Die Schlange vom Mjøsa
Besonderheiten von Lillehammer
Lillehammer ist eine wunderschön am Ufer des riesigen Sees Mjøsa gelegene Stadt, die Straßen winden sich an den Hängen hoch, ganz oben thront das Freilichtmuseum Maihaugen. Kunstgewerbeläden laden zum Stöbern ein, Restaurants bieten norwegische Spezialitäten an, in den Nebengassen gibt es urige Kneipen, wie sie in Norwegen nicht oft zu finden sind. Und in Lillehammer legt seit 1856 der Raddampfer »Skibladner« an, mit dem man kreuz und quer über den See fahren kann und der so ungefähr jedes Jahr einmal untergeht. Was aber niemanden aufregt, Ertrunkene waren in all den Jahren noch nicht zu beklagen. Dabei sollte so eine Schiffsfahrt eigentlich überaus gefährlich sein, schließlich haust im Mjøsa eine furchterregende Seeschlange. Sie hauste dort jedenfalls, so richtig weiß niemand, wo sie sich derzeit herumtreibt. Sie ist nicht ganz so berühmt wie die Kollegin vom Loch Ness, sieht aber ähnlich aus, das wissen wir aus ziemlich präzisen Beschreibungen.
Die erste stammt aus einer Chronik, die irgendwann vor vielen Jahren in der ebenfalls am Mjøsa gelegenen Stadt Hamar verfasst wurde (das genaue Entstehungsdatum ist umstritten). Da heißt es:
»Ihre Augen waren groß wie Fassdauben, und ihre lange schwarze Mähne hing weit über ihren Hals hinab. Sie war nun so hoch auf die Schäre gestiegen, dass sie so schnell nicht mehr herunterkonnte. Deshalb griff einer der Bischofsknechte, der ein wahrer Waghals war, einen stählernen Bogen und schoss der Schlange viele Pfeile ins Auge, aus dem schließlich so viel grüner Eiter quoll, dass sich das Wasser im See grün färbte. Ebendiese Schlange bot einen grausigen Anblick, und wies ihre Haut viele Farben auf. Endlich blieb sie auf dem Felsen liegen und starb an ebendiesen Pfeilschüssen.« Da der Bischof erwähnt wird, wissen wir, dass diese Beobachtung in der Zeit vor der Reformation gemacht wurde. Es gibt aber weitere Beobachtungen, alle zu Papier gebracht von vertrauenswürdigen Gewährsleuten (Pastoren, Historikern, Schullehrern). Immer wenn die Schlange sich gezeigt hatte, suchte bald darauf ein furchtbares Unglück die Gegend heim. Das ging so bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Da tauchte die Schlange auf und alles hielt den Atem an – welcher Schicksalsschlag stand den Städten am Mjøsa nun wohl bevor? Doch es geschah – gar nichts. Jedenfalls nichts, was schlimm genug gewesen wäre, um mit der furchtbaren Schlange in Verbindung gebracht werden. Dieser verpatzte Auftritt war dem armen Lindwurm offenbar oberpeinlich, seither hat er sich nicht mehr blicken lassen und wird heute, wo überall nach Tourismusmagneten gesucht wird, ganz besonders schmerzlich vermisst.
International bekannt wurde Lillehammer als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1994 und durch die Fernsehserie »Lilyhammer«. Die wurde in vielen Ländern zu einem Riesenerfolg, in Deutschland nicht. Aber das lag nicht an der Serie, sondern an der grauenhaften Synchronisation, die auch in der deutschsprachigen Presse heftig kritisiert wurde, doch da war es zu spät, die Serie lief ja schon. Es geht darin um einen Mafioso aus New York, der für eine Weile untertauchen muss. Und weil ihm Lillehammer durch die Fernsehübertragungen von 1994 so gut in Erinnerung ist, lässt er sich dort nieder, gibt sich als Nachkomme norwegischer Auswanderer aus und mischt die Gegend auf – mit Mafiamethoden. Zwar sagen alle, die mit ihm zu tun haben, »so nicht«, aber es haben auch im idyllischen Lillehammer alle Dreck am Stecken, und folglich kann unser Mafioso es durch Bestechung und Erpressung schon gegen Ende der ersten Staffel zu Wohlstand bringen. Es gibt wunderschöne Naturaufnahmen und Szenen aus dem Ortsinneren von Lillehammer zu sehen, aber der eigentliche Reiz der Serie liegt in den sprachlichen Missverständnissen. Unser Held muss nämlich erst Norwegisch lernen, versteht nicht, was die anderen zu ihm sagen, spricht Englisch, sie versuchen es mit Englisch, das norwegische Englisch versteht er auch nicht. Im Original wurden diese Szenen untertitelt, in der deutschen Fassung so sorgsam synchronisiert, dass kein einziger Witz erhalten bleibt und man sich nur wundern kann, warum der Held gerade wieder so verständnislos dreinschaut.
