Mein Budapest
Erfahrungen aus drei Jahrzehnten
Wenn Prag das Herz von Mitteleuropa ist, ist Budapest sein Schoß.
György Konrád
Ungarische Lieder, unverstanden. Zum Blick aus dem Haus meiner Kindheit auf das weite Feld eines Dorfes im Salzburger Land, zu den sonnigen Morgen der ersten Jahre, in die eine eigene Erinnerung zurückreicht, gehören die ungarischen Lieder meiner Großmutter. Verstanden habe ich davon so viel wie von allem, was sie sagte: Klänge, Wortfetzen. Denn Oma konnte nach einem Schlaganfall nicht mehr zusammenhängend sprechen. Und sie war blind; aber wenn die niedrige Wintersonne grell durch das Fenster schien, konnte sie etwas von ihrem Schein wahrnehmen, und dann sang sie ungarische Lieder. Oder wenn sie mit ihrem gelähmten linken Arm Gymnastik machte und um die letzten Reste ihrer Beweglichkeit kämpfte. Darum habe ich ihre ungarischen Lieder im Ohr als Überlebensstrategie und als Widerstand gegen die Zumutungen des Lebens.
Großmutter war in den Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie einige Jahre als Erzieherin und Hauslehrerin in Hermannstadt und dann etwa ein Jahrzehnt in Budapest gewesen; dort hatte sie auch die Räterepublik erlebt. Schaurige Geschichten darüber sind über meine Mutter auf mich gekommen; ich selbst konnte mit der Großmutter ja nie einen klaren Satz sprechen. In meiner Kindheit habe ich die Briefmarken von ihrer Post aus Budapest ausgeschnitten, aber als ich alt genug war, um den Wert dieser Briefe zu begreifen, gab es die Großmutter nicht mehr. Jahrzehnte später habe ich diese Geschichte György Konrád erzählt und mit ihm überlegt, wie man die Spuren der Familie jenes Professor Benedek finden könnte, bei dem sie in Dienst gewesen sein muss, doch die Anhaltspunkte waren zu schwach. Aber György Konrád hat sich dafür interessiert, denn meine Großmutter muss ein Kindermädchen von ähnlicher Art gewesen sein wie jenes, das seine eigene Kindheit geprägt hat.
Von Rußbach am Pass Gschütt, meinem Dorf im Salzburger Land, war Budapest unvorstellbar weit. Ich wusste jedoch bereits als Volksschüler, dass der Rußbach in die Lammer, die Lammer in die Salzach, die Salzach in den Inn und der Inn in die Donau mündet – diese Formel war meine erste Weltkoordinate. Doch die Donau, das war Wien. Denn ich bin im Jahr des Ungarnaufstands 1956 geboren, und in meiner Schulzeit war das Kádár-Regime noch weit entfernt vom »Gulasch-Kommunismus«, so konnte sich auch niemand vorstellen, dorthin zu fahren. Noch 1974 bin ich mit zwei Studienkollegen lange und entsetzt vor dem Grenzbalken im burgenländischen Pamhagen gestanden; dass die Hauptstadt eines Nachbarlands so unerreichbar scheint und eine Straße nirgendwohin führt, sondern in einem Niemandsland aufhört, wo vor Schüssen und Minen gewarnt wird, das hatte ich davor noch nie erlebt.
Bis 1980 sollte es dauern, bis ich Budapest zu sehen bekam. Als Student war ich gebeten worden, eine fast blinde alte Dame zu begleiten, die noch einmal ihre in der ungarischen Hauptstadt lebende Schwester besuchen wollte. Auf der Margareteninsel im Freien sitzen, kalte Weichselsuppe und ein pörkölt essen – das gehört zur Erinnerung, die die Jahrzehnte überdauert hat. So wie das legendäre Hotel »Béke«, dessen Name »Friede« bedeutet – und der heute hinter dem Radisson-Schriftzug beinahe verschwunden ist. Viele Schallplatten habe ich damals gekauft, vor allem aus der ungarischen Bartók-Edition mit ihren wunderbaren Begleitheften; und etliche Aufnahmen von Künstlern, die aus kommunistischen Ländern emigriert waren – nur in Ungarn durften sie noch verkauft werden. Die im Vergleich zu anderen kommunistischen Staaten – ich hatte damals bereits eine Reise in die Tschechoslowakei hinter mir – liberale Atmosphäre des Landes war schon an der Grenze spürbar, aber auch in den Gesprächen und in der Atmosphäre der Budapester Innenstadt. Und sogar bei der »Zigeunermusik« im Hotel-Restaurant.
