesamt von einer Reihe furchtbarer „Endphasenverbrechen“ begleitet, deren Opfer nicht nur politische Gegner des Regimes waren.5 So verübten SS-Männer noch in den Abendstunden des 11. März 1945 in der Förstergasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk ein Massaker an neun Juden, ehe im frühen Morgengrauen des 12. April sowjetische Soldaten von der Gegend Besitz ergriffen.6

Am 8. und 9. April 1945 war der dritte Wiener Gemeindebezirk direkt zur Kampfzone geworden und es war absehbar, dass die Bezirke zwischen Gürtel und Ring unmittelbar davor standen, an die Sowjets zu fallen.7 In der Nacht vom 9. auf den 10. April 1945 räumten die Deutschen die Innenbezirke, sprengten die Brücken über den Donaukanal und eröffneten von der anderen Seite des Flusses das Feuer auf die vorrückenden Verbände der Roten Armee. So endete für den im Keller seines Hauses ausharrenden Leopold Figl der siebenjährige Alptraum des Deutschen Reiches.

Es erschien ratsam, im Keller noch einige Zeit zuzuwarten. Immerhin war die Front nur wenig entfernt, entlang des Donaukanals, kurzfristig ins Stocken gekommen. Von beiden Seiten des Flusses gab es Artilleriefeuer, Brände breiteten sich aus, nachdem die Nationalsozialisten aus militärisch sinnloser Zerstörungswut die Wiener Berufsfeuerwehr samt Gerät schon am 6. April 1945 abgezogen hatten.8 Als sich im Laufe des 11. April 1945 die Front mehr und mehr vom Donaukanal weg in Richtung Donau verschob, war für Figl der Krieg endgültig vorüber. Nun konnte er sich wieder auf die Straße trauen und begann, die Gegend in Richtung der Inneren Stadt zu erkunden. Die ersten Eindrücke Figls müssen deprimierend gewesen sein: Der Stephansdom stand in Flammen, überall Zerstörung und Plünderungen, Übergriffe der Sowjets, die im harmloseren Fall den Männern Wertgegenstände abnahmen, im schlimmsten Fall, oft betrunken, sich in großer Zahl an wehrlosen Frauen vergingen.

Der erste Anstoß zur Rückkehr Leopold Figls in die Politik ging auf eine russische Initiative zurück und kam noch, bevor er selbst aktiv wurde. Tatsache ist, dass er von Soldaten der Roten Armee am 12. April 1945 aus seiner Wohnung geholt und zu Marschall Fedor I. Tolbuchin geleitet wurde. Das Zusammentreffen wurde im Laufe der Zeit „von Mythen umrankt“9. Verbürgt scheint zu sein: Figl wurde von sowjetischen Soldaten aufgestöbert, die den Auftrag hatten, ihn zu Marschall Tolbuchin zu bringen. Nach Figls eigenen Angaben fand das Zusammentreffen im Palais Auersperg statt.10 Dabei forderte ihn der siegreiche Feldherr der Schlacht um Wien auf, im Auftrag und mit Legitimation der Roten Armee für die Versorgung der Stadt Wien mit Lebensmitteln und den Anbau der Felder hinter der Front tätig zu werden. Auf Figls Einwand, weder über Fahrzeuge noch über Saatgut zu verfügen, um diese Aufgabe ausführen zu können, sagte ihm Tolbuchin zu, das Notwendige zur Verfügung zu stellen.

