1 Von der Erwachsenenbildung/Weiterbildung zum Lernen Erwachsener
Der vorliegende Grundriss befasst sich mit den erziehungswissenschaftlichen Zugängen zum Lernen im Erwachsenenalter. Das an verschiedenen Stellen hervorgebrachte, verstreute Wissen über Phänomene des Lernens Erwachsener wird in ihm zusammengestellt, ohne wie bislang üblich bestimmte Formate des institutionalisierten Lernens zum selbstverständlichen Fluchtpunkt dieses Feldes zu erheben. Gegenüber herkömmlichen Einführungen in die Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung ist dies mit einer zweifachen Verschiebung der Perspektive verbunden:
Üblicherweise steht die Gestaltung von Bildungsveranstaltungen im Mittelpunkt, wenn Fragen des Lernens Erwachsener diskutiert werden. Es geht um Kurse, Trainings und Seminare, Lehrgänge, Workshops und Vorträge. Im vorliegenden Grundriss wird dieses »veranstaltete Lernen« (Tietgens 1986, 24ff) zwar mit berücksichtigt, aber lediglich als ein Format des Umgangs mit Lernen unter mehreren anderen betrachtet. Die Fülle von Einführungen, die das organisierte Lernen in Bildungsveranstaltungen zum Gegenstand haben, ist beträchtlich. Es finden sich Einführungen in die »Erwachsenenbildung« (etwa Wittpoth 2003, Forneck/Wrana 2005, Faulstich/Zeuner 2008, Nolda 2008), in die »Weiterbildung« (Nuissl 2000) oder auch in die »Erwachsenenbildung/Weiterbildung« (Kade/Nittel/Seitter 2007). Diese Überblickswerke unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihren Gegenstandsbestimmungen und Theoriebezügen (Seitter 2005). Eine Gemeinsamkeit haben sie allerdings darin, dass Situationen des Lernens jenseits von Bildungsveranstaltungen entweder gar nicht oder eher am Rande behandelt werden, obwohl andere Formate des Lernens, etwa die mediale Wissensvermittlung, arrangierte Lernstätten, biographische Krisen oder Beratungsgespräche längst selbstverständlich mit zur Bandbreite des institutionalisierten Lernens im Erwachsenenalter zählen.
Die zweite Verschiebung des Blickfelds ergibt sich daraus, dass Fragen der professionellen Begleitung und Gestaltung des Lernens in diesem Grundriss zwar mit behandelt, dass diese Fragen aber in einem breiteren Kontext und nicht an erster Stelle diskutiert werden. Im Zentrum steht vielmehr zunächst die Frage, wie Lernen in unterschiedlichen sozialen Situationen bedeutsam wird, in denen Personen als Erwachsene angesprochen werden. Behandelt werden die je besonderen prozessualen Logiken, die dem Lernen und dem Erwachsen-Sein in diesen Situationen des Lernens Erwachsener jeweils zugrunde liegen. Erst im Horizont dessen werden dann auch Fragen des pädagogischen Handelns diskutiert. Da es sich gestaltend auf Situationen des Lernens Erwachsener bezieht, vollzieht es sich notwendig innerhalb der situationsspezifischen Logiken des Umgangs mit Lernen. Die Auseinandersetzungen über Ziele und Methoden eines solchen Handelns haben somit eine Kenntnis dieser Logiken zur Voraussetzung. Im Zentrum stehen daher zunächst die Formate des Lernens Erwachsener. Erst in zweiter Linie werden dann auch die Fragen ihrer pädagogischen Gestaltung betrachtet.
Die bisherige Engführung von Einführungen in das Erwachsenenlernen erstens auf das Format der Bildungsveranstaltung und zweitens auf die professionelle Gestaltung und Begleitung von Lernen hat historische Gründe. Die seit den 1970er Jahren betriebene Etablierung einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin »Erwachsenenbildung« war aufs engste verwoben mit dem Ziel einer Professionalisierung des von ihr untersuchten Feldes. Diese Professionalisierung wurde wiederum lange Zeit mit dem Ausbau und der wissenschaftlichen Fundierung des veranstaltungsförmigen Lernens gleichgesetzt, auch wenn andere Bereiche des Erwachsenenlernens nie völlig aus dem Blick geraten sind. Es ging um die Etablierung von Erwachsenenbildung/Weiterbildung als einem öffentlich verantworteten, systematisch strukturierten Teilbereich des Bildungssystems (Nittel 2000). Die im Zuge dessen vorgenommene Beschränkung auf die Etablierung und Gestaltung von Bildungsveranstaltungen verliert in den letzten Jahren zunehmend ihre Plausibilität. Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden. Drei davon seien an dieser Stelle benannt:
Ein erster Grund liegt in einer Schwerpunktverlagerung, die das Erziehungs- und Bildungswesen im Ganzen betrifft, also auch die Strukturierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen. Der Fokus der Betrachtung verschiebt sich weg von Aktivitäten des Lehrens und hin zu Prozessen des Lernens. Nicht länger die Gestaltung und Verbesserung der Maßnahmen, die das Lernen herbeiführen sollen, sondern die Qualitäten des Lernens selbst stehen nun im Zentrum des Interesses. Gerade die Erfolge der Professionalisierungsbemühungen der 1970er Jahre haben zu einer Begrenzung der Gestaltungserwartungen auch im Bereich des Lernens Erwachsener geführt (Seitter 2015). Zwar wird weiterhin davon ausgegangen, dass durch erwachsenenpädagogisches Handeln ein wesentlicher Beitrag zum Gelingen des Lernens Erwachsener geleistet werden kann. Das Lernen selbst wird aber als etwas verstanden, was sich im Lebenszusammenhang der Lernenden ereignet und wesentlich durch die Lernenden selbst strukturiert und gestaltet wird. Diese Verschiebung des Blicks weg vom Lehren hin zum Lernen geht einher mit einem gesteigerten Interesse für die Pluralität der Situationen, in denen sich Lernen ereignet. Es zeigt sich, dass die Teilnahme an Bildungsangeboten nur eine von mehreren Möglichkeiten des Lernens im Erwachsenenalter darstellt.
