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Lesereise Peloponnes

Alexis Sorbas und der getürkte Grieche

AutorNicole Quint
VerlagPicus
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783711751805
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wenn Olivenöl aus Tankstellenzapfhähnen fließt, wenn Morpheus Träume an die falschen Schläfer ausliefert und eine Sprechstundenhilfe zum Orakel wird, dann sind wir auf dem Peloponnes gelandet.Gottvater Zeus wusste, warum er sich seinen Zweit-Olymp auf der griechischen Halbinsel errichtete, denn Orte wie Epídauros, Mistrá, Messéne oder Olympía waren schon immer gut für spannende und kuriose Geschichten. Reise­schriftsteller von Pausanias bis Patrick Leigh Fermor haben sie gesammelt und aufgeschrieben. Auf ihren Spuren besucht Nicole Quint die antiken Stätten des Peloponnes. Lieber als dösenden Ruinen schaut sie aber den Griechen beim Griechischsein zu und berichtet vom Herrn der Knöpfe, vom Alltag einer Promenaden-Putzerin während der Touristensaison und vom Kloster der letzten Seidenweberinnen. Sie findet heraus, warum der gregorianische Kalender kommunistische Mythen zerstört und wie aus löchrigen Wänden wallfahrtsorttaugliche Kirchen werden.Nicht im Land des Zauberers von Oz trifft sie auf Vogelscheuche, Blechmann und Löwe, sondern tief im Süden des Peloponnes - in der Mani, wo Bruce Chatwin die Autorin posthum auf die Idee zu diesem Buch brachte.

Nicole Quint lebt meist auf Reisen und manchmal in Berlin. In Indien fand sie zu ihrem Beruf als Reisereporterin. Einige Jahre stand ihr Schreibtisch in Griechenland und ein Zweitbett in einem weißgetünchten Cottage in Irland. Heute berichtet sie von allen Ecken und Enden der Welt, findet die schönsten Geschichten aber immer noch in Hellas und auf der grünen Insel. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Dublin, Irland, Westirland und Peloponnes.

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Leseprobe

Zum Hades geht’s gleich nebenan


Der Peloponnes lebt von seiner Geschichte und von den Geschichten, die man sich über die Halbinsel erzählt


»Auf gute Anfangssätze sind doch alle Autoren getrimmt«, meint Sofia. Um zu erfahren, ob ein Buch etwas tauge, würde sie immer erst den Schlusssatz auf der letzten Seite lesen. Sofia ist eine verwitwete Matrosenbraut, graulockige Matriarchin an der Spitze eines großen Familienclans, ehemalige Tavernenbesitzerin und aktuelle Betreiberin einer Klatsch- und Infobörse auf der Holzbank vor ihrem Haus, und außerdem ist Sofia gesegnet mit einer großen Leidenschaft für Liebes- und Kriminalromane. Sofia kennt sich aus mit der Welt. Ihre kugelrunde Lebensweisheit schlägt jede schmallippige Literaturwissenschaft. Ich vertraue ihrem Rat. Immerhin hätte sie mich fast zur erfolgreichen Raupenzüchterin gemacht. Jetzt coacht sie mich eben bei meinem Buchanfang. Kennengelernt habe ich Sofia, als ich mehr über die Seidenproduktion herausfinden wollte, die auf dem Peloponnes lange Zeit Tradition hatte. Freunde von Freunden von Freunden vermittelten den Kontakt, und am Ende dieser Stillen Post auf Griechisch saß Sofia und verstand: »Da plant eine Deutsche die Wiederbelebung der Seidenraupenzucht.« Als ich Sofia dann zum ersten Mal persönlich traf, hatte sie schon herausgefunden, wer wie viel Hektar Land zu welchem Preis verpachten würde, welche Gärtnerbetriebe im großen Stil Maulbeerbäume als Futterpflanzen organisieren würden, und wo ich die ersten Seidenraupenherden und das nötige Equipment kaufen könnte. Bliebe nur noch zu entscheiden, ob ich denn auch die Weiterverarbeitung selbst in die Hand nehmen wolle, oder ob man sich nach potenziellen Abnehmern der Rohseide umschauen müsse. Sofia kann sich für eine Sache ehrlich begeistern. Bei einem überhitzten Motor beginnt es zu qualmen, bei einer euphorischen Sofia erweitern sich die Blutgefäße, und die liegen in ihren Ohren offenbar besonders dicht beieinander. Ferrarirot haben sie geleuchtet, als ich ihr sagen musste, dass aus unserem Raupenzuchtprojekt nichts wird. Auf den Schreck, dass alles nur ein Missverständnis war, hat Sofia dann erst einmal einen Kaffee gekocht. Ich kenne keine andere Griechin, die den Mokka nicht mit Zucker, sondern mit Süßstoff zubereitet und eine Prise Kakao hinzufügt. Das sei besser für Zähne und Nerven, meinte Sophia, schlürfte die Schaumblasen von ihrem Kaffee und sprach: »Die Raupenzucht wäre bestimmt die bessere Idee, Peloponnes-Geschichten gibt es doch schon so viele.« Sofia ist ein Billy the Kid der Urteilsverkündung – schnell und treffsicher, sie lässt niemanden lange leiden, und sie hat recht: Peloponnes-Geschichten gibt es doch schon so viele. Reiseschriftsteller von Pausanias bis Patrick Leigh Fermor haben auf dem Peloponnes Geschichten gesammelt und mit ihren Texten andere Autoren angelockt, die sich dann wie beim Staffellauf nacheinander den Stift in die Hand gedrückt haben, darunter Fürst von Pückler-Muskau, Henry Miller, Nikos Kazantzakis und unzählige Autoren von Reiseführern und Büchern zur griechischen Mythologie. Kreuz und quer über den Peloponnes legen die unendlichen Bahnen ihrer Erzählungen ein Labyrinth, aus dem nur der Faden der Ariadne hinausführen würde.

