1. Kapitel Ein dunkles Vermächtnis
Was Liebe mit Biologie zu tun hat (S. 10-11)
Eine fast gute Idee
Die Biologen kennen sich aus: Frauen lieben vermögende, gesunde, große, symmetrisch gebaute Männer mit breiten Schultern und dichten Brauen; Männer lieben junge, schlanke Frauen mit großen Brüsten, gebärfreudigen Becken und zarter Haut. Ganz Gallien also ist besetzt mit Ausnahme eines kleinen tapferen Dorfes, das dem Eindringling bis heute Widerstand leistet.
Wenn alles so einfach ist mit unserem sexuellen Geschmack, warum ist die Wirklichkeit dann so kompliziert? Warum suchen sich Männer wie Frauen Partner, die diesen Traumkriterien nicht entsprechen? Warum verlieben sich erwachsene Menschen nicht immer nur in die Schönste und den Schönsten, vom Heiraten ganz zu schweigen? Warum gibt es Männer, die korpulente Damen lieben, und Frauen mit einem Hang zu filigranen, feinnervigen Männern? Warum gibt es eigentlich nicht nur noch schöne Menschen, wenn diese Eigenschaft so beliebt ist, dass sie uns einen großen evolutionären Vorteil verschafft? Und warum, zu guter Letzt, kriegen die Schönen und Reichen nicht die meisten Kinder?
Seit vielen Jahren schon erklären uns die Biologen unseren sexuellen Geschmack und seine weitreichenden Folgen. Und sie kennen seine evolutionsbiologische Funktion. Wen wir schön finden, wen wir begehren, mit wem wir uns paaren und an wen wir uns binden ist eine Sache eindeutiger Naturgesetze, erklärbar durch drei ineinandergreifende Disziplinen der Biologie: die Biochemie, die Genetik und die Evolutionsbiologie.
Die Verführungskraft dieser biologischen Erklärungen ist immens. Die seelenlosen Kräfte der Evolution treiben uns an. Endlich räumen wir das Chaos der Liebe auf, finden die versteckte Logik im ewig Irrationalen und entdecken objektive Gründe für unser seltsames Verhalten. Nicht nur die Forscher geraten ins Schwärmen. Eine ganze Armada von Wissenschaftsjournalisten wirft ihre gut verkäuflichen Bücher auf den Markt. Titelgeschichten für seriöse Magazine verraten den »Liebes-Code« oder die »Liebesformel«. »Gefesselt an sein evolutionäres Erbe, gesteuert vom Diktat der Gene und Hormone, irrt der Mensch in seinem Triebleben umher«, bilanziert der SPIEGEL 2005 in seiner Titelgeschichte vom »liebenden Affen«.
Längst ist das Thema »Liebe« keine blumige Angelegenheit des Feuilletons mehr, sondern knallharter Stoff für die Wissenschafts-Ressorts der Tages- und Wochenzeitungen. Sie übernehmen heute die Deutungshoheit auf naturwissenschaftlich früher eher abwegigem Gebiet. Als Grundlage täglich neuer Meldungen dienen ihnen die Evolutionsbiologie, die Hirn- und die Hormonforschung. Und mit allen drei Disziplinen Tausende naturwissenschaftlicher Studien. Ist der Code der Liebe damit geknackt?
Die Wissenschaft, die all dies zusammendenkt, nennt sich »evolutionäre Psychologie«. Sie möchte uns erklären, wie sich die vielen Facetten der menschlichen Natur und Kultur aus den Erfordernissen unserer evolutionären Geschichte entwickelt haben. Wenn Bestseller uns erzählen, warum Männer nicht zuhören können und Frauen nicht einparken, dann lesen wir darin die lustige Aufbereitung von Erkenntnissen der evolutionären Psychologie. Eine Stufe ernsthafter erzählen uns US-amerikanische, aber inzwischen auch deutsche Wissenschaftsjournalisten, warum wir Mammutjäger in der Metro sind und unter unserem Anzug ein Rentierfell steckt. Lust und Liebe, so die Idee, sind funktionale Chemie im Dienste der menschlichen Fortpflanzung. Und hinter allem verbirgt sich die dunkle Seite unserer Ohnmacht – das geheime Wirken der Gene.
Die Ankündigung ist faszinierend. Ist es nicht zu schön, für alles menschliche Verhalten eine plausible Erklärung oder doch zumindest einen passenden Rahmen zu finden? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Die einen wünschen sich einen Blick in die Rezeptur unserer Seele, für die anderen hingegen ist dies ein Gräuel! Denn wenn alles naturwissenschaftlich passend gemacht werden kann, wo bleiben da die Geistes- und Kulturwissenschaften? Dürfen wir die Philosophie, die Psychologie und die Soziologie der Liebe mit vier minus in die Ferien verabschieden, oder dürfen wir ihren Formenschatz doch zumindest einschmelzen zum neuen Gold der evolutionären Psychologie?
Geht es nach dem US-amerikanischen Liebes- und Paarforscher David Buss, dann ist die evolutionäre Psychologie die »Vollendung der wissenschaftlichen Revolution« und bildet »die Grundlage für die Psychologie des neuen Jahrtausends.«
Was immer wir als Fragen der menschlichen Kultur verstanden haben, Attraktion, Eifersucht, Sexualität, Leidenschaft, Bindung und so weiter, wäre nichts anderes als ein spezieller Fall unter vielen speziellen Fällen im Tierreich. Ob es um das Paarungsspiel von Elefantenrüsselfischen im Niger geht oder um die Brautwerbung in deutschen Großstädten – das Beschreibungs-Vokabular und die Erklärungsinstanzen wären die gleichen. Und wo Anthropologen überall ethnische Besonderheiten von Völkern und Kulturen sehen, entzaubert die evolutionäre Psychologie mit David Buss den »Mythos unendlicher kultureller Vielfalt« zugunsten einer globalen »Gleichheit von Sex und Liebesverhalten«.
Der Mann, der das Wort »evolutionäre Psychologie« erfand, ist heute ein vergleichsweise wenig bekannter Forscher an der California Academy of Sciences. Im Jahr 1973, als Michael T. Ghiselin den Begriff das erste Mal in einem Fachaufsatz für das Wissenschaftsmagazin Science verwendete, war er Professor an der University of California in Berkeley. Ghiselin war der festen Meinung, dass die Idee, die gesamte menschliche Psychologie mit den Mitteln und Methoden der Evolutionsbiologie zu durchleuchten, eine Idee Darwins war.