Berühmt ist zudem das Freilichtmuseum Maihaugen. Gegründet wurde es in der Entstehungszeit der großen europäischen Freilichtmuseen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es war das erste in Norwegen und galt lange als Vorbild für andere norwegische Sammlungen. Aus ganz Ostnorwegen wurden Bauernhäuser nach Maihaugen gebracht, translociert, wie es in der Fachsprache heißt, bis ins Detail originalgetreu eingerichtet – oder eben nicht. Da nur die allerschönsten Häuser und Einrichtungsgegenstände aufgenommen wurden, entstand ein vollkommen falsches Bild der »guten alten Zeit«, die arme Landbevölkerung ist nicht vertreten, und auch die reichen Bauern aßen nicht jeden Tag aus reich verzierten Zinnschüsseln. Zudem kauften gerade sie sich auch gern mal etwas Neues, und sei es nur ein neumodischer Kochtopf, sie konnten sich das schließlich leisten. Wegen dieser Darstellung einer Idylle, die es in Wirklichkeit niemals gegeben hatte, geriet Maihaugen um 1980 ein wenig ins Hintertreffen, es schien, als wäre die moderne museumskundliche Entwicklung einfach nicht wahrgenommen worden. Während anderswo Tagelöhnerhütten rekonstruiert wurden, setzte man in Maihaugen weiterhin auf Schönheit und Pracht. Maihaugen war deshalb noch immer einen Besuch wert, doch der war seltsam unbefriedigend. Das alles hat sich geändert. Seit etwa zehn Jahren wird eine »moderne« Siedlung angelegt. Zuerst wurde die ehemalige Hauptstraße von Lillehammer ins Museum versetzt, samt Apotheke, Wirtshaus und Zeitungsredaktion, und schon bekam die ländliche Idylle einen Hauch von Stadt, wenn auch von Stadt um 1920. Und seither wird die Siedlung ständig ausgebaut, für jedes Jahrzehnt soll es ein Haus geben, alle so eingerichtet, wie es damals gerade modern war, aber auch in einem Stilgemisch, da niemand es sich leisten kann, konsequent nach der neuesten Mode zu wohnen. Vieles wirkt vertraut, im Haus der achtziger Jahre zum Beispiel die braunen Tapeten, die Teenie-Idole an der Wand, die Mäntel an der Garderobe … Anderes zeigt, dass die Moden doch nicht gleich sind. Ein Service von Villeroy & Boch zum Beispiel, in Deutschland um 1980 längst aus der Mode, aber allen bekannt, weil so ungefähr alle damit aufgewachsen waren, war damals in Norwegen plötzlich der letzte Schrei und ist also im Museum vertreten! Es macht großen Spaß, mit mehreren Bekannten durch die Häuser zu wandern, immer wieder bricht jemand in Begeisterungsschreie aus. »Bei meiner Oma sah es genauso aus«, »so einen Schrank hatten wir, als ich in die Schule gekommen bin«, es ist eine Zeitreise, und doch machen die »norwegischen« Gegenstände, Bücher, Bilder, von den Großeltern geerbte Zinnkrüge, deutlich, dass wir uns eben in einem anderen Land befinden.
Der Name Lillehammer muss noch erklärt werden, wörtlich übersetzt bedeutet er »kleiner Hammer« oder »Hämmerchen«. Der Hammer, von dem hier die Rede ist, ist ein Felshammer, von denen es in der Gegend unendlich viele gibt. Der Name bleibt also ein wenig rätselhaft, vor allem müsste es dann ja auch einen »großen Hammer« geben. Den gibt es auch. Ein Stück weiter südlich am Mjøsa liegt Hamar, im Mittelalter die viel bedeutendere Stadt, bis zur Reformation Bischofssitz. Erst als es dort keinen Bischof mehr gab, verlor Hamar seine Bedeutung und der Ableger Lillehammer übernahm die Rolle der führenden Stadt am See. Hamar aber heißt in Urkunden aus dem Mittelalter durchweg »Hammer«, Hamar ist die lokale Aussprache, die erst zum Ortsnamen wurde, als die Stadt nicht mehr wichtig genug war, um einen landesweit verständlichen Namen zu benötigen. Aus Hamar stammt die Chronik mit der Beschreibung der Seeschlange, und die Eissporthalle, die für die Olympischen Winterspiele 1994 errichtet wurde (Lillehammer gab Hamar damals großzügig ein paar Sportarten ab), wird zwar »Wikingerschiff« genannt, sieht aus der Ferne jedoch aus wie ein aus dem See auftauchendes Ungeheuer, das drohend die Augen verdreht. Aus Hamar stammen übrigens mehr bekannte Persönlichkeiten als aus Lillehammer. Für Lillehammer kann eigentlich nur Marcello Haugen (1878–1967) angeführt werden, Rudolf-Steiner-Schüler und Wunderheiler, dessen Haus als Sehenswürdigkeit gilt, aber nur von außen besichtigt werden kann. Aus Hamar dagegen kommen Rut Brandt (1920–2006), Hanna Winsnes (1789–1872, Norwegens Antwort auf Henriette Davidis), Katti Anker Møller (1868–1945, Pionierin in Sachen Geburtenregelung), Knut Faldbakken, der seine Krimis in Hamar spielen lässt, und die Sängerin Kirsten Flagstad (1895–1962), deren Haus mitten in der Altstadt von Hamar heute ein Museum ist. Man kann dort Aufnahmen der großen Sopranistin hören und ihre Kostüme bewundern, und sogar ihre einzige Filmaufnahme ist zu sehen. Die stammt von 1938 und wurde in den USA für eine Wochenschau gemacht. Kein Geringerer als Bob Hope kündigt...