Das aber war eine andere Geschichte, die ausnahmsweise nicht auf dem Peloponnes gespielt hat. Stattdessen durfte aber Faust seiner Helena tief im Süden der Halbinsel, auf der Bergfestung Mystras, begegnen, nachzulesen im dritten Akt von Faust Teil II.

Goethes Kulissenwahl könnte der Anfang meiner Peloponnes-Geschichten und deren erster Satz als Frage formuliert sein: »Was habe ich Goethe voraus?« Ein bisschen anmaßend, stimmt. Aber anders als der große Griechenbewunderer aus Weimar bin ich in Mystras gewesen. Goethe hat sich Hellas mit der Seele genähert, ich mit gutem Schuhwerk. Ich bin ins Schwitzen gekommen, Goethe ins Schwärmen. Ihm genügte die Inspiration durch Reiseberichte und Bilder, ich muss aus Erlebnissen und Erfahrungen schöpfen. »Und was kommt davon in dein Buch?«, will Sofia wissen, legt den Kopf schief und lauert. Wenn ich jetzt eines der folgenden Stichwörter fallen lasse, werde ich doch Raupenzüchterin werden müssen: Maniotische Wehrtürme, Gesetz der Blutrache, Kranai – die Liebesinsel von Paris und Helena, Schliemann in Mykene, Herakles im Hades – zu oft war all das schon in anderen Büchern Thema. Aber da der Haupteingang zum Hades nun schon mal an der Südspitze des Peloponnes, am Kap Tainaron, liegt, wie wäre es mit der Geschichte vom Esel, der in den Hades fiel? Eine Geschichte, die Sofia nicht kennt. Das kann doch fast nicht sein.

Pausanias und Patrick Leigh Fermor waren beide der Meinung, dass besagte Hades-Höhle schlicht nicht tief genug wäre, um in die Unterwelt zu führen. Bei meinem Besuch am Kap versicherte mir dagegen ein Bauer: »Aber natürlich geht’s da weit rein.« Er band gerade seinen Esel an einen Pflock und zeigte mit weit ausholender Armbewegung über die ganze Gegend. »Überall sind hier alte Zisternenlöcher, und ehe man sich’s versieht, fällt dir so ein Esel da hinein.« Einem Freund sei das einmal mit seinem Tier passiert. Das sei aber einige Tage später aus einem anderen, dreißig Kilometer entfernten Loch wieder aufgetaucht. Vielleicht hat Herakles also doch hier den dreiköpfigen Höllenhund Kerberos aus der Unterwelt gezerrt und hat Orpheus versucht, seine Eurydike zurückzuholen. Später lese ich die gleiche Geschichte, die mir der Bauer erzählt hat, noch in einigen Dutzend Reiseartikeln. Mal fiel ebenfalls ein Esel in das unterirdische Höhlensystem, mal ein Hund, und immer kamen sie an weit entfernten Orten wieder ans Tageslicht. Das wäre dann also meine Geschichte über die Griechen, die phänomenal gute Geschichtenerzähler sind und wissen, wie man an bestehenden Sagen weiterstrickt, damit sie schön warm halten.

