Magyarul
Die Ungarn und ihre Inselsprache
Magyar heißt ungarisch, wenigstens das versteht man auf Anhieb – sprechen wir doch auch im Deutschen von Magyaren. Magyarázni heißt also wörtlich übersetzt ungarisch machen; die tatsächliche Bedeutung des Wortes ist jedoch: erklären (ganz analog dem umgangssprachlichen österreichischen Wort ausdeutschen). Erklären bedeutet also, etwas ungarisch machen. Das, was ich hier versuche, Ungarn und seine Sprache zu erklären, ist also auf Ungarisch gar nicht vorgesehen, denn für die Ungarn scheint, nimmt man diesen sprachlichen Befund ernst, Ungarisch völlig selbstverständlich zu sein – oder gänzlich unerklärbar; jedenfalls etwas, was man nicht erklärt.
»Die ungarische Nation wird nicht durch die geografischen Grenzen des Landes bestimmt, sondern durch die gemeinsame Muttersprache«, lese ich in einem Konversationslexikon der ungarischen Alltagskultur, das der Budapester Corvina Verlag 1999 herausgebracht hat und dem ich – auch wenn sich diese Alltagskultur seither weiterentwickelt hat – viele interessante Fundstücke verdanke. So auch diese klare Diagnose, die besagt: Ungarn ist eine Sprachnation. Das ist mir auf den ersten Blick ungeheuer sympathisch, bedeutet es doch, dass der Nationsbegriff nicht ethnisch gefasst ist, also nichts mit »Blut« zu tun hat, sondern offen ist für alle, die Ungarisch zumindest wie ihre Muttersprache beherrschen. Fragt sich nur, warum man in Ungarn, wenn man einen ungarischen Schriftsteller oder Intellektuellen erwähnt, der Jude ist, so schnell die hinterfotzige Bemerkung »Der ist ja eigentlich kein Ungar« zu hören bekommt. Die ungarischen Juden sind doch seit Jahrhunderten fast zur Gänze assimiliert und haben nur ein völlig akzentfreies Ungarisch als Muttersprache, also gehören sie zur ungarischen Nation. Aber da bekommt das Konzept der Sprachnation schnell einen Riss.
Sympathisch an der Sprachnation ist mir das hohe Prestige, das die Sprache und alle mit ihr zusammenhängenden Fragen ihres Ursprungs, ihrer Grammatik oder ihres Stils genießen. Und das Ansehen, das diejenigen haben, die mit dieser Sprache arbeiten, allen voran die Schriftsteller. Würden klassische deutschsprachige Lyriker bei uns so viel bedeuten, so oft zitiert werden und auch außerhalb des literarischen Milieus so geliebt werden wie klassische Lyriker in Ungarn (wobei die Klassik da mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg reicht) – was wäre das für ein Reichtum. Außerdem haben die Ungarn allen Grund, auf ihre Sprache stolz zu sein: Zum Ersten weil sie so schön und melodiös ist; das liegt vor allem an der sogenannten Vokalharmonie, das heißt: Der Vokal einer Endung wird an den der Stammsilbe angepasst. Ist ein bisschen kompliziert beim Lernen, geht aber schnell ins Gehör. Der zweite Grund, der die Ungarn stolz auf ihre Sprache macht, liegt darin, dass sie so anders und einzigartig ist, hat sie doch in Europa nur Finnisch und Estnisch als Verwandte (deren Sprachen die Ungarn jedoch nicht verstehen).
Ungarisch ist eine finnisch-ugrische Sprache, und das bedeutet im Fachjargon eine agglutinierende Sprache, was hausbacken formuliert ein Baukastensystem bezeichnet: Vieles, wofür man im Deutschen ein eigenes Wort braucht, wird im Ungarischen einfach angehängt: »In Budapest« heißt Budapesten, »nach Budapest« dementsprechend Budapestre. Oder: ház bedeutet »Haus«, házam ist »mein Haus«. Das lässt sich natürlich auch kombinieren: házamban heißt »in meinem Haus«. Zum Schrecken der Nicht-Ungarn lassen sich so fast unendliche Silbenketten bilden, die auf den ersten Blick wie Wortungetüme wirken. Ein Beispiel: igaz heißt »wahr« oder »richtig«. Daraus wird das Substantiv igazság gebildet: »Wahrheit« oder auch »Recht«. Also bedeutet igazságtalan nichts anderes als »ungerecht« und igazságtalanság dementsprechend »Ungerechtigkeit«. Da man ja, wie bereits gezeigt, auch das Possessivpronomen anhängen kann, ist igazságtalansága also »seine« oder »ihre Ungerechtigkeit« (Vorsicht: Das Ungarische kennt kein grammatikalisches Geschlecht!). Was im Deutschen eine Präposition ist, wird im Ungarischen oft ebenfalls als Suffix angehängt, so bedeutet also igazságtalanságával nichts anderes als »mit seiner« oder »mit ihrer Ungerechtigkeit«. Deutsche Muttersprachler sollten davor nicht erschrecken, können sie doch selbst schier endlos lange Komposita bilden wie das berühmte Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän. Eher ist da schon verwunderlich, dass man im Ungarischen sogar an den Infinitiv ein Personalpronomen anhängen kann: írni bedeutet »schreiben«, írni kell heißt »man muss schreiben« (kell wird nicht konjugiert und nur in einer unpersönlichen Konstruktion gebraucht); verbindet man das mit én (ich), so wird daraus – nach den Gesetzen der Vokalharmonie – írnom kell, also »ich muss schreiben«.
