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Lesereise Marokko

Im Labyrinth der Träume und Basare

AutorWalter M. Weiss
VerlagPicus
Erscheinungsjahr2019
ReihePicus Lesereisen 
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783711753977
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Phönizier und Römer, Araber und Berber, Moslems, Juden, portugiesische, spanische und französische Kolonisatoren - die Einflüsse, denen Marokko als Land am Schnittpunkt Schwarzafrikas, Arabiens und Europas ausgesetzt war, sind von kaum zu überbietender Vielfalt. Denkbar bunt ist auch das kulturelle Spektrum, das die Gesellschaft im heutigen Marokko prägt. In den Oasen am Rand der Sahara und in den abgeschiedenen Berberdörfern des Atlas- und des Rif-Gebirges kann die Mehrheit der Menschen nicht lesen und schreiben, während die Geschäftsleute in Bürohochhäusern der Sechs-Millionen-Metropole Casablanca vom Anschluss an die Europäische Union und von der Tunnelverbindung nach Andalusien träumen. Walter M. Weiss besucht Schauplätze moderner Mythen wie Tanger und Casablanca oder Meknes und Fes, die beiden Zentren mittelalterlicher Gelehrsamkeit und Städtebaukunst, die Lehmburgen entlang der 'Straße der Kasbahs' und die Basare und Luxusvillen von Marrakesch. Dabei begegnet er Sufi-Musikern, Studenten und Straßenhändlern, Akrobaten, Pilgern und Handwerkern, Rabbinern, Beatniks und berberischen Bauern. Und er erfährt maghrebinische Geschichten einer neuen, realen und gegenwartsbezogenen Art.

Walter M. Weiss, 1961 in Wien geboren, studierte Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaften und arbeitete viele Jahre als Chefredakteur namhafter Zeitschriften. Seit 40 Jahren als freier Autor tätig, hat er weit über 100 Reise- und Sachbücher veröffentlicht. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen neben dem islamischen Kulturkreis mitteleuropäische Kunst- und Kulturgeschichte sowie der buddhistisch geprägte (süd)ostasiatische Kulturraum. Im Picus Verlag erschienen seine Lesereisen Marokko, Oman und Usbekistan. www.wmweiss.com

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Leseprobe

An der Tür zu Afrika


Wo Noah und Paul Bowles vor Anker gingen


Mythische Orte bedürfen offenbar mythischer Gründungsgeschichten. Am besten gleich mehrerer, um den sagenhaften Ruf gebührlich zu untermauern. Im Falle von Tanger machten die alten Griechen Antaios verantwortlich. Der riesenhafte Sohn von Poseidon und Gaia, der Erde, soll es gewesen sein, der in der amphitheatralischen Bucht an der nordwestlichen Spitze Afrikas eine erste Siedlung ins Leben rief und nach seiner Frau Tingis benannte. Eine andere Legende schreibt die Namensgebung Noah zu. Er habe, heißt es, als die Taube mit Lehm an den Krallen auf die Arche zurückkehrte und so von wieder aufgetauchtem Land kündete, »Tinga’a!« gerufen, »Erde ist gekommen!«. Und indirekt zumindest war auch Herakles an der Stadtentstehung beteiligt, indem er zu beiden Seiten des Meerestores seine zwei Säulen aufrichtete, die Gebirge Calpe und Abyle, heute Djebel Musa und Djebel Tarik alias Gibraltar, und so der späteren Siedlung ihren imposanten Landschaftsrahmen schuf.

Tatsache ist, dass Tanger, das einstige Tingis, der älteste ununterbrochen besiedelte Ort Marokkos ist – von Berbern, Phöniziern und Römern früh geprägt, von den Vandalen und Westgoten heimgesucht und Anfang des 8. Jahrhunderts von den Arabern erobert. Und dass es seither bis in die jüngste Vergangenheit Zankapfel diverser Großmächte war.