Offensichtlich hatten die Sowjets Figl als den von ihnen gesuchten, in Wien anwesenden und daher für sie greifbaren Repräsentanten der Bauernschaft identifiziert, der zur Mithilfe bei der Reorganisation der Lebensmittelversorgung herangezogen werden sollte. Figl galt als Agrarexperte, der eine hohe Akzeptanz bei der bäuerlichen Bevölkerung besaß. Er sollte bei der Wiederherstellung der landwirtschaftlichen Infrastruktur hilfreich sein. Von wem der Hinweis stammte, auf den aufstrebenden und dynamischen Bauernbunddirektor von vor 1938 zurückzugreifen, lässt sich wohl nicht mehr definitiv klären. Er könnte den Sowjets von mit Figl bekannten Vertretern der Widerstandsgruppe 05 oder von Seite der österreichischen Kommunisten gegeben worden sein. Jedenfalls berichtete Figl, dass bei seinem Zusammentreffen mit Marschall Tolbuchin am 12. April auch österreichische Kommunisten, namentlich der Vorsitzende der KPÖ, Johann Koplenig, anwesend gewesen seien.11 Ernst Fischer, der gemeinsam mit Koplenig wenige Tage zuvor aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, wiederum erinnerte sich, dass Koplenig bei seiner ersten Begegnung mit Figl von dessen Persönlichkeit beeindruckt gewesen sei. Er habe „einen jungen Bauernführer, die Verkörperung einer neuen progressiven Generation der Katholiken, kennengelernt. Mit diesem ebenso temperamentvollen wie neuen Ideen zugänglichen Mann sei eine gute Zusammenarbeit zu erwarten.“12

Eines ist jedenfalls klar: Ab dem Zeitpunkt seines Gesprächs mit Tolbuchin sah sich Figl von den Sowjets legitimiert, nicht nur die Lebensmittelversorgung der Bundeshauptstadt zu organisieren, sondern überhaupt wieder im politischen Leben eine Rolle zu spielen. Denn nur bei einer raschen Wiederinstandsetzung der bäuerlichen und landwirtschaftlichen Infrastrukturen war es möglich, Nahrungsmittel im größeren Stil aus dem Umland nach Wien zu schaffen. Daher bestanden Figls erste Schritte auch darin, nach alten Weggefährten Ausschau zu halten und, gestützt auf seine Beauftragung durch die Sowjets, die ehemaligen Standorte der landwirtschaftlichen Organisationen wieder in Besitz zu nehmen.

Bauernbund und Österreichische Volkspartei – die Anfänge


Das am Rande der Wiener Innenstadt gelegene Palais Auersperg fungierte als Zentrum der aus dem bewaffneten Widerstand hervorgegangenen Freiheitsbewegung 05. Mit ihr hatten die Sowjets zwar rund um die militärische Befreiung Wiens kooperiert, nun gingen sie zu ihr aber auf Distanz. Figl ging anfangs davon aus, dass es notwendig sein würde, um die Lebensmittelversorgung in Gang zu bringen, in laufendem Kontakt mit Vertretern der 05 im Palais Auersperg zu bleiben.13 Dort herrschte am 12. und 13. April 1945, als das politische Leben Wiens wieder einigermaßen in Gang zu kommen begann, allerdings ein durchaus als chaotisch zu bezeichnendes Durcheinander. Neben zahlreichen Persönlichkeiten, die das öffentliche Leben zukünftig prägen sollten, tauchten auch Glücksritter und Opportunisten unterschiedlichster Schattierungen, ja selbst ehemalige, nun gewendete Nationalsozialisten auf. Die Repräsentanten der Widerstandsbewegung waren außer Stande, den Dingen eine geordnete Struktur zu geben.14

Auch Felix Hurdes und Lois Weinberger kamen ins Palais Auersperg, wo sie einander erstmals seit ihrer Freilassung aus dem Wiener Landesgericht wieder begegneten.15 Sie kamen angesichts des wenig ermutigenden Bildes, das sich ihnen dort bot, überein, nun die Gründung der neuen Partei entlang der in der Illegalität entworfenen Konzepte und Pläne anzugehen. Auch der Name „Österreichische Volkspartei“ stand spätestens jetzt endgültig fest.16 Dass auch Figl seinen beiden ehemaligen Haftgenossen und Konspiratoren aus der Zeit der Illegalität dort begegnete, ist nicht dokumentiert. Dafür stieß Figl auf einen anderen alten Bekannten, den ehemaligen Kärntner Bauernbunddirektor Ferdinand Graf. Auch mit ihm hatte er 1943/44 Kontakt...

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