Nach einer Gewöhnungsphase habe ich bald begonnen, mit diesen Elementen gerne zu spielen, und es gar nicht so schwer gefunden. Denn das ganze Puzzle ist strikt logisch konstruiert. »Die ungarische Sprache ist logisch, vollkommen, ihr Aufbau übertrifft jede andere«, sagte Jacob Grimm; und der war schließlich der Begründer der deutschen Philologie, kannte genug Sprachen, um vergleichen zu können und hatte sicher nichts mit ungarischem Nationalismus am Hut. Ich verstehe, dass die Ungarn stolz sind auf ihre Inselsprache innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie, die fast ganz Europa überzieht. Und habe mächtigen Respekt vor dieser Sprache, vor allem, wenn ich wieder einmal nicht zurechtkomme mit ihr: Etwa wenn Modalverben wie »können« oder »sollen« in die Endung des Verbums, das sie modifizieren, integriert werden. Das verstehe ich zwar mittlerweile problemlos, vermeide es aber, wo es nur möglich ist, diese Formen aktiv zu gebrauchen. Das Schlimmste ist jedoch, dass jedes Verbum zwei Konjugationen hat – je nachdem, ob es mit einem bestimmten oder mit einem unbestimmten Objekt verbunden ist: Ich sehe das Buch (ein bestimmtes) verlangt also eine andere Verbform als Ich sehe ein Buch – ob ich das je fehlerlos hinkriegen werde?
Dass das Wortmaterial schwer zu lernen ist, sieht man schon bei einem flüchtigen Ungarnbesuch. Was mich am Anfang besonders irritiert hat: Dass man sich nicht, wie in den meisten Sprachen, von einer Fremdwort-Insel zur nächsten vortasten kann; die Ungarn übersetzen internationale Wörter wie Hotel, Zentrum, Archäologie oder Jeans gnadenlos in ihr Idiom. Was natürlich auch den bewundernswerten Umstand mit sich bringt, dass Ungarisch gegen die Überschwemmung durch Anglizismen ziemlich resistent ist; sogar Computer wird übersetzt, und die mit der Computerwelt verbundene Terminologie ebenfalls.
Dass sich die Ungarn so ausschließlich über ihre Sprache definieren, hat aber auch gravierende Nachteile. Das aus den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts stammende Konzept der Sprachnation schließt tendenziell andere Volksgruppen aus und macht es vor allem unmöglich sich damit abzufinden, dass ungarische Muttersprachler auch Bürger eines anderen Staates sein können – das wäre nur mit dem post-nationalstaatlichen Konzept einer Staatsbürgerschaftsnation möglich; es würde bedeuten: Ungar ist, wer einen ungarischen Pass hat. Doch diese Sicht ist in Ungarn fremd.
In den letzten Jahren treibt die Identifikation mit der Sprache zunehmend exotische Blüten: Man bestreitet die Zugehörigkeit zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie; und das nicht nur in Obskurantenkreisen, sondern mit seriösem Anstrich in Büchern und Broschüren, Vorträgen und Zeitungsartikeln. Oder rockig in einem Text der Gruppe Hungarica. Und wenn es ganz paranoid zugeht, sagt man: Die finnisch-ugrische Theorie sei von den Habsburgern in Auftrag gegeben worden, um das Nationalbewusstsein der Ungarn zu schwächen. Tatsächlich waren die Begründer der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft keine Ungarn – daher können sie von Ungarisch auch nichts verstehen, folgert man daraus messerscharf. Das Ganze ist grotesk, denn die Lautgesetze, aufgrund derer die Linguisten die Verwandtschaft von Sprachen nachweisen können, stehen in ihrer Beweisbarkeit naturwissenschaftlichen Axiomen in nichts nach. Aber die Finnen sind vielen Ungarn nun einmal als Verwandte zu minder, man sehnt sich nach Höherem. Sogar der aus dem 19. Jahrhundert stammende Turanismus lebt wieder auf – jene obskure Bewegung in rechtsradikalem Umfeld, die die gemeinsame Heimat von Türken, Ungarn, Mongolen und einigen anderen Völkern in einem fiktiven Land Turan in Zentralasien lokalisiert. Im Sommer 2012 hat die Orbán-Regierung ein großes Festival in der Puszta gefördert, auf dem dieser Turanismus zelebriert wurde.
Dabei hätten die Ungarn das alles gar nicht nötig, denn ihre Sprache ist wahrlich auch ohne solche Exotismen interessant genug. »Unsere Sprache ist uralt und modern, vom Walde, vom Felde und städtisch, asiatisch und europäisch«, schrieb Attila József, der große Lyriker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass sie nicht nur archaisch, sondern auch modern ist, verdankt sie vor allem der umfassenden Sprachreform Anfang des 19. Jahrhunderts, die Ungarisch unter anderem auch tauglich machte für wissenschaftliche und theoretische Diskurse. Das hat auch viele Analogbildungen zum Deutschen gebracht, und so darf der etwas fortgeschrittene Ungarischlernende sich sogar über ähnliche Redewendungen und Vergleiche freuen – ein kleiner Lohn nach vielen Klippen.
Vielleicht hat George Bernard Shaw das Ungarische ja...