Belle Époque trifft auf Wildnis
Korsika und die Touristen: Szenen einer Ehe
Madame trägt schwarz, fast nur schwarz. Passend zu ihrem dunklen Haar und der schwarzen Brille. Madeleine Dalakupeyan hat ihren eigenen Stil. Eine Erscheinung wie Iris Apfel, nur jünger. Jedenfalls leicht exzentrisch und respekteinflößend. Jeder tanzt nach ihrer Pfeife, an der Rezeption, im Garten, in der Bar. Das Les Roches Rouges ist ihr Reich, ein altes Grand Hotel in Piana an der Westküste Korsikas, nur einen Steinwurf von den Felstürmen der Calanche entfernt: drei Stockwerke, dreißig Zimmer, ein Gutteil davon mit Balkon, dazu eine offene Loggia mit Säulengang und ein Speisesaal im Stil der Belle Époque, mit kunstvollen Malereien und Stuckaturen, Spiegeln und Lüstern. Pariser Eleganz in der korsischen Wildnis.
Der eigentliche Hauptakteur in diesem Spiel mit Kontrasten ist die Terrasse. Am besten man checkt hier am Nachmittag ein und lässt sich gleich an einem der Tische an der Brüstung nieder. Die Szenerie ist atemberaubend. Die zerklüfteten Wände der Calanche stürzen sich in den Golf von Porto, Riffe und Klippen wühlen die Wellen auf. Am winzigen Strand von Ficaghiola drücken sich ein paar Fischerhütten an den Abhang. Das Dörfchen Piana hat sich in einer Mulde dreihundert Meter oberhalb der Bucht in Sicherheit gebracht. Dahinter steigen dicht bewaldete Hügel hinauf zu den Gipfeln von Capu d’Orto und Bocca di Piazza.
Der Barkeeper bringt die Karte. Einen Roches Rouges mit Erdbeeren, Mango und Champagner und einen Mojito Corse mit Muscat Corse Petillant. Der ersten Runde folgt eine zweite. So ziehen die Stunden dahin. Bis es Zeit wird fürs Abendessen. Wo möchte man sitzen? Die meisten Gäste drängen zu den Tischen an der Fensterfront. Madame Mady, wie sich Madeleine Dalakupeyan der Einfachheit halber nennt, lächelt verschwörerisch und winkt die Neuankömmlinge auf die Balustrade. Von dort aus sei die Aussicht noch beeindruckender, versprochen. Und so ist es auch. Die Aufführung beginnt. Die Sonne ist dabei, ins Meer abzutauchen. Ein Spektakel für sich. Immer mehr Gäste treffen ein, die Stimmung ist entspannt. Die ersten Gerichte verlassen die Küche. Die mit winzigen Calamari gefüllten Cannelloni werden in einer zarten Fisch-Velouté serviert, der Wolfsbarsch in einer zitronigen Sauce hollandaise, zusammen mit Kroketten und zu Kunstwerken geschnitzten Zucchini und Karotten. Korsischer Käse, mindestens drei Sorten, mit Feigenmarmelade und Honig. Die Schokoladenmousse ist auf Mürbteig mit Vanilleeis drapiert.
Noch ein Absacker auf der Terrasse – wo sonst? Und dann die Treppen hinauf in eine der oberen Etagen. Die Zimmer sind einfach gestaltet. Bett, Stühle, Tisch, liebevoll ausgewähltes, etwas altersschwaches Mobiliar. Das Bad ist klein und ohne Raffinesse. Doch dann wieder diese Aussicht. Diesmal: der Mond über dem Golf von Porto. Bonne nuit!
Der nächste Tag beginnt mit einem Spaziergang. Das Morgenlicht ist unerbittlich und lässt das Les Roches Rouges ziemlich nackt aussehen. Seeluft und Stürme haben den Blütenranken auf der Fassade zugesetzt, der Putz blättert. Das Hotel ist im Sommer gut gebucht, die Saison beschränkt sich auf ein paar Monate. Im Herbst und im Winter stehen Reparaturen an. Es ist nahezu unmöglich, ein so individuelles Haus wie dieses instand zu halten. Der Speisesaal steht unter Denkmalschutz, die Auflagen sind streng. Und auch sonst wirkt manches leicht museal.
Mady macht Mängel zur Tugend. Wer sich bei ihr anmeldet, braucht keine Suite mit Minibar, Safe und Whirlpool. Ihre Gäste, davon ist sie überzeugt, lieben das Les Roches Rouges, weil sie sein Flair und Ambiente schätzen, das sich von der oft sterilen Ausstattung in Etablissements ähnlicher Größe abhebt. Also kein Lift und keine Aircondition, kein Pool und kein Spa. Und kein Teppichboden, niemals! Mady verdreht die Augen. Dafür knarrende Dielen, vom Regen verzogene Fenster und dünne Bettwäsche. Wen kümmern die Benotungen durch Guide Michelin oder Routard? Die Atmosphäre des Hauses hat ohnehin fünf Sterne. Die Terrasse treibt die Bewertung weiter nach oben.
