KAPITEL 1
DIE BEGEISTERUNG, DÜNGER FÜR DAS GEHIRN
Jahrzehntelang hat man geglaubt, Menschen kämen mit einem von ihren Genen programmierten Gehirn zur Welt.
Die Gene der einen verkabelten ihre Gehirne so, dass sie automatisch in die Kategorie der intelligenten Menschen eingereiht wurden, während die Gene der anderen sie zwangsläufig »dumm« bleiben ließen. Das war praktisch, pragmatisch, wohlgeordnet (dank der Symmetrie, die den Anhängern der Philosophie von Descartes so lieb ist), leicht nachzuvollziehen und zu akzeptieren, auch von den »Dummen«.
Dieser Glaube ließ eine gewisse Weltordnung entstehen, die heute noch fest in unserer Gesellschaft verankert ist. Die einen werden dumm geboren und werden es bleiben (die Epigenetik ist erst vor kurzem entdeckt worden, bis dahin bedeutete »genetisch« immer auch »endgültig«), die anderen sind von Geburt an intelligent – wie es schon ihre Eltern waren und wie ihre Kinder es sein werden, denn »genetisch« heißt auch »erblich«.
Dank der Epigenetik wissen wir, dass unser Werdegang nicht in den Stein unserer Atavismen gemeißelt ist. Was wir zu uns nehmen, wem wir begegnen, unser Umfeld, unsere Erfahrungen usw. haben Einfluss auf unsere Gene.
Am Ende des 20. Jahrhunderts wiesen britische Studien bei Jugendlichen eine plötzliche und spektakuläre Entwicklung jener Zone des Gehirns nach, die für die Bewegung des Daumens zuständig ist. Eine Entwicklung, die – ja, ja – einhergeht mit der exponentiell wachsenden Bedeutung der SMS im Alltag der jungen Leute – denn der Daumen ist das am meisten eingesetzte Werkzeug beim Schreiben einer SMS. Diese Entdeckung räumte in aufsehenerregender Art auf mit dem Glauben an den genetischen Ursprung der Intelligenz und führte zu der etwas vorschnellen Schlussfolgerung, dass das Gehirn sich ähnlich einem Muskel entwickelt, d.h. entsprechend dem Gebrauch, den man von ihm macht.
Ebenso vorschnell wurden, gestützt auf diese Annahme, Programme zum Training des Gehirns propagiert. Sie scheiterten kläglich: Was so hervorragend funktionierte für das Schreiben von SMS, hatte nicht den geringsten Effekt, als man versuchte, das Gehirn von Kindern zu »boosten«, indem man sie im Kindergarten fünf Sprachen lernen ließ oder ihnen mit 18 Monaten das Lesen beizubringen versuchte, während sie lieber mit einem Löffel im Kakaopulver Bagger spielen wollten … Man musste von vorne beginnen.
Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther erklärt, dass ein gezieltes Training während mehrerer Stunden pro Tag keine Entwicklung größeren Ausmaßes hervorbringt. Treibender Faktor sei die Begeisterung, mit der Jugendliche untereinander über SMS kommunizieren. »Das Gehirn ist kein Muskel, den man beliebig zwingen und belehren kann, es braucht für die Weiterentwicklung die richtige emotionale Anregung.«1
Unser Gehirn entwickelt sich somit nach Gebrauch – unter der Bedingung allerdings, dass das, was wir tun, unsere Begeisterung weckt und schürt!
Dass die Begeisterung uns Flügel verleiht, uns erlaubt, alles zu lernen, alles zu werden, über all unsere Grenzen hinauszuwachsen, das wissen wir alle; neu ist, dass dieses Phänomen nun wissenschaftlich erklärt werden kann. In einem Artikel in der »Welt« vom April 2012 schrieb Gerald Hüther mit der ihm eigenen Klarheit, die ihn im deutschsprachigen Raum so beliebt gemacht hat:
»Das kennen wir alle: Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, dann strengt man sich auch an, um es zu erreichen. Wenn es dann tatsächlich klappt, ist man hellauf begeistert. Und immer dann, wenn man sich so richtig für etwas begeistert, wenn es einem unter die Haut geht und man etwas besonders gut hinbekommen hat, wird im Mittelhirn eine Gruppe von Nervenzellen erregt.
Die schütten dann an den Enden ihrer langen Fortsätze einen Cocktail neuroplastischer Botenstoffe aus. Zum Leidwesen aller tapferen Pflichterfüller passiert das nie im Routinebetrieb des Gehirns, wenn man all das abarbeitet, was anliegt, sondern nur in diesem wunderbaren Zustand der Begeisterung. Die bekanntesten dieser neuroplastischen Botenstoffe heißen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, auch Peptide wie Endorphine und Enkephaline gehören dazu.
Sie alle lösen auf die eine oder andere Weise in nachgeschalteten Nervenzellen eine rezeptorvermittelte Signaltransduktionskaskade aus. All jene neuronalen Netzwerke werden ausgebaut und verstärkt, die im Hirn aktiviert worden waren, um genau das zustande zu bringen, was der betreffenden Person ganz besonders am Herzen lag.«2
An anderer Stelle fasst Gerald Hüther es so zusammen: Die Begeisterung ist Dünger für das Gehirn.
Das ist eine frohe Botschaft, sind wir doch ausnahmslos alle mit diesem Dünger für das Gehirn auf die Welt gekommen, den wir überall hin mitnehmen können! Die Begeisterung, wie andere Geisteszustände, ist einfach da, von Anfang an.
