Die acht Blütenblätter des Yoga
Es gibt acht Blütenblätter des Yoga, die sich dem Praktizierenden zunehmend enthüllen. Diese sind die äußerlichen ethischen Disziplinen (yama), die inneren ethischen Regeln (niyama), die Stellungen (āsana), die Beherrschung der Atmung (prānāyāma), die Kontrolle und das Abziehen oder Abwenden der Sinne (pratyāhāra), Konzentration (dhāranā), Meditation (dhyāna) und glückseliger Zustand der Versenkung (samādhi). Wir nennen das die Blütenblätter des Yoga, weil sie sich wie die Blütenblätter einer Lotosblume zu einem wunderschönen Ganzen verbinden.
Auf unserer Reise durch die inneren Hüllen (kosha) des Körpers, von der äußeren Haut bis zum allerinnersten Selbst, werden wir jedem dieser in den Yogasūtras beschriebenen acht Blütenblätter oder Stufen des Yoga begegnen und sie erforschen. Für die Wahrheitsuchenden von heute sind diese Stufen immer noch ebenso wichtig wie damals zu Zeiten Patañjalis. Ohne die in diesen acht Blütenblättern vermittelten Regeln, Prinzipien und Praktiken können wir nicht hoffen, die Hüllen zu verstehen und in harmonischen Einklang zu bringen. Ich werde hier kurz auf sie eingehen, um sie dann in den folgenden Kapiteln eingehender zu besprechen.
Die Yoga-Reise beginnt mit den fünf allgemeinen moralischen Geboten (yama). Auf diese Weise lernen wir, Kontrolle über unsere Handlungen in der Außenwelt zu entwickeln. Die Reise setzt sich mit den fünf Schritten der Selbstreinigung (niyama) fort. Diese beziehen sich auf unsere Innenwelt und Sinneswahrnehmungen und helfen uns bei der Entwicklung von Selbstdisziplin. Wir werden im Verlauf des Buches immer wieder auf sie zu sprechen kommen, aber anfänglich dienen sie einer Zügelung unseres Verhaltens anderen und uns selbst gegenüber. Diese ethischen Regeln und Prinzipien begleiten uns stets, vom Anfang bis zum Ende der Yoga-Reise, denn die Demonstration unserer spirituellen Verwirklichung liegt in nichts anderem begründet als in der Art und Weise, wie wir uns unter unseren Mitmenschen bewegen und mit ihnen interagieren.
Ziel des Yoga mag ja letztendlich die absolute Freiheit sein. Bevor diese aber erreicht ist, machen wir in winzigen Schritten die Erfahrung einer zunehmend größeren Freiheit, indem wir zur Entdeckung von immer mehr Selbstbeherrschung, Sensibilität und Gewahrsein gelangen. Diese Qualitäten erlauben uns, das von uns angestrebte Dasein zu leben: ein anständiges Leben; saubere, ehrliche menschliche Beziehungen; guten Willen und Kameradschaft; Vertrauen; Eigenständigkeit; Freude am Glück anderer; und Gleichmut im Angesicht von eigenem Pech und Unglück. Ist unser Denken und Handeln von Menschlichkeit, Güte und Wohlwollen geprägt, können wir zu größerer Freiheit voranschreiten. Befinden wir uns im Zustand des Zweifels, der Verwirrung und Lasterhaftigkeit, können wir es nicht. Der Fortschritt im Yoga ist nicht aufgrund moralischer Beurteilungen, sondern aus einem ganz praktischen Grund ethischer Natur. Man kann fast unmöglich mit einem Satz von der Position »Schlecht« zur Position »Allerbest« springen, ohne »Gut« zu durchlaufen. Auch ist, wenn sich Unwissenheit und Dummheit auf dem Rückzug befinden, »Gut« ein ungemein behaglicherer Aufenthaltsort als »Schlecht«. Was hier mit »Schlecht« bezeichnet wird, ist die Unwissenheit in Aktion, und diese gedeiht als Lebensstrategie nur in der Dunkelheit.
Das dritte Blütenblatt ist die Übungspraxis der Stellungen (yogāsana), der das nächste Kapitel in diesem Buch gewidmet ist. Āsana bewahrt die Kraft und Gesundheit des Körpers, ohne die nur sehr wenige Fortschritte erzielt werden können. Es bewahrt auch die Harmonie des Körpers mit der Natur. Wir wissen alle, dass der Geist den Körper beeinflusst. Es geht uns etwas an die Nieren, oder es schlägt uns etwas auf den Magen. Warum es nicht auch andersherum probieren, so der Vorschlag des Yoga, und den Geist über den Körper angehen? »Kopf hoch« und »Schultern zurück, steh gerade« sind Beispiele für diesen Ansatz. Die Entwicklung und Kultivierung des Selbst durch Āsana ist das breite Tor, das zu den inneren Bereichen führt, die es zu erforschen gilt. Mit anderen Worten, wir werden versuchen, mit Hilfe von Āsana den Geist zu formen. Wir müssen herausfinden, wonach jede Hülle des Seins verlangt, und sie entsprechend ihrer subtilen Gelüste nähren. Schließlich unterstützt die jeweils weiter nach innen führende oder feinere Hülle die ihr angelagerte nach außen führende Schicht. Daher würden wir im Yoga sagen, dass das Subtile und Feine dem Groben, dass der Geist der Materie vorausgeht. Doch Yoga sagt, dass wir uns erst dem Äußeren oder dem am meisten Manifestierten zuwenden müssen, das heißt den Beinen, Armen, dem Rückgrat, den Augen, der Zunge, der Berührung, um die Sensibilität zu entwickeln, die uns ein Vordringen ins Innere erlaubt. Deshalb eröffnet Āsana das ganze Spektrum der Möglichkeiten des Yoga. Ohne die Unterstützung des Inkarnationsvehikels der Seele, des mit Nahrung und Wasser gespeisten Körpers von den Knochen bis hin zum Gehirn, kann es keine Verwirklichung der existenziellen, göttlichen Glückseligkeit geben. Wenn wir uns dieser Einschränkungen und Zwänge bewusst werden, können wir sie transzendieren. Wir verfügen alle über ein gewisses Bewusstsein von ethischem Verhalten, aber um uns Yama und Niyama auf tieferen Ebenen widmen zu können, müssen wir den Geist kultivieren. Wir brauchen Zufriedenheit, innere Ruhe, Leidenschaftslosigkeit und Selbstlosigkeit, Eigenschaften, die man sich erwerben muss. Āsana lehrt uns die Physiologie dieser Tugenden und Kräfte.
