Das Platanenblatt
Schon beim Anflug sieht man: Da liegt kein Inselchen im blauen Meer, sondern ein kleiner Kontinent, zerklüftet, bergig und unwegsam, auch nicht grün, wie versprochen – das kommt erst später –, sondern braun und graugrün, mit mächtigen Felsbrocken und Tälern, in deren Tiefe kein Weg zu führen scheint. Lesbos ist groß, man hatte das ja nachlesen können, aber Größe ist in Zahlen nicht auszudrücken: Etwa hundertsechzig Kilometer Küstenlänge, das heißt, könnte man am Schreibtisch daheim meinen, in einer Woche wäre man bequem einmal um das Eiland gegangen, auch daß sie die drittgrößte der griechischen Inseln sei, ruft keinen Schrecken hervor. Eigentlich, sagt ein alter Lesbiote später, ist sie nach Kreta die zweitgrößte, Euböa hat eine Landverbindung, gilt also nicht. Ob dritt- oder zweitgrößte: Je näher man ihr kommt, je tiefer man sich auf sie heruntersenkt, auch wenn man in Mytilíni mit dem Schiff ankommt und sich aufmacht ins Inselinnere – sie ist sehr groß und so rauh, daß sie den Besucher spüren läßt, wieviel sie vor ihm verborgen halten kann.
Es muß alles erobert werden auf diesem Erdteilchen, das der Türkei viel näher ist als Athen, da wird nichts ausgebreitet oder freiwillig hergegeben, und man sollte die Füße einer Bergziege und das furchtlose Herz eines Wanderfalken haben, um sich nicht abschrecken zu lassen von den Versuchen, das Inselinnere zu erobern.
An den Gestaden der Ägäis merkt man fürs erste natürlich überhaupt noch nichts, und den arglosen Touristen, die mit Bussen über die Bergrücken und Spitzkehren gehievt werden, fällt zu Anfang auch nichts auf, außer: »Guck mal, der Oleander da. Wenn ich meinen daheim auch mal so hinkriegen würde!«, und dann dreht sich die Vordermännin im Omnibus um und sagt: »Haben Sie es schon einmal mit Eierschalen versucht?«
Gar nichts merken sie. Wie immer. Man muß vorgewarnt sein, von Haus aus mißtrauisch – oder wie mit einem geheimnisvollen Atlas der Poesie ausgerüstet, die dem Besucher eine Insel verspricht, von der er von vornherein annimmt, daß es so was gar nicht geben kann.
Wer sich mit dem Rückzug der Idylle zwischen Buchdeckel längst abgefunden hat, ist demütig dankbar, wenn die Wirklichkeit noch Reste davon bereithält. Und das tut sie auf Sapphos Insel, wenn auch anders als geträumt. Nicht ein einziges strahlendweißes Geviert hat seine Säulen zum Flugzeug hinaufgereckt, keine Wohnung der Götter zu sehen, jene schönen Gerippe, die man als abendländisches Erbe anzubeten gewöhnt war.
Nur weitersuchen, denkt man und wirft aus dem Busfenster einen Blick auf hunde- und tigerförmige Felsen, die in der Landschaft hocken und bis fast zu ihren Hälsen mit Olivenbäumen und Pinien bewachsen sind, während ihre Füße im rosa Oleander versinken.
Die Insel habe die Form eines Platanenblattes, heißt es. Das ist nicht falsch, denn die beiden unterschiedlich großen Einbuchtungen des Golfs von Kallonis und des kleineren Golfs von Geras mit ihren engen Öffnungen gleichen den Einkerbungen der Platanenblätter. Fast wie Binnenmeere liegen die beiden Buchten da, und es gibt viele kleine und größere Strände – allerdings keine Sandstrände. So leicht macht sie es einem nicht.
Wenn rings herum auch noch Sandstrände wären, sagt später eine Hotelmanagerin seufzend, dann wäre hier das wahre Paradies auf Erden! Und wir alle Millionäre.
Zum Anschauen sind Steinstrände und Kiesstrände mindestens ebenso schön, das Meer liegt glatt und blank wie ein Tuch, alles in Ordnung, es wird wunderbar werden. War man doch schon ganz ohne den Dichterinnenwahn, den man sorgfältig für sich behalten hatte, zu Hause darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Reisewunsch zu dieser Insel (jetzt muß man sich im Reisebüro ein ganz winziges Sprechpäuschen denken) nun ja, ähem, für einen gewissen Individualismus spreche. Und das ist, ähm, ja eigentlich nichts Schlechtes, nicht wahr? Große Hotelanlagen gebe es nicht, aber sehr ansprechende kleinere Arrangements, wenig Sandstrände, da wolle man ganz offen sein, aber sehr sauberes Wasser.
Komm, steig vom Himmel herunter
Komm in den kretischen Tempel zu Schiff
Da wachsen Apfelbäume im schönen und heiligen
Hain. Die Altäre dampfen von Weihrauch
Das Wasser rinnt kühl
Unter den Apfelzweigen, der Hang
liegt im Schatten der Rosenbüsche
Von den zitternden Blättern herunter
Senkt sich tiefer Schlaf.
Eine Wiese liegt dort, da weiden die Pferde
Frühlingsblumen blühen, es riecht süß
Nach Aniskraut
Komm, Kypris, setze dir Kränze aufs Haupt
Bring in goldenen Schalen den Nektar
Gieße uns Wein ein
Denn wir feiern ein Fest.