Hauptlieferant für neue Mythen und Legenden rund um den Peloponnes war Gottvater Zeus persönlich. Der hatte sich dort auf dem Lykaion-Gebirge seinen Zweit-Olymp eingerichtet, und fortan tobte nicht allein die göttliche Belegschaft da oben. Menschliche Brandopfer sollen auf dem Gipfel gelodert und junge Männer sich in Werwölfe verwandelt haben. Weniger monströs dürfen die Lykaion-Mythen auch nicht sein, wenn es nicht bloß Archäologen dort hinauf ziehen soll. Die Aussicht über Arkadien lohnt den Aufstieg zwar, sonst aber gähnen dem Besucher auf dem Lykaion viel Geröll und Gesteinsbrocken entgegen. Die Besucher gähnen zurück und schleppen ihre staubgrauen Ausflugsnachmittage wie ans Bein gebundene Bleikugeln hinter sich her. Das gleiche Bild bieten sie einem in Mykene, Epidauros, Mystras, Messene, Sparta oder Olympia – alles Schaltstellen antiker Kultur auf dem Peloponnes, alles Angelegenheiten von überschrittenem Haltbarkeitsdatum und überall fahle Marmorquader, umgestürzte Statuen, bröckelnde Torbögen, polygonale, pelasgische, trapezoide und hellenische Mauern. Papierfetzen und Plastiktüten wehen durch Amphitheater, Gras legt einen Teppich in die grauen Quadrate einstiger Tempel, und Menschen schauen darauf mit Gesichtern wie steif getrocknete Frotteewaschlappen. Spannend werden die dreitausend Jahre alten Trümmer für uns erst durch ihre Geschichten. Geschichten, die uns erzählen, wie schön die Ruinen gewesen sein müssen, bevor sie zur Geschichte wurden.

Jeder Ort hat seine Geschichte. Einer, der das auch wusste, hat seine Griechenlandgeschichten dennoch nicht erzählt – Bruce Chatwin. Ausgerechnet der britische Schriftsteller und Weltreisende soll im Autorenstaffellauf über den Peloponnes nicht angetreten sein? Oft und lang hat Chatwin seinen Freund und Mentor Patrick Leigh Fermor in der Mani, einer Region im Süden der Halbinsel, besucht. Gesurft und gearbeitet hat er dort, gewandert ist er. Seinen größten literarischen Erfolg, den Bestseller »Traumpfade« über Australiens Ureinwohner, hat er in einem Haus an der Kalamitsi-Bucht geschrieben. Und für den Peloponnes soll er keine Worte gefunden haben? Steckt ein Geheimnis in seinem Schweigen?

Chatwin hatte einen Lieblingsort in der Mani – die kleine byzantinische Kirche Agios Nikolaos in Kato Hora, ein altes Bergdorf, das jetzt kurz vor der Wiederauferstehung steht. Leitern, Farbeimer, Schaufeln, Betonmischer und Sandhügel versperren Wege und Eingänge und künden von Grundsanierung und zukünftigen Ferienhäusern. Am Tag meines Besuchs wird nicht gearbeitet. Kein Hämmern, Bohren oder Sägen ist zu hören, aber in der Dorfmitte erklingt hinter den verschlossenen Türen einer Kirche der Glockenschlag von Big Ben – The Voice of Britain. Das wird doch wohl nicht Chatwins Kirche sein, oder? Niemand da, den ich fragen könnte. Ich bin schon fast wieder am Dorfausgang angelangt, als mir die Wahrheit, die in jedem Klischee steckt, über den Weg läuft. Nein, kein schnauzbärtiger Ziegenhirte mit Strickweste über dem karierten Hemd und auch keine Witwe im maulwurfschwarzen Rock, die auf dem Esel Brennholz transportiert. Vor mir biegen zuerst zwei Pitbull Terrier um die Ecke und dann ein Muskelmann, dem die Tätowierungen an Hals und Oberarmen aus dem T-Shirt kriechen. In Berlin würde der Typ jeden Job als Türsteher bekommen. Was macht der in Kato Hora? Diese Geschichte wird ein anderer erzählen müssen, denn die Pitbulls legen keinen Wert auf meine Bekanntschaft. Ihr Knurren ist noch zu hören, als ich längst Richtung Olivenhain geflüchtet bin.

Eine kleine Kuppel und ein Glockentürmchen spähen dort über die Baumkronen hinweg, als würden sie nach mir Ausschau halten. Das muss sie sein. Wind und Wetter haben ihr den Mörtel aus den Fugen gekratzt, aber Chatwins Kirche hält sich wacker auf einem kleinen Felsvorsprung. Ich nehme auf der obersten Eingangsstufe Platz und lehne...

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