Das vierte Blütenblatt des Yoga betrifft die Atemtechniken oder Prānāyāma (prāna = Lebensenergie oder kosmische Energie, āyāma = Weitung, Dehnung). Der Atem ist das Vehikel des Bewusstseins, und wir lernen durch seine allmähliche Beobachtung und maßgerechte Verteilung unsere Aufmerksamkeit von den äußeren Eindrücken und den aufs Äußere gerichteten Wünschen und Begierden (vāsanā) abzuziehen und sie auf ein kluges, intelligentes Gewahrsein (prajñā) zu richten. Wenn der Atem unseren Geist zur Ruhe bringt, sind unsere Energien frei, sich von den Sinnen loszuhaken, sich mit erhöhtem, dynamischem Gewahrsein nach innen zu wenden und sich der inneren Suche und deren Anliegen zu widmen. Prānāyāma wird nicht mit Willenskraft ausgeführt. Der Atem muss bezirzt oder gelockt und umschmeichelt werden, so wie man ein Pferd auf der Weide auch nicht einfängt, indem man ihm nachjagt, sondern indem man mit einem Apfel in der Hand ruhig stehen bleibt. Auf diese Weise lehrt uns Prānāyāma Demut und befreit uns von der Gier oder dem Verlangen nach den Früchten unserer Handlungen. Nichts kann erzwungen werden: Empfänglichkeit ist alles.
Das Zurückziehen der Sinne in den Geist (pratyāhāra) ist das fünfte Blütenblatt des Yoga, und man nennt es auch den Dreh- und Angelpunkt zwischen äußerer und innerer Suche. Leider missbrauchen wir unsere Sinne, unsere Erinnerungen und unsere Intelligenz. Wir lassen deren potenzielle Energien nach außen fließen und sich zerstreuen. Wir sagen vielleicht, dass wir das Reich der Seele erreichen möchten, aber da bleibt ein großes Tauziehen. Wir gehen weder nach innen noch nach außen, und das zieht uns unsere Energien ab. Das können wir besser machen.
Indem wir unsere Wahrnehmungssinne nach innen wenden, können wir zur Erfahrung der Beherrschung, der Stille und Ruhe des Geistes gelangen. Diese Fähigkeit, den Geist sanft zu beruhigen und still werden zu lassen, ist nicht nur für die Meditation und die Reise nach Innen ganz entscheidend, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass die intuitive Intelligenz auf nützliche und lohnende Art in der Außenwelt funktionieren kann.
Die letzten drei Blütenblätter oder Stufen sind Konzentration (dhāranā), Meditation (dhyāna) und vollkommene Versenkung (samādhi). Diese drei bedeuten den Anstieg zu einem Höhepunkt, zum Yoga der letztendlichen Integration (samyamayoga).
Wir fangen mit der Konzentration an. Da Dhāranā sich so leicht mit dem Begriff Konzentration übersetzen lässt, übersehen wir oft diese Stufe oder tun sie ab. In der Schule lernen wir Aufmerksamkeit. Das ist zwar nützlich, aber nicht das, was mit dem yogischen Begriff Konzentration gemeint ist. Wenn wir im Wald ein Reh sehen, sagen wir nicht: »Schau mal, es konzentriert sich.« Das Reh befindet sich im Zustand eines absolut dynamischen Gewahrseins in jeder seiner Körperzellen. Wir machen uns oft weis, dass wir uns konzentrieren, weil wir unsere Aufmerksamkeit fest auf etwas, das sich mit Schwankungen und Bewegungen verbindet, gerichtet halten – ein Fußballspiel, einen Film, einen Roman, die Meereswogen oder eine Kerzenflamme –, aber flackert nicht auch die Flamme? Echte Konzentration meint einen Gewahrseinsstrang. Im Yoga geht es darum, wie uns der Wille, im Verein mit Intelligenz und sich selbst reflektierendem Bewusstsein, von der Unvermeidlichkeit eines schwankenden Geistes und nach außen gerichteter Sinne befreien kann. Hier leistet uns Āsana große Dienste.
Schauen wir uns an, welche Herausforderung der Körper in einem Āsana an den Geist stellt. Das äußere Bein überstreckt sich, aber das innere Bein hängt durch. Wir haben die Wahl, ob wir es bei dieser Situation belassen oder dieses Ungleichgewicht angehen wollen, indem wir unser Erkenntnis- und Vergleichsvermögen einsetzen und es mit Willenskraft unterstützen. Wir können das Gleichgewicht aufrechterhalten, sodass es kein Zurückgleiten gibt, und dann unsere Beobachtung auf die...