Ich bin sechs Wochen zu spät gekommen. Alles hätte ich finden können, das Aniskraut und die Apfelblüten, die Rosen und Krokusse, die Veilchen und alle anderen Blumen, die Sappho in ihren Liedern besingt und die hier von April an blühen, seit Tausenden von Jahren, ein Rest des Goldenen Zeitalters, da alle griechischen Inseln bewaldet waren, mit reichlich rinnendem, kühlem Süßwasser gesegnet und voller Blumen. Ihre trockenen Gerippe sind noch da und rascheln unter den Olivenbäumen, man kann Margeriten erkennen, Malven und wilden Hafer. Der Dill, den sie auch besingt und der sich für uns ein bißchen merkwürdig in der Poesie ausnimmt, erinnert er doch ans Einlegen von Gurken –, dieser wilde Dill ist sogar noch dunkelgrün mit seinen feinen Federblättchen.
Wenn man im April oder in den ersten Maiwochen hierherkommt, wird man mit ein paar wenigen anderen Verrückten allein sein, liebevoll von den vom Winter gelangweilten Inselbewohnern umsorgt, ganz für sich wird man sein, denn das Meer ist noch zu kalt zum Baden und die Schulferien in weiter Ferne. Vielleicht wird man die schönen, flinken Schlangen nicht nur im totgefahrenen Zustand kennenlernen und in den Tälern jene Landschaften finden, die den heiligen Hainen ein wenig gleichen, wenn auch ohne jene Altäre, die wir in Sapphos Gedichten finden. Dafür gibt’s andere, niemand muß gottlos bleiben, aber darauf kommen wir noch.
Das Juwel der Insel zeigt sich wie eine Erscheinung, eineinhalb Stunden von Mytilíni entfernt und hinter mehr als sieben Bergen – Molyvos, in der Antike hieß es Míthymna, im Mittelalter Molyvos, jetzt steht auf den Schildern wieder Míthymna, und die Bewohner nennen es trotzdem Molyvos. So einfach ist das. Von einer mächtigen Burg beherrscht, sind an den Fels, der sich nicht schroff, sondern sachte aus dem Meer erhebt, Hunderte von kleinen Häusern gebaut, haben steile, krumme Gassen gebildet, Treppen sind zwischen ihnen aus dem Stein gehauen, und die Terrassen der Kneipen hängen wie Schwalbennester über dem Abgrund. Das ganze Dorf – eigentlich ist es ein Städtchen – steht unter Denkmalschutz, und die Hotels am Ufer können mit dem wunderschönen Blick vom Strand aus werben. Wer Genaueres wissen will, muß klettern und kraxeln, sich die Knöchel verstauchen und gelegentlich aus Gründen des Atemschöpfens vor einem der kleinen Schaufenster in der Marktgasse stehenbleiben. Das Angebot ist tröstlich: Strohschuhe, Gummischuhe für den Steinstrand und Hüte, denn es ist den Fremden nicht abzugewöhnen, in der Mittagszeit herumzulaufen.
Wenn es denn so ist, sagen sich die Einheimischen, kann man genausogut was davon haben. Die Hüte sind nicht schön, aber teuer. Die hohen, den Steinen trotzenden Schuhsohlen haben sie ja schon im Altertum gehabt, und die fließenden, leichten Gewänder sind sicher angenehmer gewesen als jene Kleidung, die nun schon so oft bejammert, verspottet und mit Abscheu übergossen worden ist. An ihr kann man es auch hier sehen: Was einmal in der Welt ist, bleibt in ihr. Und so wollen wir wegschauen, denn die Verachtung hat nichts geholfen. Und niemand hindert einen daran, in Gedanken allen Mittouristen Peplos, Mantel, Hemd und Umhang umzutun und ihnen archaische Sandalen anstatt der rosa-violetten Sportschuhe an die Füße zu hexen. Ach, aber sie taugen nicht recht als Statisten für eine Szenerie, die ich noch nicht finden kann, und sie mit Gewalt herbeizuzitieren wie bei einer Séance will nicht gelingen. Abends aber, allein auf einer Terrasse
Die Sterne rund um den schönen Mond
verstecken alle ihr leuchtendes Gesicht
Wenn er voll am hellsten erstrahlt
Über die Erde
silbern
Da braucht man keine Phantasie mehr, die Zeit setzt aus. Selanna ist ein viel schöneres Wort als Mond. Noch ist nicht die Stunde der Grillen. Es ist ganz still. Und der Große Wagen versteckt sich nicht – der Mond ist erst halb –, sondern erscheint so klar und hell, daß man das Reitersternchen auf der Deichsel gut erkennen kann.
Sappho hat wahrscheinlich immer am Meer gewohnt. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen im archaischen Zeitalter auf der Insel lebten, aber sie müssen die gleichen Orte gewählt haben wie die heutigen: die Buchten um die beiden Golfe, die wenigen kleinen Ebenen und die Täler, die wie mit einem breiten grün-rosa Pinsel zwischen die kahlen, schroffen Berge gezeichnet sind. Oasen – nie habe ich ein so genaues Bild für das Wort »Wasserader« gesehen. Denen folgen die dichten Bäume und Büsche, schmale fruchtbare Bänder am Grunde der Täler. Denn nach einigen Kilometern in Richtung Osten verabschieden sich die Olivenbäume, werden...