Zu Füßen des nackten Neptun
Rot, fett und gelehrt – so beschreibt sich Europas älteste Universitätsstadt selbst kokett. Dabei ist Bologna vor allem schick und schön
Die Luft ist erfüllt von Stimmengewirr. Die Gäste drängen sich im Restaurant und an den Tischen davor. Im Zerocinquantuno in der Via de’ Pignattari trifft sich heute halb Bologna. Ohnehin ist der aperitivo eine Institution in der Stadt, in der fast fünfundachtzigtausend Studenten leben. Für zehn bis zwölf Euro erhält der Gast dabei neben einem Glas Wein freien Zugang zum Buffet – eine wegen ihrer Wirtschaftlichkeit von der jungen Generation besonders geschätzte Form der Frühabendgestaltung. Natürlich bildet sie nur den Auftakt. In Bologna sind die Nächte lang. Die Straßen der Altstadt sind nach Mitternacht mindestens so voll wie am späten Vormittag, wenn die Bewohner der Stadt generationenübergreifend zum Mittagessen aufbrechen, um zum Glas Pignoletto, dem örtlichen Weißwein, einen Teller tortellini in brodo oder etwas in der Art zu sich zu nehmen.
»Wir lieben unsere Stadt, deshalb sind wir immer in ihr unterwegs«, erklärt Simone, ein Student. Sogar sonntags, wenn die Geschäfte geschlossen sind, strebt alles ins Zentrum. Die Leute trinken ihren caffè, kaufen Zeitungen, treffen Freunde und gehen zum Mittagessen aus.
Rossa, grassa et dotta – rot, fett und gelehrt – mit diesen unterschiedlich schmeichelhaften Adjektiven beschreiben die Bewohner Bolognas kokett ihre Heimatstadt. Rot weniger wegen ihrer politischen Ausrichtung seit dem Zweiten Weltkrieg – obschon auch das im Großen und Ganzen zutrifft – als aufgrund des roten Ziegelsteins, aus dem Bolognas Altstadt überwiegend besteht. Auch Busse, Haltestellen und die letzten verbliebenen Telefonzellen sind rot, ebenso die Markisen an vielen Fassaden. Die Stadt ist schlicht vernarrt in diese Farbe. Als gelehrt gilt die Perle und Hauptstadt der Emilia Romagna wegen ihrer im Jahr 1088 gegründeten Universität. Sie ist die älteste der westlichen Welt.
Fett ist Bologna schließlich ganz unzweifelhaft wegen der exzellenten Kochkunst, die hier, in der Heimat von mortadella und pasta al ragù, gepflegt wird. So könnte man in der schönen Hauptstadt der Provinz Bologna zwar Wochen mit dem Studium von Kunst und Architektur verbringen, doch sollte genug Zeit fürs Essen bleiben. In den zweiundvierzig Kilometer umfassenden Arkadengängen kann man einen Teil der Kalorien, deren Zufuhr hier unumgänglich ist, schnell wieder verbrennen. Die schönen Laubengänge, in denen es sich heute bei jedem Wetter angenehm flanieren lässt, entstanden als aufgestockter Wohnraum für Studenten. So ließen sich die Häuser ab der ersten Etage zur Straße hin erweitern. Allerdings war eine Mindesthöhe von zwei Metern sechsundsechzig vorgeschrieben, damit Reiter sie ungehindert passieren konnten.
Wurde in Bologna einstmals praktisch gedacht, regiert heute die Ästhetik. Architektur und Kunst, Musik, Mode und Motoren – diese Stadt hat alles zur Blüte gebracht, immer das Schöne bewahrt und mit Leben zu füllen gewusst. Museal ist hier rein gar nichts.
Auf der Piazza Maggiore und der Piazza Nettuno, zwei L-förmig ineinander verschränkten Plätzen, schlägt Bolognas Herz. An einer Seite wacht die Basilica di San Petronio, in deren Seitenkapelle ein Foucaultsches Pendel schlägt. Für Umberto Eco war und ist Bologna nicht nur Wahlheimat, sondern auch Inspiration. Der 1932 im Piemont geborene Philosoph, Schriftsteller und Autor des Weltbestsellers »Der Name der Rose« war hier von 1975 bis zu seiner Emeritierung 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Semiotik. 1988 erschien sein Roman »Das Foucaultsche Pendel«.
Vor dem roten Rathaus steht der Neptunbrunnen mit seinem splitterfasernackten, drei Meter zwanzig großen Neptun aus Bronze. Das Portal des Rathauses, das heute ein Kunstmuseum beherbergt und dessen – roter – Prunksaal Schauplatz örtlicher Trauungen ist, schmückt eine Statue des Papstes Gregor XIII. Im Jahr 1502 wurde er als Ugo Buoncompagni in Bologna geboren, lange muss er sich nun schon aus dem Augenwinkel den heidnischen, muskelbepackten nackten Mann mit Dreizack ansehen. Der Dreizack sollte sich Jahrhunderte später an einem Ort wiederfinden, den sich Bauleiter Tommaso Laureti 1564 schwerlich hätte vorstellen können: Die Brüder Maserati verwendeten ihn zeitweise in ihrem Firmenlogo.
Zu Füßen des gigantischen Meeresgottes trifft sich heute ganz Bologna: Studenten, Einkaufende, Flaneure. Der nackte Mann gehört zur Stadt wie die beiden schiefen Geschlechtertürme, die aus ihrer Silhouette ragen: die Torre Garisenda und die Torre degli Asinelli.