Eine geschönte, purifizierte »Zigeunermusik« überzog mit ihren gelackmeierten Kapellen schon damals das ganze Land – vom vornehmen Hotel in der Hauptstadt bis in die Kneipen der Provinz. Wie sehr sich diese Hauptstadt, deren abbröckelnde mondäne Fassaden im grauen Qualm stinkender Lastkraftwagen und knatternder Trabants zu versinken schienen, vom Rest des Landes abhob und auch jetzt noch immer unterscheidet, machte mir erst ein Aufenthalt in jenem Gebiet klar, in dem nicht wenige Budapester auch heute noch der in allen kommunistischen Ländern begünstigten Datschenkultur frönen: am Plattensee. Im Sommer 1983 machte ich mich dorthin auf eigene Faust und mit dem Auto auf den Weg. Ich hatte wenig Zeit und noch weniger Geld, musste aber im Stress zwischen Uni-Abschluss und einem Halbtagsjob dringend eine Woche ausspannen. Also fuhr ich mit einer Studienkollegin aufs Geratewohl los; zufällig landeten wir in der kleinen Ortschaft Badacsonytomaj. Der schnauzbärtige Wirt, der Fischsuppe servierte, die obligatorisch feurige »Zigeunerkapelle« und die Reflexion der Abendsonne im See – das wirkte damals noch nicht so, als wäre es aus dem Reiseprospekt abgekupfert, und unsere Tourismuserfahrung war noch so gering, dass wir das Klischee für echt hielten. Quartier fanden wir bei einer Familie, die ihr Wohnzimmer vermietete, um über den Sommer ein wenig Geld zu verdienen. Ich wunderte mich, dass das in einem kommunistischen Land möglich war, und erinnerte mich gleichzeitig an das Dorf meiner Kindheit, wo zwanzig Jahre davor Menschen im Sommer in der Badewanne geschlafen hatten, um wenigstens ein Zimmer vermieten zu können. Salami, violette Zwiebeln und mein erstes lángos gehörten zu diesen wenigen unbeschwerten Sommertagen am Plattensee, und an die Anfang der dreißiger Jahre gebaute graue Kirche aus dem Basaltgestein der Gegend erinnere ich mich noch gut. Das verlockt mich, ihr Bild im Internet anzusehen. Ich finde es auf der Homepage www.badacsonyi.hu und stoße dort auf einen Informationstext, in dem erklärt wird: »Die Kirche wurde zwischen 1930–1932 erbaut. Sie ist nieht nur das unvergleichbare Schmuckstück aus Basalt von Badacsonytomaj, sondern von ganz Europa und sie könnte als Naturschutzgebiet ein Teil des Welterbes sein!« Deutsche Texte, die in Ungarn öffentlich zu lesen und wie in diesem Fall sogar offiziellen Ursprungs sind – wenn ich einmal schlecht drauf bin, finde ich da immer eine Gratisunterhaltung. Und nicht nur in der Provinz, sondern auch mitten in Budapest.
Von weiten Teilen Österreichs aus ist Budapest das perfekte Ziel für einen Wochenendabstecher. 1987 ergab sich eine Gelegenheit dafür, und da ich gerade zwei Jahre als Germanistiklektor im sowjetisch okkupierten Litauen hinter mir hatte, nahm ich in der ungarischen Hauptstadt nur die unglaubliche Freiheit des im Westen allzu oft gerühmten Gulasch-Kommunismus wahr und war unfähig, die Schäden, die das System auch in Ungarn angerichtet hat – von der Wirtschaft bis in die Psyche der Menschen –, zu erkennen. Mich schmerzte damals nur eine Begleiterscheinung der (wie ich später begriff: genau abgegrenzten) Freiheit: die überall wie aus dem Erdboden hervorschießenden Geldwechsler. Sie betrogen mich so geschickt und unverschämt, wie ich weder vorher noch nachher irgendwo betrogen wurde. Aus Scham habe ich sie verdrängt und mich erst nach Jahrzehnten wieder an sie erinnert, als György Konrád erzählte, nach jedem längeren Aufenthalt im Westen hätten ihm die Budapester Geldwechsler zwei Wochen lang ständig aufgelauert, ihn danach jedoch wieder in Ruhe gelassen. Und Konrád, der ausgebildete Stadtsoziologe, konnte sich nicht erklären, wodurch er sich infolge seines Auslandsaufenthalts in einen Touristen verwandelt hatte und wie er danach wieder zu einem ganz normalen Budapester mutierte. Die Geldwechsler haben den Schriftsteller auf seinem ureigenen Gebiet, der Beobachtung von Gesten und Physiognomien, glatt geschlagen. Nur haben sie ihr Wissen nicht zu Papier gebracht, sondern zu barem Geld gemacht.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 gab es Perioden, in denen Ungarn von Horden von Einkaufstouristen aus Österreich heimgesucht wurde; im Gegenzug fielen Ungarn scharenweise in die Wiener Mariahilfer Straße ein, vor allem, um billige Elektrogeräte zu kaufen. In Salzburg bekam ich davon kaum etwas mit. Doch das Jahr 1990 führte mich über die Grenze nach Ungarn: Im Juli unterrichtete ich bei einem Sommerkurs für ungarische Russischlehrerinnen, für die es plötzlich keinen Bedarf mehr gab, weshalb sie auf Deutschlehrerinnen umgeschult werden sollten; der Kurs fand im burgenländischen Pinkafeld und in der ungarischen Kleinstadt K?szeg statt. Unsere »Schülerinnen« waren etwa im selben Alter wie wir Lehrer, aber sie wirkten viel älter und waren in ihrem Verhalten und im Umgang oft fremd. Der intensive Kurs war eine Erholung für sie, weil sie einmal der Doppelbelastung von Beruf und Haushalt entkommen waren. Natürlich konnten wir ihre Familiennamen in der Regel nicht aussprechen, und von etlichen mussten wir erst mühsam den Vornamen erfragen, weil auch der hinter dem Namen des Mannes verschwunden war: Hieß eine Teilnehmerin Kiss Tamásné, so wusste man nur, dass ihr Mann Kiss Tamás hieß.
1991 unterrichtete ich wieder bei diesem Sommerkurs, allerdings wurde er jetzt für ungarische Germanistikstudentinnen und -studenten gehalten. Ihr Verhalten war wie das ihrer Kolleginnen und Kollegen in Österreich, der Kontakt fröhlich und unkompliziert, und während etwa Studenten aus Tschechien damals noch in Anzug, kariertem Hemd und geblümter Krawatte herumliefen, hätte den Ungarinnen und Ungarn niemand ihre Herkunft aus dem ehemaligen »Osten« angesehen. Ihre Wendigkeit, die Schnelligkeit der Anpassung und...