Ein zweiter Grund der Irritation des veranstaltungs- und professionszentrierten Blicks ergibt sich aus gesellschaftlichen Veränderungen, die jenseits des herkömmlichen Bildungs- und Erziehungswesens stattgefunden haben und als Prozesse der Pädagogisierung sozialer Situationen beschrieben werden. Soziale Situationen, die zuvor gar nicht als Lernsituationen begriffen wurden, werden nun verstärkt unter Lerngesichtspunkten betrachtet und entsprechend gestaltet. Dieser Prozess der Pädagogisierung bislang nicht pädagogisch gerahmter Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wird in der Erziehungswissenschaft als ein Prozess der Entgrenzung oder auch der Universalisierung des Pädagogischen beschrieben (Kade/Lüders/Hornstein 1991). Pädagogische Sicht- und Handlungsweisen werden außerhalb von Bildungsveranstaltungen aufgegriffen und beginnen auch dort das Geschehen mit zu prägen. Es scheint mittlerweile nahezu jederzeit und überall denkbar, dass Personen als Lernende angesprochen und Situationen als Lernsituationen verstanden werden. Eine Beschränkung erziehungswissenschaftlichen Denkens und Beobachtens allein auf das Lernen in Bildungsveranstaltungen wird den veränderten gesellschaftlichen Realitäten nicht länger gerecht. Längst ist der Alltag Erwachsener in Freizeit, Beruf und Familie durch eine Vielfalt lernbedeutsamer Situationen geprägt. Die darin wirksam werdenden Vorstellungen vom Lernen und vom Erwachsen-Sein werden zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.
Ein dritter Grund für die beschriebene Perspektivenverschiebung ergibt sich aus wissenschaftsinternen Entwicklungen. Im Zuge der Etablierung einer Wissenschaft von der Erwachsenenbildung wurden vermehrt Studien veröffentlicht, die nach der Bedeutung von Lernsituationen im Zusammenhang der Biographien der Lernenden fragen (Maier-Gutheil 2015). Das in diesen Studien entwickelte wissenschaftliche Wissen über das Lernen im Erwachsenenalter lässt sich in eine ausschließlich veranstaltungs- und professionszentrierte Sichtweise nicht sinnvoll integrieren. Es ergibt sich die Frage nach einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen, in dem die verschiedenen Situationen des Lernens sinnvoll voneinander unterschieden und zugleich aufeinander bezogen werden können.
Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen sowohl im Feld des Lernens Erwachsener als auch in den wissenschaftlichen Sichtweisen auf sie werden lange Zeit gestaltungsprägende Vorstellungen brüchig. Beschreibungsweisen gewinnen an Bedeutung, die es erlauben, einen Überblick über die Pluralität von Lernsituationen zu gewinnen. Die auf diese Pluralität bezogenen Überlegungen sind Gegenstand des vorliegenden Grundrisses. Eingeführt wird in den Stand der sich dynamisch entwickelten Diskussion. Überlegungen zu einer theoretischen Bestimmung des Feldes des institutionalisierten Lernens Erwachsener werden vorgestellt. Die mittlerweile umfangreichen empirischen Befunde hinsichtlich der Strukturen und Prozesse in diesem Feld werden zusammengetragen. Das Lernen Erwachsener erweist sich dabei als eine historisch gewachsene, vielfältig gebrochene gesellschaftliche Realität, an deren Hervorbringung die Wissenschaft selbst wesentlich Anteil hat, die zugleich aber durch Wissenschaft weder durchgängig bestimmt noch vollständig aufgeklärt werden könnte. Vielmehr zeichnet sich das Bild einer...