Nach Korsika? Heavens! Staunen bei den Herren in den Londoner Clubs. Was um Himmels willen sucht man in einer Abgeschiedenheit wie dieser? Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Korsika als Terra incognita: Wer sich von Marseille oder Nizza nach Ajaccio verschiffte, wurde mit Mitleid bedacht oder für verrückt erklärt. Der griechische Geograf und Philosoph Strabon hatte den Ruf der Mittelmeerinsel schon vor zweitausend Jahren versaut. »Es wird schlecht bewohnt«, las man in seinem Traktat. »Weil es rau und meist unwegsam ist. Daher kommt es, dass diejenigen, die dort wohnen, vom Raub leben und unbezähmbar sind wie die wilden Tiere.«
Der schottische Autor und Anwalt James Boswell war einer der wenigen, die Korsika im Rahmen ihrer Grand Tour anliefen. Eine aus England kommende Tradition: Man schickte die jungen Männer auf große Reise, eine Art Initiationsritus auf fremdem Boden. Beliebteste Stationen auf dieser éducation sentimentale waren Frankreich und Italien, ab und zu auch Griechenland und Konstantinopel. Korsika lag vorerst nicht auf der Route. Bis James Boswell die Destination in Mode brachte. Er berichtete 1768 enthusiasmiert von seiner Begegnung mit dem Freiheitshelden Pasquale Paoli, der von Corte aus die Fesseln der genuesischen Herrschaft gesprengt und eine moderne Verfassung auf den Weg gebracht hatte, was den Forschungstrieb der Briten weckte. Sie starteten zu Erkundungsfahrten – und gingen den Klischees in die Falle: Viele hofften, einen der berüchtigten Banditen aufzuspüren und an einem der Feldzüge der vendetta teilzunehmen, zumindest als Zuschauer.
Den Alpinisten, die sich nach 1850 als Gipfelstürmer bejubelten, folgten die Kurgäste. Der Artikel eines britischen Arztes, der in der Times von Ajaccio als idealem Winterkurort geschwärmt hatte, begründete den eigentlichen touristischen Aufschwung. Engländer, Franzosen und Deutsche machten sich auf die Suche nach blühenden Orangenbäumen und Mimosen, um den Plagen von Nebel, Regen und Schnee zu entfliehen. Prächtige Hotels wurden errichtet, darunter das Grand Hôtel d’Ajaccio et Continental, dazu Villen, Cottages und eine anglikanische Kirche. Man erging sich in Spaziergängen und Wanderungen, ließ sich zur Calanche und in die Wälder von Vizzavona und Bavella kutschieren, um den Wildschweinen und Mufflons nachzustellen. So man sich nicht mit Napoleon und dessen Familiengeschichte oder den Aufführungen im Théâtre Saint Gabriel unterhielt. Die Kunde vom Naples en petit auf der Île de Beauté, wie sich Korsika nannte, ging durch die Salons auf dem Kontinent. Ajaccio sei eine Art Neapel, hieß es, mit mildem Klima und südländischer Lebensart. Die monatlich erscheinende Revue des hivernants & touristes informierte die Gäste über die illustren Persönlichkeiten, die in den noblen Herbergen eintrafen: Kaiserin Sisi, King George V. oder auch Joseph Conrad. Die Stadt blühte auf und entwickelte sich zu einem fast mondänen Badeort. Bis die Karawane weiterzog, nach Nizza, Hyères oder Monte Carlo.
Korsika schien auf den Massentourismus nicht vorbereitet, der nach dem Zweiten Weltkrieg über die Insel hereinbrach. Anfangs waren es die Exilkorsen, die in den Ferien zu ihren Verwandten zurückkehrten und ihren neu gewonnenen Freundeskreis für ihre Heimat begeisterten: eine Art tourisme de la nostalgie mit folkloristischer Färbung. Zugleich entstanden erste größere Hotels am Meer. Korsika gilt als einer der Geburtsorte jenes All-inclusive-Urlaubs, gegen den es sich jetzt so wehrt. Schon 1935 hatte Dimitri Philippoff, russischer Emigrant, Journalist und leidenschaftlicher Wassersportler, in Calvi die Anlage L’Ours Blanc eröffnet, einen club de vacances, der die Idee des bargeldlosen Urlaubs in entspannter Gemeinschaft propagierte. Mit so viel Erfolg, dass man die Idee später aufgriff und als Club Med vermarktete. L’Ours Blanc war nun Teil eines Konzerns, der in Korsika insgesamt drei Ferienkolonien einrichtete. In der Folge wurden weitere Strände mit Bungalows, Restaurants und Campingplätzen erschlossen.
Auf Korsika beobachtete man die ständig wachsende Zahl von Flugzeugen und Fähren mit gemischten Gefühlen. Grundstücke am Meer waren jahrhundertelang nichts wert gewesen und wurden nur an Töchter vererbt. Nun stürzten sich Investoren vom Festland auf die Küstenstreifen, um dort ihre Freizeitparks hochzuziehen. Baugründe wurden teuer und für Einheimische unerschwinglich. Dass die Erträge aus Gastronomie und Hotellerie häufig nach Frankreich abflossen, erzürnte die Korsen noch zusätzlich. Mit Anschlägen verschafften sie ihrer Verbitterung Luft. Man nahm dabei fast nur Betriebe ins Visier, die in französischem Besitz standen, und wählte für die Attentate die Monate der toten Saison, wenn die Rollbalken heruntergelassen waren – das zumindest. »Der Bau von betonierten Dörfern, wie man ihn im Norden der Insel...