Wir sitzen auf der Terrasse des Café Hafa im Viertel Marshan, im Westen der Stadt. Zitronenbäumchen, Jasminsträucher, Bougainvilleen haben rund um uns das ganze Duftpolster eines mediterranen Frühlings ausgebreitet. Zikaden zirpen, Bienen summen. Auf dem wackeligen Tischchen vor uns verströmt ein Glas brühheißen Tees das unvergleichliche Aroma frischer Pfefferminzblätter. Uns zu Füßen liegt unverschämt prallblau und mit Schiffen gesprenkelt die Straße von Gibraltar. Ein idealer Ort, um unsere Ankunft zu begießen und zugleich über die Bedeutung und das merkwürdige Schicksal dieser Nahtstelle zwischen Kontinenten und Meeren zu räsonieren. Über den zum Islam konvertierten Berberführer Tariq Ibn Ziyad etwa, der 711 mit seinen Getreuen von hier nach Al-Andalus, wie die Araber Spanien nannten, übersetzte. Worauf es sieben Jahrhunderte lang, bis zum Abschluss der Reconquista, muslimisch blieb. Über Ibn Battuta, den Marco Polo des Orients, der, 1304 in Tanger geboren, von hier aufbrach, um nahezu die gesamte damals bekannte Welt von Samarkand bis Timbuktu zu bereisen, und Jahrzehnte später zum Sterben in die Heimatstadt zurückkehrte. Über Admiral Nelson, der 1805 in Sichtweite von hier, vor Kap Trafalgar südlich von Cádiz, die französisch-spanische Flotte versenkte und damit den Briten für lange Zeit erneut die Seeherrschaft sicherte. Oder über die Sehnsucht, die auch in unserem Jahrhundert die Menschen zu beiden Seiten dieses Scharniers der Kulturen nach der jeweils vis-à-vis lockenden, fremden Welt befiel und immer noch befällt.

Abertausende Emigranten zahlen örtlichen Fischern alljährlich Wucherpreise, um sich bei mondheller Nacht per Boot ins nur vierzehn Kilometer entfernte Spanien schmuggeln zu lassen. Die meisten sind Schwarzafrikaner. Viele werden kurz vor dem Ziel von der Grenzpolizei geschnappt. Eine unbekannte Zahl kentert in der gefährlichen Strömung und ertrinkt. Nur ein Bruchteil schafft es, in Ceuta oder Melilla die kilometerlangen Mauern samt Stacheldraht, Flutlicht und thermischen Kameras, welche die Spanier in diesen ihren beiden Enklaven auf marokkanischem Boden errichtet haben, zu überwinden. Dennoch wächst der Flüchtlingsstrom Richtung gelobtes Europa weiter an. 1987 bereits hat sich Marokko um Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft beworben, freilich ein höfliches »Nein« zur Antwort erhalten. Ein anderer Traum könnte zumindest mittelfristig Wirklichkeit werden: Ebenfalls in den achtziger Jahren begannen mehrere Planungsbüros an dem Projekt eines fast vierzig Kilometer langen und bis zu fünfhundert Meter unter dem Meeresboden verlaufenden Straßentunnels zu arbeiten, der – insha’llah – dereinst Cap Malabata mit dem spanischen Punta Paloma verbinden soll. Lange Zeit geschah offiziellerseits wenig. 2009 dann stellte die EU immerhin einen Bericht über die Machbarkeit vor. Und jüngst erst wurde von mehreren Politikern in Spanien, Marokko und Brüssel die Notwendigkeit der Realisierung bekräftigt. Die technischen Herausforderungen scheinen trotz des instabilen Untergrunds aus tonigem Kalk und Sandstein lösbar. Ein tragfähiges Konzept für die Finanzierung hingegen muss noch gefunden werden.