Ein anderes Wahrzeichen ist essbar. Bolognas bekanntester Exportschlager ist die »Bolognese« genannte Sauce, die in ihrer Heimat verkürzt als ragù bekannt ist – und niemals, unter gar keinen Umständen, zu spaghetti gegessen (oder gar im Restaurant bestellt) wird. Denn mit einer solchen Nudel kann sich die Sauce nicht verbinden, die vier bis sechs Stunden köcheln muss, um hinreichend zart zu werden und ihr ganzes Aroma zu entfalten. Für sie gibt es die breiteren, etwas raueren tagliatelle oder papardelle; auch penne oder sogar tortelloni sind denkbar. Basis des ragù ist Rindfleisch – eine Alternative gibt es (hier) nicht. Punkt. Wer diese Lebensregeln verinnerlicht hat, kann sich ohne Fauxpas in den besten Restaurants der Stadt bewegen. Es gibt nun einmal Dinge, bei denen Italiener keinen Spaß verstehen.
Ansonsten aber sind die Bewohner Bolognas völlig entspannt. Am Samstagmorgen sitzen sie im Zanarini, dem ältesten Café der Stadt, das seine Eleganz bis heute bewahrt hat, bei Kaffee und Zeitungslektüre, bevor sie sich die Fenster der schicken Boutiquen unter den Arkaden anschauen, oder ein wenig umherflanieren. Bologna wäre nicht eine norditalienische Stadt, könnte man sich hier nicht in kurzer Zeit auf sehr angenehme Art ruinieren. Armani, Prada, La Perla, Louis Vuitton, Bulgari, Fendi, Yves Saint Laurent – alles, was gut und teuer ist, ist in der Galleria Cavour versammelt. Noch schöner: Die Designerware verbirgt sich nicht im seelenlosen Outlet im Nirgendwo, sondern im Herzen der Altstadt in historischer Bausubstanz. Hier spaziert man auf Marmor und betrachtet die erlesenen Auslagen, während man darüber nachsinnt, welche osteria man am Abend aufsuchen wird.
Dass eine derartig lebhafte Stadt umtriebige Menschen hervorbringt, ist nicht überraschend. Und so schön wie Bologna selbst sind viele ihrer Erzeugnisse, von Lederwaren bis zu Luxuskarossen. Die Brüder Maserati stammten aus Bologna und gründeten hier 1914 ihr Unternehmen. Auch die Marke Lamborghini hat hier ihre Wurzeln. Die Edeltäschner Furla und Mandarina Duck haben ihren Sitz in der Stadt, wobei die Marke mit dem Entenkopflogo 2011 nach Südkorea verkauft wurde. Und auch das Modeunternehmen Max Mara gehört mit den Maras einer Familie aus Bologna, die sich dank erfreulicher Umsätze auch mit ihrer Kunstsammlung einen Namen machen konnte.
Paolo Atti ist der Name der ältesten Bäckerei und Konditorei Bolognas. Wobei diese zwei Begriffe nicht ganz ausreichen, die Produktpalette des Geschäfts abzubilden, denn hier werden auch Teigwaren hergestellt. Edda Sfoglina ist eine der Frauen, die in einer großen Küche hinter dem Verkaufsraum pasta produzieren: tagliatelle, tortellini und tortelloni, die aus so hauchdünnem Teig gefertigt sein müssen, dass man ihre Füllung aus mortadella, prosciutto, parmigiano oder lombo – magerem Schweinefleisch – deutlich schmeckt. »Die sind so würzig, da braucht man keine Sauce«, erklärt die Nudelmacherin entschieden. Mit den blitzenden braunen Augen, der Spitzenbluse unter Kittel und Schürze und einer gestickten Haube auf dem Haar sähe man sie gerne auf dem Titel eines Kochbuchs. Sie schneidet den von einer großen Nudelmaschine gepressten Teig in Vierecke, gibt einen Klecks Füllung darauf und faltet und schließt die Nudel. Jede einzelne entsteht in Handarbeit. Acht Kilogramm Teig verarbeitet Edda Sfoglina am Tag auf diese Weise, da versteht man, wenn sie sagt, dass es bei ihr zu Hause am Abend nicht immer pasta gibt.
Franco Bonaga, der Juniorchef des Hauses Paolo Atti & Figli, wird noch etwas leidenschaftlicher, wenn er über kulinarische Sitten und Gebräuche spricht. Sein Plädoyer gegen die universelle Barbarei der »Spaghetti Bolognese« macht deutlich, dass er jede Speisekarte und jedes Kochbuch, die dieses nichtexistente Gericht beim Namen nennen, als Angriff auf die Würde und die Kultur seiner Heimat begreift. »An spaghetti kann kein ragù haften«, erklärt er noch einmal beschwörend, dann seufzt er resigniert und gießt seinen Gästen noch ein wenig Pignoletto nach. Denn in dem schönen Geschäft an der Via Caprarie mit seiner wunderbar altmodischen Theke vor den glänzenden Holzregalen voller Köstlichkeiten stehen auch ein paar Tische.
Nach hervorragender lasagne und einer Portion köstlicher tortelloni, beides frisch zubereitet von den Pasta-Expertinnen des Hauses Paolo Atti & Figli, ist Bewegung hilfreich. Durch sechshundertsechsundsechzig Arkaden – den längsten Arkadengang der Welt – und vorbei an fünfzehn Rosenkranzkapellen führt der knapp vier Kilometer lange Pilgerweg vom Stadttor Porta Saragozza bis zur Wallfahrtskirche der Madonna di San Luca. Anfangs ist die Steigung kaum spürbar. Es ist schön zu beobachten, wie die Stadt an ihrem Rand ruhiger...