Kleinen Kindern zuzuschauen, wie sie spielen (also wie sie die Welt erkunden), zeigt diesen grundlegenden, angeborenen und spontanen Aspekt der Begeisterung perfekt auf. Ein Kleinkind empfindet alle zwei bis drei Minuten einen Begeisterungssturm. Der erste ist noch nicht vorbei, da beginnt schon der nächste.
Dieses Phänomen ist leicht zu erklären: Es wurzelt in der ergreifenden geistigen Offenheit, die ebenfalls zu unserer »Grundausstattung« gehört. Ein Kleinkind entdeckt die Welt ohne den Hauch eines Urteils und frei von jeglicher Diskriminierung. Es geht auf andere Lebewesen (Menschen, aber nicht nur) mit offenen Armen und offenem Herzen zu, ohne sich um ihre Hautfarbe, ihre Religion, ihre Größe, ihr Geschlecht oder ihr Alter zu kümmern. Frei von allen »Ismen« dieser Welt (Rassismus, Sexismus, Speziesismus, Altersdiskriminierung), braucht es nicht zur Toleranz erzogen zu werden, denn es kennt die Intoleranz nicht… (Stellen Sie sich vor, wie anders unsere Welt wäre, wenn wir uns nicht zu weit von dieser angeborenen Anlage wegbewegen würden!).
Ein Kleinkind hat am Anfang keinen Grund, sich unsere Auffassung von den Geschlechtern zu eigen zu machen…
Mädchen? Junge? Es hat noch nicht gelernt, zu differenzieren, einzuteilen, zu klassifizieren, zu kategorisieren. Ein Kleinkind denkt, dass es so viele Genders gibt wie Menschen.
Saskia hat sehr helle Haut. Sie lebt in Holland mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem größeren Bruder. Gerade schaut sie sich begeistert im Internet eine Fotografie an. Auf dem Bild sieht man eine junge afrikanische Mutter mit tiefschwarzer Haut, die mit beiden Armen ihre kleine Tochter über ihren nach hinten geworfenen Kopf hält – und die Kleine lacht aus vollem Hals. Beide tragen bunte Kleider und sind so fröhlich und einander so verbunden, dass Saskia nicht aufhören kann, sie zu betrachten. Sie dreht sich zu ihrer Mutter um und sagt: »Ist das vielleicht ein Foto von dir und mir?« Neugierig fragt ihre Mutter sie: »Siehst du keinen Unterschied zwischen ihnen und uns?« »Doch«, antwortet Saskia, »doch Mama, ihre Kleider sind viel hübscher als unsere.«
Dank dieser Weltoffenheit gibt es für das Kind weder Hierarchien der Berufe noch der Fachgebiete. Es hat keinen Grund, sich für den Beruf des Müllmanns weniger zu begeistern als für denjenigen des Astronauten; in seinen Augen haben Stricken und Mathematik denselben Stellenwert, Lesen lernen und Tanzen sind auf der gleichen Stufe. Darum begeistert es sich für alles, was ihm begegnet, seien es Personen oder das was sie tun, oder sonst etwas, was es zu verstehen oder zu entdecken gibt.
Jeder dieser kleinen Begeisterungsstürme löst wiederum das vom Hirn selbst generierte »Doping« aus, das wir schon beschrieben haben. Alle Substanzen, die das Kleinkind braucht, damit die neuronalen Netzwerke ausgebaut und verstärkt werden, entstehen direkt im Gehirn, alle zwei bis drei Minuten, von morgens bis abends.
Welch eine außergewöhnliche Ausstattung, um ein Leben zu beginnen! Die Begeisterung beschränkt sich natürlich nicht nur auf den Beginn des Lebens – oder sollte es zumindest nicht tun. Es gibt keinen Grund, weshalb sie sich erschöpfen sollte. Sie wirkt unabhängig von unserem Alter. Ich zitiere gern das Sprichwort: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, um zu unterstreichen, wir grundfalsch dieses ist, wie klar die Praxis ihm widerspricht. Eines meiner Lieblingszitate von Gerald Hüther ist folgendes: »Ein 85-Jähriger kann in einem halben Jahr chinesisch lernen … vorausgesetzt, er begeistert sich dafür … zum Beispiel, weil er sich in eine junge, 75-jährige Chinesin verliebt hat.«3 Wenn wir also chinesisch nicht lernen, ob mit fünfundachtzig oder mit fünfzehn, dann nicht, weil unser Hirn es nicht zulässt, sondern schlicht deshalb, weil es uns nicht begeistert.
Genau darum machen wir so große und schnelle Fortschritte in allem, was wir mit Begeisterung angehen.
Begeisterung löst Emotionen aus. Sie versetzt uns in einen Zustand, in dem die emotionalen Zentren aktiv sind. Und sind sie aktiv, so eignen wir uns die Informationen für immer an.
Werden die emotionalen Zentren nicht aktiviert, hat die Information keine Chance, sich in unserem Gehirn zu verankern. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus, beinahe sofort. Dies ist die Erklärung dafür, weshalb wir in einer Welt leben, in der es als normal angesehen wird, achtzig Prozent des Gelernten wieder zu vergessen! Hand aufs Herz: ist es nicht so, dass die zwanzig Prozent, die Sie nicht vergessen haben, mit Emotionen verbunden sind?...