Umgekehrt weckte auch der Maghreb im Westen von alters her Begehrlichkeiten. Allerdings unter anderen Vorzeichen. Jahrhundertelang hatten abwechselnd die Portugiesen, Engländer, Spanier und Franzosen als Schutzmächte ihren Fuß in der »Tür zu Afrika« stehen, machten Kaufleute aus Genua, Venedig und Marseille und Bankiers aus Paris und London von Tanger aus ihre Geschäfte mit Marokko. Zugleich lockte das Sinnlich-Exotische der Hafenstadt scharenweise Künstler an. Eugène Delacroix und später Henri Matisse erlagen dem betörenden Reiz des Lichts und der Farben. Antonio Gaudí ließ sich von der erdigen Architektur der Berber inspirieren, Camille de Saint-Saëns von ihren schrägen Tönen und Rhythmen. Und Dichter wie Edmondo de Amicis oder Pierre Loti sicherten Tanger schon im 19. Jahrhundert einen Platz als Romankulisse in der Literatur. Die strahlendste Epoche begann Anfang der zwanziger Jahre, als sich die Kolonialländer in ihrem Streit um die strategisch wichtige Stadt zu einem Kompromiss durchrangen und ihr den Sonderstatus einer internationalen Zone verliehen. Fortan gab es hier weder Steuern noch Zoll- und Devisenkontrollen. Ihre Geschicke lenkte ein Stadtrat, in dem einundzwanzig Vertreter von neun europäischen Staaten sowie neun Marokkaner saßen. Ihre seinerzeit siebzigtausend Einwohner – nicht einmal ein Fünfzehntel der heutigen Zahl – kamen aus vieler Herren Länder und hörten mit Pan American Radio das damals einzige kommerzielle Programm der Welt, das täglich in sechs Sprachen – Arabisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch und Hindi – sendete.

Doch die grenzenlose ökonomische Freiheit zog nicht nur redliche Händler, sondern auch Schwärme von Profiteuren, Prostituierten und Schiebern an, und Spione, deren Aufgabe freilich, im Nachhinein betrachtet, vor allem darin bestanden haben dürfte, einander mit Intrigen und Gerüchten selbst in Schach zu halten. Tanger wurde zum schillernden Sündenpfuhl, dessen kosmopolitisches Flair auch auf Bohemiens, vor allem solche aus dem puritanischen Amerika, unwiderstehlich wirkte. Tennessee Williams, Truman Capote und Gore Vidal, Evelyn Waugh und die unvermeidliche Gertrude Stein, Albert Camus, André Gide, Joseph Kessel, Paul Morand und die Beatniks Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac – sie alle kamen, angelockt von der Verheißung auf exotische Eindrücke, auf knackige Knaben oder auf kif, das örtliche, im Überfluss vorhandene Haschisch. Doch sie alle gingen, von so manchem Exzess lädiert und vielleicht sogar – wer weiß? – von manch schwülstiger Orientfantasie geheilt, früher oder später wieder. Der Einzige, der blieb und bis kurz vor seinem Tod im November 1999 noch gelegentlich im Hafa auf einen Minztee vorbeischaute, war Paul Bowles. Der große Chronist des Mythos von Tanger reiste aus seiner Heimat Neuengland das erste Mal, damals noch als Komponist, im Jahr 1931 an. Gut zehn Jahre später schlug er in Marokko für immer Wurzeln, erschrieb sich mit Romanen wie »Sheltering Sky« (»Himmel über der Wüste«), den Bernardo Bertolucci später kongenial verfilmen sollte, weltweiten Ruhm und erforschte nebenbei mit dem Tonband in der Hand im ganzen Land die musikalischen Traditionen der Berberstämme. Was ihn hielt? »Im Orient«, schrieb er einst mit aus heutiger Sicht reichlich fragwürdiger, naiv-paternalistischer Attitüde, »leben die Menschen im Frieden mit sich selbst. Sie sind einverstanden mit der Lösung ihrer Lebensprobleme. Sie sind zufrieden, weil sie keine Fragen stellen. Sie ruhen in sich. Sind nicht getrieben. Sie sind glücklich«. Und fügte an: »Die dümmste Droge ist der amerikanische Traum.«

Ein leiser Abglanz aus den dekadenten Jahren der Internationalität schimmert noch in manchen Winkeln dieser an ihren Rändern längst beliebig gewordenen und aus allen Fugen geratenen Stadt. Als wir an der Place de France im Café de Paris, wo sich einst tout Tanger traf, einen Café au lait nehmen, finden wir mehrere Tische von älteren Herren bevölkert – blasshäutigen Europäern mit sehr graziösen Gebärden und etwas zu hellen Leinenanzügen, die in ihrer routinierten Langeweile der Gegenwart seltsam entrückt scheinen. Eingesponnen in längst vergangene, plüschige Träume. Die enge, sympathisch vollgeräumte »Librairie des Colonnes« am Boulevard Pasteur, in der sich Generationen von Literaturlegenden, Genet und Beckett zum Beispiel, und...

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